Lyra & Fenris - Moonbound Kapitel 6

Der Lockruf der Stille


Die Krypta schweigt.
Zu sehr.

Während Lyra oben versucht, Ordnung gegen die Angst zu setzen, folgt Fenris unten einem Lockruf aus Stein und Schatten.
Ein Grab mit zerrissenem Siegel.
Eine Stimme, die Mitleid fordert.
Und eine Wächterin, die mehr weiß, als sie sollte.

Manche Fallen flüstern.
Andere warten geduldig.

 

 


Lyra nimmt das Handy und wählt Fenris' Nummer. Sie hält das Gerät an ihr Ohr, die Hoffnung auf seine beruhigende, tiefe Stimme ist groß.

 

Doch die Verbindung bleibt tot. Es herrscht nur ein leises, leeres Rauschen. So tief in der Krypta hat Fenris keinen Empfang. Er ist von der Welt abgeschnitten, eingesperrt in der Dunkelheit mit seiner gefährlichen Suche.

Sie legt das Handy frustriert zur Seite. Die Information über Lorcan ist gesendet, aber die Warnung über die unheimlichen Händler und die Stimme an ihrem Ohr - die muss warten. Sie kann Fenris nicht ablenken, wenn er so isoliert ist.

 

Sie muss sich beschäftigen. Lyra braucht Struktur und Handlung, um das nagende Gefühl der Gefahr zu vertreiben.

Sie geht in den Hauswirtschaftsraum, sucht sich Putzzeug - Lappen, Bürsten, duftende, aber scharfe Reinigungsmittel. Sie beginnt mit dem Schlafzimmer. Der Raum ist der Kern ihres Ankers, und er muss perfekt sein.

Sie schrubbt und wischt. Der Boden und die Wände werden gereinigt, um sie auf die Ankunft des tiefschwarzen Samts vorzubereiten. Später am Abend will Lyra, dass Fenris den massiven Kleiderständer, den sie aus dem alten Friedhofstoren aufstellen wollen. Das symbolische Stück Eisen soll ihren Bund vor dem Bett bewachen.

 

Sie arbeitet mechanisch, die Bewegungen sind rhythmisch und erschöpfend. Mit jeder geschrubbten Fläche versucht sie, die Kälte der Stimme aus ihrem Ohr zu verdrängen. Sie schafft Ordnung, wo das Chaos lauert.

 

Lyra atmet den beißenden Geruch des Reinigungsmittels ein, als sie den Boden des Schlafzimmers schrubbt. Die körperliche Anstrengung ist eine willkommene Ablenkung; sie kanalisiert die Wut auf die geisterhafte Stimme und die unheimlichen Augen der Roseviler. Mit jeder polierten Diele versucht Lyra, das Haus zum perfekten Anker zu machen, bereit für den Kleiderständer aus Eisen, der wie ein finsterer Wächter vor dem Bett stehen soll. Sie ist eine Wächterin, eingesperrt im Licht, aber umgeben von der Finsternis, die sie mit dem Samt gerade selbst erschaffen will.

 

Die Finsternis, die ihn gerade umgibt, ist jedoch älter und tiefer.

Fenris steht vor dem unscheinbaren Sockel, auf dem das Datum und das zerrissene Siegel eingraviert sind: V. I. MCMIV (5. Januar 1904). Der fehlende Empfang zwingt ihn zur reinen Konzentration. Er muss diese Zahlen mit dem Ort verbinden.

 

Er beginnt, die Grabreihen methodisch abzugehen. Er sucht nicht nur nach Namen, sondern nach dem spezifischen Familiensymbol der Lorcans - dem vollen, geschlossenen Kreis, der das Siegel war, bevor der Pakt zerbrach.

Er kommt an einer Reihe alter Steinsärge vorbei und bleibt plötzlich stehen.

 

Versteckt in einer Nische, die von einem herabgestürzten Bogen halb verdeckt wird, findet er ein Grabmal, das jünger wirkt als der Rest und aus besonders dunklem Granit gefertigt ist. Der Sarkophag ist massiv und mit einem ineinander verschlungenen, fast heidnischen Muster verziert.

 

Auf der Vorderseite des Sarkophags ist der volle, geschlossene Kreis der Lorcans eingemeißelt - unversehrt. Der Graf Lorcan, dessen Pakt zerbrach, liegt nicht hier. Aber jemand aus seiner Linie.

Fenris umrundet das Grab mit der Taschenlampe. Auf der Rückseite findet er, was er sucht - nicht ein Geburtsdatum, sondern eine kryptische Grabnummer des unterirdischen Systems:

 

A5-1904

 

Fenris’ Augen verengen sich kaum merklich. A Fünf - Neunzehnhundertvier. Genau die Elemente, die auf dem Sockel standen. Der Sockel war kein Grab, sondern ein Navigationshinweis desjenigen, der ihn locken will - die Stimme. Das Grab mit dem zerbrochenen Siegel muss sich in Sektion A, der fünften Reihe, mit einem Bezug zum Jahr 1904 befinden.

 

Er schiebt die Schubkarre weiter und biegt in den Hauptkorridor ein. Er hat die Koordinaten. Die Jagd kann beginnen.

 

Fenris verschwindet im labyrinthartigen Hauptkorridor der Krypta. Er hat die Koordinaten - A5-1904 - und bewegt sich zielstrebig, seine Schritte hallen kaum auf dem feuchten Boden wider. Er ist ganz in die Suche nach dem Grab des Grafen Lorcan vertieft, dessen zerrissenes Siegel den Kern des Problems darstellt.

 

Oben in der Kathedrale wartet Elias.

Der junge Priester geht nervös in der Sakristei auf und ab. Er hat Fenris' Anwesenheit in seiner Kirche geduldet, aber die Sache macht ihn zutiefst unwohl. Er hasst die Dunkelheit und er hasst Fenris' Arroganz und seine unheilige Arbeit.

 

Die Zeit dehnt sich. Elias lauscht.

 

Gestern war Lärm gewesen: das Schaben von Steinen, das leise Krachen von Marmor, das Fenris beiseiteschob, das Quietschen der Schubkarre, wenn er Schutt entfernte. Es waren Geräusche, die bestätigten, dass etwas geschah.

 

Aber jetzt? Nichts.

 

Absolute Stille. Die Art von Stille, die nur in uralten Kirchen herrscht, wo der Lärm der Welt unter meterdicken Mauern erstickt. Elias wird misstrauisch. Er hört kein schepperndes Geröll, kein Zeichen dafür, dass Fenris Steine oder Schutt wegräumt. Ist er auf etwas gestoßen? Ist er in eine Falle getappt? Oder - schlimmer - hat er sich einfach davongeschlichen und ihn, Elias, allein mit dem Geheimnis zurückgelassen? Elias kann diese Stille nicht länger ertragen. Er beugt sich über das offene Steinloch und ruft gedämpft, fast ängstlich:

 

„Fenris? Sind Sie dort?“

 

Keine Antwort.

 

Seine Angst verwandelt sich in gereizte Entschlossenheit. Er beleuchtet das Loch mit einer kleinen, zitternden Laterne. „Ich werde Sie nicht suchen lassen“, murmelt er vor sich hin.

Elias ist entsetzt, muss aber handeln. Er beginnt vorsichtig, die schmalen, wackeligen Holzstufen in die Krypta hinabzusteigen, auf der Suche nach Fenris.

 

Er steigt mit der zitternden Laterne tiefer in die Krypta hinab. Die Kälte des Steins und der Geruch von nassem, uraltem Verfall umgeben ihn.

Die Stille dort unten ist anders als die Stille der Kathedrale; sie ist aggressiv. Sie saugt jeden Ton auf und lässt Elias' eigenen Atem viel zu laut erscheinen. Er geht panisch durch die dunklen Gänge, die Laterne wirft verzerrte, tanzende Schatten an die Wände, die die eingegrabenen Särge wie lauernde Ungeheuer aussehen lassen.

Er ruft immer wieder Fenris' Namen, aber nur leise. Er wagt es nicht, laut zu sein.

 

„Fenris? Sind Sie hier?“, flüstert Elias, seine Stimme ist belegt von Angst.

 

Er wiederholt mantraartig eine Warnung, die er als Priester ignorieren sollte, die er aber als Roseviler tief in sich trägt:

„Man sollte Tote nicht wecken. Niemals sollte man Tote wecken. Schon gar nicht in Rosevil.“

 

Er weiß, dass diese Stadt unter einem bösen Stern steht, dass die Toten hier nicht einfach nur Staub sind. Und Fenris' Arbeit droht, diese Ruhe zu stören. Elias taumelt um eine Ecke, die Laterne beleuchtet kurz eine Reihe von Nischengräbern, und er verliert fast den Halt.

 

„Fenris! antwortet mir!“, zischt er, und die Stille schluckt den Ruf sofort.

 

Fenris ist tief beschäftigt. Seine Konzentration ist ein stählerner Tunnelblick, der keine Ablenkung zulässt. Die schwachen, ängstlichen Rufe von Elias dringen nicht zu ihm durch; sie verfangen sich irgendwo im labyrinthartigen Netzwerk der Krypta. Für Fenris existiert nur die Jagd.

 

Er erreicht Sektion A. Die fünfte Reihe zu finden, ist einfach, da die Krypta, obwohl alt, ein gewisses Maß an Organisation aufweist. Er bewegt sich an den Gräbern vorbei, seine Taschenlampe wischt über die Grabplatten, die mit dem Datum 1904 in Verbindung stehen könnten.

 

Plötzlich stoppt er.

 

Dort ist es. Am Ende der fünften Reihe, in einer dunklen Nische, steht ein Grabmal, das in seiner Erscheinung schmerzhaft bekannt ist. Es ist kein einfacher Granitsarg wie die anderen. Es ist ein Mausoleum im Kleinformat, ein schwarzer Block aus poliertem Stein, der aussieht, als würde er das Licht nicht nur absorbieren, sondern aktiv ersticken.

Und darauf, in altertümlicher, erhabener Schrift, ist der Name eingraviert:

 

GRAF LORCAN

 

Fenris tritt näher. Die oberste Ecke des Steins ist deutlich zertrümmert, als hätte man versucht, die Inschrift mit roher Gewalt zu entfernen. Aber das Wichtigste ist das Symbol darunter.

Es ist nicht der volle Kreis. Es ist das zerrissene Siegel. Der Kreis, der den Pakt symbolisierte, ist mit einem tiefen, böswilligen Schnitt durchtrennt.

 

Dieses Grab ist der Anker der Stimme. Es ist der Ort, an dem der Pakt zerbrochen wurde.

 

Fenris legt die Hand auf den kalten, harten Stein. Jetzt muss er wissen, was der Graf innerhalb dieser Gruft verborgen hält. Das Grab ist der Schlüssel, und es ist massiv. Er braucht Werkzeug und Zeit. 

 

Elias ist am Ende seiner Kräfte. Die feuchte Kälte und die erdrückende Stille der Krypta sind zu viel für seine Nerven. Die unheimlichen Schatten, die die Laterne wirft, und die Tatsache, dass Fenris nicht antwortet, sind Beweis genug.

Er denkt nicht mehr rational. Ihm ist etwas zugestoßen - ein herabgestürzter Stein, eine Falle der Toten - oder er hat sich in den verwinkelten Gängen verlaufen. In jedem Fall braucht Elias dringend Hilfe, bevor er selbst hier unten stirbt oder die Katastrophe Fenris’ Arbeit beendet.

 

„Das ist es nicht wert“, haucht Elias, die Entscheidung zur Flucht ist schlagartig gefallen. „Ich muss Hilfe holen!“

 

Er kehrt panisch um. Die Laterne schwingt wild, als er rückwärts durch die Gänge stolpert. Er ignoriert die Gräber, die beklemmende Enge, er konzentriert sich nur auf das schmale Rechteck des Lichts, das vom Loch in der Sakristei kommt. Er presst sich an den kalten Steinen vorbei und ignoriert das Schaben seines Gewandes an den Mauern.

Mit letzter Kraft erreicht er die Holzstufen, stolpert sie hastig hinauf und reißt sich förmlich aus dem Erdreich heraus. Er steht keuchend in der Sakristei, die Schweißperlen auf seiner Stirn glänzen im schwachen Licht der Kathedrale.

Er lässt die Holzstufen, die in die Tiefe führen, offen und unbewacht. Fenris ist unten isoliert, und Elias ist auf dem Weg, Hilfe zu holen.

 

Fenris stellt die Schubkarre neben dem massiven Grab des Grafen Lorcan ab. Das zerrissene Siegel starrt ihn an, ein Versprechen auf die Dunkelheit, die er bekämpft. Er hebt das schweren Brecheisen, um die Arbeit am Steinsarg zu beginnen.

 

Gerade als er ansetzen will, spürt er etwas: einen Windzug.

 

Es ist keine natürliche Brise in dieser tiefen, verschlossenen Krypta. Es ist ein kalter Hauch, so plötzlich und intensiv, als würde jemand dicht an ihm vorbeiziehen. Fenris’ Reflexe sind sofort aktiviert.

Er lässt das Brecheisen fallen - das Krachen hallt nur kurz, bevor die Krypta das Geräusch wieder verschluckt. Er sucht mit der Taschenlampe hektisch die Umgebung ab. Die engen Nischen, die Säulen, die Schatten - alles ist leer. Er sieht nichts. Sein stählerner Fokus beginnt zu wackeln. Ist es die Stimme, die ihre physische Form annimmt?

 

Gerade als er sich wieder entschlossen zu dem Grab wendet, dringt die Stimme wieder zu ihm durch. Sie ist jetzt näher, sanfter und verlockender als zuvor, doch die Kälte ist dieselbe.

 

„Fenris… erlöse mich.“

 

Der Lockruf ist nicht feindselig, sondern verzweifelt, weiblich und leidend.

 

„Ich brauche dich. Hol mich hier raus.“

 

Die Worte schlagen Fenris nicht ins Ohr, sondern direkt in seinen Kopf, umgehen die physischen Sinne. Es ist ein direkter Angriff auf seine Empathie und seinen Beschützerinstinkt. Die Stimme klingt echt, nach reiner Qual, und sie weiß genau, wie sie ihn erreichen muss.

Fenris ignoriert seinen Verstand. Der Angriff auf seine Psyche ist zu präzise. Der Lockruf der Stimme trifft ihn an einer tiefen Stelle, die Lyras Nähe heute Morgen zwar beruhigt, aber nicht ausgelöscht hat: sein Wunsch, das Leid zu beenden.

 

Die Stimme ist nun leiser, zieht sich zurück, wird zu einem fast unhörbaren, gequälten Echo, aber sie bricht nicht ab.

 

„Hilf mir…“

 

Fenris hebt die Taschenlampe und folgt dem geisterhaften Echo. Er bewegt sich weg vom Grab des Grafen, weg von seinem Ziel. Die Stimme führt ihn tiefer in die ältesten, feuchtesten Teile der Krypta - dorthin, wo die Gänge noch enger und unübersichtlicher werden.

Er ignoriert das nagende Gefühl, dass er gelockt wird. Er geht nicht, um zu jagen, sondern um zu helfen, um die Quelle dieses hörbaren Schmerzes zu finden.

Die Stimme ist nun nur noch ein Hauch, ein Schimmer im Rauschen der Stille.

 

„Ich brauche dich… Fenris…“

 

Sie führt ihn in eine Sektion der Krypta, die völlig im Dunkeln liegt, ohne jede Inschrift oder Kennzeichnung. Die Steine hier sind glitschig, und das Gefühl der Kälte ist erdrückend. Er ist jetzt weit von Elias und dem Eingang entfernt, isoliert und im tiefsten Inneren des Labyrinths.

Der Weg endet vor einer massiven, dunklen Steinmauer. Sie ist älter als alles andere hier und hat keine sichtbaren Fugen oder Ritzen.

 

Gerade als er die Taschenlampe über die Wand führt, verstummt die Stimme. Plötzlich. Absolut.

Fenris steht allein da. Vor einer Wand. Er steht vor der undurchdringlichen Steinmauer. Die Stille, die auf das ergreifende Flehen der Stimme folgt, ist beängstigend und absolut.

 

Er realisiert es sofort. Die Qual war unecht. Die Sanftheit war Täuschung. Er ist in eine Falle gegangen. Die Stimme spielt mit ihm, lockt ihn weg von der unmittelbaren Gefahr - dem Grab des Grafen Lorcan - und isoliert ihn im tiefsten, unkartografierten Teil der Krypta.

 

Fenris verflucht seine eigene Schwäche, seinen unsterblichen, romantischen Impuls, Leid beenden zu wollen. Er ist einem reinen Lockruf gefolgt. Er dreht sich um, die Taschenlampe wischt über die feuchten, glitschigen Gänge, die jetzt alle identisch und feindselig aussehen. Er hat kostbare Zeit verloren und sich in eine gefährliche Lage gebracht. Seine Gedanken schießen zurück zu Lyra. Sie war sein Anker, sein Grund für die Pünktlichkeit. Die Stimme weiß das und versucht, ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen.

 

Fenris beginnt, den Rückweg zu suchen, aber ohne Elias’ Laterne oder seine eigenen Markierungen weiß er nicht, welche der identischen Korridore er zuerst nehmen soll. Er ist jetzt nur noch von der Kälte und der Stille umgeben.

Die kalte Erkenntnis beißt in Fenris’ Nacken, schärfer als jeder Frost: Er ist getäuscht worden. Die Stimme, dieser fleischlose Sirenengesang, hat ihn von seiner Mission abgelenkt. Seine Wut auf seine eigene Empfindsamkeit ist ein brennender Kern in seiner Brust, aber er muss sie jetzt in kühle Logik verwandeln.

 

Er beginnt, den Rückweg zu suchen. Der Atem, der seinen Lippen entweicht, ist ein rauer Nebel in der ewigen Kälte. Die Gänge hier sind ein Labyrinth des Vergessens. Aber Fenris ist nicht nur ein Gelehrter, er ist ein Jäger. Er beginnt, die Umgebung zu lesen, nicht nur zu sehen. Er sucht nach Anomalien.

Er bemerkt, dass einige Steine glitschiger sind als andere - das ist der Weg, den er genommen hat, da seine Stiefel die oberste Schicht des Staubs gestört haben. Ein paar Schritte weiter sieht er, dass das Moos an einer Ecke des Steins zerdrückt ist, dort, wo er in seiner Eile gestreift haben muss.

 

Fenris bewegt sich nun methodisch, ein dunkler, entschlossener Geist im Reich der Toten. Der Fokus auf Lyra kehrt zurück, stark und rettend. Sie ist dort oben, wartet, schafft ihren Anker. Er muss zu seiner Arbeit zurück.

Doch auf seinem Weg macht er seltsame Entdeckungen, die ihn daran erinnern, dass die Falle größer ist als nur die Stimme. In einer Nische findet er keinen Sarg, sondern eine Reihe blutleerer, konservierter Rosen, deren Samtblätter nicht verfallen sind, sondern in einem makabren Zustand der Ewigkeit verharren. Sie sehen aus, als wären sie gestern gepflückt worden, doch der Staub auf ihren Stielen erzählt von Jahrhunderten.

 

In einem anderen Gang bemerkt er ein altes, zerbrochenes Kettchen aus massivem Silber - das Siegel ist eine verzerrte Version des Lorcan-Wappens, aber der Silberreif ist mit einer Inschrift in einer Sprache versehen, die er erkennt, aber die nicht zu den Krypten gehört. Es ist ein Liebesschwur, alt und feurig, dessen dunkle Versprechen immer noch im Metall zu liegen scheinen.

Immer mehr deutet darauf hin, dass mit dieser Stadt und dieser Krypta etwas fundamental nicht stimmt. Die Toten sind nicht einfach nur verschwunden. Sie sind Anker, ihre Leidenschaften und Pakte sind im Stein selbst eingeschrieben. Die Roseviler verkaufen Lyra nicht nur Samt; sie wissen, was in ihren Mauern gefangen ist.

 

Fenris weiß jetzt: Das Spiel der Stimme ist persönlich. Es geht nicht nur um den Pakt; es geht um Besitz.

 

Er findet endlich den Gang, den er verlassen hat. Dort, in der Ferne, sieht er das schwarze, monolithische Grab des Grafen Lorcan und das Brecheisen, das er zuvor fallen gelassen hat. Sein echtes Ziel.

Er eilt dorthin. Er muss das Geheimnis des Siegels brechen, bevor die Stimme einen neuen Lockruf findet.

 

Fenris packt das schweren Brecheisen und wendet sich dem massiven, schwarzen Sarkophag des Grafen Lorcan zu. Er muss diese Gruft aufbrechen, das Geheimnis des zerbrochenen Siegels herausreißen und das Spiel der Stimme beenden. Die kalte Eiche und die makabren Liebesversprechen in den Gängen haben ihm gezeigt, dass diese Krypta ein aktiver Friedhof der Leidenschaft ist.

 

Gerade als er das Brecheisen an den ersten Stein ansetzen will, dringt ein Laut zu ihm durch. Stimmen. Zwei Stimmen. Die eine ist gedämpft und ängstlich - Elias. Die andere ist schärfer, mit einem vibrierenden Unterton von Autorität und dem Wissen um die tiefsten Geheimnisse Rosevils - eine Frauenstimme, die Fenris seltsam bekannt vorkommt, obwohl er sie im Kontext dieser feuchten Dunkelheit nicht zuordnen kann. Sie sind auf dem Weg hierher.

Fenris reagiert instinktiv. Er kann sich jetzt nicht mit Elias oder seiner neuen Begleiterin auseinandersetzen. Er muss so tun, als würde er arbeiten.

 

Er nimmt die Schubkarre und eilt von dem Lorcan-Grab weg, dreht um eine Ecke, wo einiges an altem, losem Schutt und Steinen liegt. Er befördert die schweren, kantigen Brocken lautstark und mit übertriebener Anstrengung in die Schubkarre. Das Geräusch ist krachend, ein absichtliches, unüberhörbares Zeichen seiner Anwesenheit.

 

„Das hört sich nach Arbeit an“, sagt die Frauenstimme trocken. Sie ist näher, und Fenris spürt, wie die Kälte zunimmt.

 

Ein flackernder Lichtkegel tanzt um die Ecke, gefolgt von dem unruhigen Schein seiner eigenen Taschenlampe, und Schatten werden im Augenblick lang und verzerrt.

Fenris richtet sich auf und blickt über den Rand der Schubkarre.

Er erkennt die beiden: Elias, blass und zitternd, mit einer Laterne in der Hand, die die Krypta in warmes, aber unwirksames Licht taucht. Und neben ihm steht sie.

 

Es ist die Frau vom Hafen - die Verkäuferin aus dem Laden, wo Lyra und er das massive, dunkle Bett gekauft haben. Dieselbe Frau, deren Augen seine Dunkelheit nicht verurteilten, sondern kannten.

 

Sie blickt ihn an, ihr Blick ist tief und alt. Sie ist keine Hilfskraft, sie ist eine Wächterin.

 

„Graf Lorcan wartet noch, Fenris“, sagt sie, ihre Stimme ist eine Mischung aus Spott und Warnung. „Aber wir haben Zeit. Rosevil hat immer Zeit.“

 

Fenris richtet sich vollständig auf, seine Statur füllt den engen Gang aus. Er wirft der Frau vom Hafen einen eisigen, ermahnenden Blick zu, einen Blick, der verspricht, dass er jede Einmischung mit unbarmherziger Härte beantworten wird.

 

Er denkt sich seinen Teil jetzt. Die unheimliche Übereinstimmung der Händler. Die wissenden Augen. Die Tatsache, dass diese Frau ausgerechnet jetzt mit dem panischen Elias hier unten auftaucht.

 

Die Frau vom Hafen und die Stimme.

 

Er beginnt, die Fäden zu verknüpfen. Die Frau ist keine Unbeteiligte. Sie ist entweder die Quelle der Stimme oder sie dient ihr. Sie überwachen ihn, wissen um seine Arbeit, um Lyras Ankunft, um das Bett, das der Grundstein ihres Ankers ist. Sie sind die lebendigen Facetten des Fluches dieser Stadt.

 

Als könnte die Frau seine Schlussfolgerung lesen, vertieft sich ihr Lächeln. Es ist kein Lächeln der Freude, sondern ein höhnisches, uraltes Kräuseln der Lippen. Es bestätigt Fenris’ schlimmste Befürchtungen.

 

Er weiß jetzt: Er und Lyra müssen extrem vorsichtig sein. Rosevil ist kein Zufluchtsort; es ist ein Schachbrett, und jemand spielt ein ganz böses Spiel mit ihnen. Es geht nicht nur darum, Lorcans Pakt zu brechen, sondern darum, ihre Verbindung, ihren Anker, zu zerreißen. Sie sind die Bauern, und die dunklen Mächte dieser Stadt, verkörpert durch diese Wächterin, sind die Königinnen.

 

„Wie schön, dass der Priester Sie gefunden hat, Fenris“, sagt die Frau, ihre Stimme ist wie dunkler Honig. „Wir wussten, dass Sie Hilfe brauchen würden, nachdem Sie den Ruf der Verzweiflung gehört haben.“

 

Elias sieht Fenris mit großen, ängstlichen Augen an. „Ich dachte, Sie wären verschwunden! Ich dachte, ich müsste Hilfe holen!“

 

Fenris ignoriert Elias und hält den Blick der Frau. Er ist nicht wehrlos. Er ist der Jäger, auch wenn er zur Beute gemacht wird.

Fenris lässt die Schubkarre mit dem Geröll demonstrativ stehen. Er nimmt eine majestätische Haltung ein, seine Augen, die eben noch von der Wut über die Falle gebrannt hatten, werden nun kalt und finster wie das tiefste Kryptengestein. Die Dominanz kehrt mit brutaler Geschwindigkeit zurück. Er lässt die Wächterin und den Priester seine ungeschminkte Härte spüren.

 

„Man spielt kein Spiel mit mir“, sagt Fenris, seine Stimme ist tief und unerschütterlich, ohne jeden Anflug von Fragezeichen. Es ist eine absolute Erklärung, ein Versprechen auf Vergeltung. „Wer versucht, meine Zeit zu verschwenden oder meine Arbeit zu stören, wird das bitter bereuen. Dies ist meine Jagd. Nicht eure.“ Er fixiert die Frau mit einem Blick, der jedes unheilige Geheimnis, das sie hütet, zu entblößen scheint.

 

Die Wächterin lacht leise auf, aber das Geräusch ist nicht amüsiert, sondern ein Echo, das von ihrer uralten Gelassenheit zeugt. Sie nickt langsam, als würde sie die Herausforderung akzeptieren und Fenris’ Stärke respektieren. Sie sagt nichts, ihre Augen sind aber eine stille Bestätigung: Wir wissen, wer du bist, und wir nehmen deinen Kampf an.

 

Elias, der unter der Wucht von Fenris’ Präsenz fast zusammenzubrechen droht, meldet sich noch einmal, heiser und flehend.

 

„Fenris, ich... es ist spät. Und ich denke, es ist heute genug. Ich bitte Sie. Machen Sie für heute Schluss. Es ist zu gefährlich hier unten. Ich werde Ihnen trotzdem die volle Bezahlung geben.“ Elias will ihn nicht in der Krypta wissen. Er will die Ruhe zurück.

 

Fenris hält den Blick der Wächterin noch einen Augenblick lang. Er hat seine Autorität wiederhergestellt. Er hat die Nachricht verstanden: Sie sind nicht allein.

Er entscheidet schnell. Ein Tag Verzögerung ist akzeptabel, wenn es bedeutet, die Wächterin und Elias loszuwerden und seine Dominanz zu festigen. Er wird die Nacht nutzen, um die Verteidigung des Hauses mit Lyra zu stärken und seine nächsten Schritte zu planen.

 

Er greift nach den Griffen der Schubkarre und schiebt sie entschlossen in Richtung des Ausgangs. Das Quietschen der Räder ist laut in der Krypta - eine mechanische Bejahung von Elias’ Angebot, aber eine stille Drohung an die Wächterin.

 

Elias und die Frau folgen ihm.

 

Niemand spricht ein Wort. Die Stille ist gefüllt mit ungesagten Drohungen und der tiefen, feuchten Kälte der Krypta. Fenris spürt das Gewicht ihrer Blicke im Rücken. Er hat ein merkwürdiges, kaltes Gefühl, das nichts mit der Umgebung zu tun hat. Es ist die Angst um seinen Anker.

Er hofft, dass es Lyra gut geht, dass diese unheimlichen Augen und Stimmen ihren Weg nicht zu ihr gefunden haben. Sein Verlangen nach ihrer Nähe, nach der Gewissheit ihrer Gegenwart, ist jetzt, wo er weiß, dass sie in Gefahr ist, ein brennender Schmerz.

 

Sie verlassen die kalte, dunkle Krypta. Fenris steigt in das matte Licht der Sakristei. Elias, sichtbar erleichtert, ein so großes Risiko abgewendet zu haben, zählt Fenris seinen Tageslohn aus, legt sogar etwas mehr dazu - Schmiergeld für seine Ruhe.

 

Fenris nimmt die Münzen schweigend entgegen. Er nickt weder Elias noch der unheimlichen Frau zu. Er dreht sich um und verlässt die Kirche ebenso schweigend, ein dunkler Schatten, der das Licht hasst. Er geht über den Friedhof, die Kälte der Steine und die drohenden Schatten der Bäume umgeben ihn.

 

Als er fast an seinem Käfer angekommen ist, vibriert sein Handy in seiner Hosentasche. Die Isolation der Krypta ist gebrochen. Lyras Nachricht kommt endlich durch. Fenris zieht das Smartphone heraus. Seine Finger sind von der Kälte der Tiefe taub, aber er wischt den Bildschirm frei.

Er liest ihre Worte. "Lorcan. Das ist der Name des Grafen. Und es geht um das Siegel. Ich liebe dich."

 

Fenris' Blick bleibt an den letzten drei Worten haften: „Ich liebe dich.“

 

Die Kälte der Krypta weicht für einen Augenblick der Wärme, die von Lyras entschlossener Seele ausgeht. Er liest die Zeilen noch einmal, die einfache, direkte Wahrheit, die sie ihm sendet, während er in den Abgründen der Toten forscht.

 

Ein Mundwinkel von Fenris zuckt, dann zieht er sich zu einem seltenen, dunklen Lächeln hoch. Ja. Er liebt sie auch. So wie er vor ihr noch nie geliebt hat. Es ist nicht die sanfte, naive Zuneigung der Lebenden, sondern eine absolute, besitzergreifende Wahrheit, eine Verbindung, die ihm Stärke gibt, wo andere sich verlieren würden. Sie ist sein Anker.

Dieser Gedanke schlägt ihm plötzlich mit der Härte einer Erkenntnis ins Gewissen: Er sollte es ihr vielleicht auch mal sagen. Nicht immer nur nehmen, nicht immer nur ihre Stärke und ihr Vertrauen beanspruchen. Er muss ihr die gleiche unheilige Gewissheit schenken, die sie ihm schenkt.

 

Doch jetzt ist die Zeit knapp. Er hat die Information über Lorcan, und er weiß, dass das Haus mit den neuen Vorhängen und Hölzern gesichert werden muss.

Er öffnet die Tür seines Käfers. Er muss zu ihr. Jetzt.