Lyra & Fenris - Moonbound Kapitel 11
Die Chronik des Grafen
Im verborgenen Archiv von Rosevil trotzt Lyra einer ersten Warnung der Wächterin und stößt auf die Chronik des Grafen. Die Wahrheit ist erschütternd: Fenris ist an ein uraltes Erbe aus Lust, Macht und Ewigkeit gebunden. Als ein geheimnisvoller Mann namens Samuel erscheint, wird klar, dass der Fluch tiefer reicht als gedacht - und dass die einzige Chance auf Erlösung näher liegt, als Lyra ahnt.
Lyra steht unbeweglich in der Mitte des dunklen Gewölbes, während der unnatürlich kalte Windzug ein letztes Mal über sie hinwegstreicht. Es ist eine klare, kaltblütige Warnung. Doch Lyra spürt eine sofortige, trotzige Erleichterung:
Die Hexe ist machtlos hier. Die Wächterin kann ihre Essenz senden, kann drohen und kühlen, aber sie kann nicht die physische Realität dieses versiegelten, sterblichen Archivs kontrollieren. Das Wissen ist Lyras Territorium.
Der eisige Hauch verschwindet so plötzlich, wie er gekommen ist. Die Luft ist wieder nur muffig und kalt. Lyra weiß, die Bedrohung ist vorerst gewichen.
Sie atmet tief durch, schiebt die Angst beiseite und konzentriert sich auf die Aufgabe. Sie ist nicht hier, um Angst zu haben; sie ist hier, um ihren Mann zu retten.
Lyra zieht aus der Tasche des Gehrocks weiße Baumwollhandschuhe hervor - ein praktisches Utensil aus ihrem früheren, geordneten Leben, das jetzt ironisch in ihrer Jagd nach Flüchen dient. Sie streift sie über ihre Hände; es ist ein symbolischer Akt, um die historische, magische Ladung der Dokumente nicht zu verunreinigen.
Der Gang, in dem sie steht, ist ein Labyrinth aus Rost und verfallenen Geschichten. Die Eisenregale sind überfüllt mit Folianten, deren Rücken kaum noch lesbar sind. Die Titel sind in verblasster, altmodischer Schrift gehalten: Grundbuchauszüge, Steuerrollen, Geburts- und Sterberegister aus Jahrhunderten.
Lyra geht systematisch vor, ihr Blick scannt die Etiketten, die sie entziffern kann. Sie sucht nach dem Signum der Dunkelheit, nach Hinweisen auf Adel, Ländereien, seltsame Vorfälle im späten 18. oder frühen 19. Jahrhundert - der Zeitraum, den Fenris lose als Ursprung seiner Bindung erwähnt hatte.
Ihre Finger gleiten über die rauen, staubigen Kanten der Bände. Jedes Dokument ist ein Echo einer verlorenen Seele. Der Geruch von alter Tinte und Moder dringt durch ihre Handschuhe.
Endlich, tief im Regal, in einem Bereich, der offensichtlich seit Jahrzehnten nicht mehr berührt wurde, findet Lyra ein dunkles, dickes Buch, das nur mit einem verrosteten Eisenring gehalten wird. Der Titel ist kaum zu erkennen, aber Lyra entziffert mit Mühe:
Chronik des Anwesens - Rosevil Nordland (Circa 1785–1830).
Das ist es. Die Ära des Grafen.
Lyra zieht den Folianten vorsichtig hervor. Er ist schwer, fast unhandlich, das Leder ist brüchig. Sie spürt, wie die Seiten unter dem Druck ihrer Finger knistern, als würden die schlafenden Geheimnisse des Grafen erwachen.
Sie trägt den Band zu einem kleinen, verstaubten Arbeitstisch, der mitten im Gang steht. Dies ist der Wendepunkt; der Moment, in dem Lyra nicht länger nur die Geliebte ist, sondern die Ermittlerin der Dunkelheit.
Lyra legt den schweren, staubbedeckten Folianten auf den Tisch. Das schwache Glühen der Lampe beleuchtet nur einen kleinen Kreis auf dem Tisch, aber das ist genug. Mit atemloser Konzentration schlägt sie das Buch auf.
Die Seiten sind aus dickem, vergilbtem Pergament, die Tinte ist tiefschwarz und in einer eleganten, altertümlichen Handschrift verfasst, die anfangs schwer zu entziffern ist. Lyra muss sich durch die ersten Einträge kämpfen, die sich hauptsächlich mit banaleren Dingen wie Pachtzahlungen und Grenzstreitigkeiten befassen.
Doch dann ändert sich der Ton. Etwa um das Jahr 1795 beginnt der Schreiber, der offenbar der Verwalter des Grafen war, eine düstere Faszination für das Anwesen zu entwickeln.
Lyra liest:
„Der Graf verbrachte die meisten seiner Stunden in der Einsamkeit des Anwesens. Er duldete kaum Besucher, und sein Blick war oft auf die dunkle Senke gerichtet, wo der Brunnen steht. Er spricht von Ewigkeit und davon, dass die Welt der Sterblichen ihn langweilt.“
Lyra atmet scharf ein. Ewigkeit. Das war das Wort der Wächterin.
Sie blättert weiter. Die Chronik wird persönlicher, besessener. Der Schreiber beschreibt, wie das Anwesen unter der Ägide des Grafen wächst, sich aber gleichzeitig von der Stadt abschottet. Die Architektur wird unnatürlich, verwinkelt.
„Er baute nicht für das Licht, sondern für den Schatten. Und er sprach von einer Bindung, die seine Seele für immer an diesen Ort knüpfen würde. Er nannte es sein Erbe, obwohl er keine Kinder hatte.“
Die Eintragungen werden unregelmäßig, fast fieberhaft. Es geht um seltsame Experimente im Keller, um kalte Winde, die selbst im Sommer wehen, und um eine zunehmende Dunkelheit, die das gesamte Gut umgibt. Lyra liest heraus, dass der Graf nicht einfach nur ein exzentrischer Adliger war; er hat aktiv mit Mächten manipuliert, die jenseits des Verständnisses lagen.
Der letzte relevante Eintrag, bevor die Chronik in einer Reihe von unleserlichen Kritzeleien endet, beschreibt die Übertragung des Besitzes auf die Stadt, nachdem der Graf spurlos verschwunden war.
„Er ist nicht gestorben. Er ist übergegangen. Und er hat sein Bett im Haus gelassen, als Zeichen für den nächsten, der seine Bürde auf sich nehmen muss. Ein schreckliches, ewiges Erbe.“
Lyra schließt den Folianten mit einem leisen Knall. Ihre Handschuhe sind staubig, ihre Augen brennen.
Sie erinnert sich an die Begegnung mit der falschen Antiquitätenhändlerin - der Wächterin - als sie das Bett kauften. Die alte Frau hatte mit einem unheimlichen Grinsen von der unstillbaren Lust des Grafen gesprochen, die er in diesem Bett ausgelebt hatte. Diese Lust, so hatte die Wächterin geflüstert, sei der wahre Motor seiner dunklen Geschäfte gewesen.
Nun fügen sich die Teile zusammen: Der Graf war von seiner eigenen leidenschaftlichen Gier getrieben, die über das Sterbliche hinausging. Er suchte Ewigkeit für seine dunklen Begierden. Dieses Bett ist der physische Anker dieser ungesühnten Lust und des Paktes. Fenris, dessen eigene, intensive Leidenschaft kaum beherrschbar war, ist direkt in die Fußstapfen des Grafen getreten.
Lyra hat heute nichts Relevantes über Flüche oder Heilmittel direkt gefunden. Aber sie hat die Verbindung bestätigt: Fenris ist der Erbe des Grafen. Sein Schicksal ist durch die geerbte, überbordende Lust und das Anwesen an diese dunkle Kette gebunden. Er hat die Bürde des Grafen übernommen, inklusive der Konfrontation mit der Wächterin.
Die Erlösung liegt in der Auflösung dieses Erbes.
Die Erkenntnis der vererbten Lust und der ewigen Falle hallt schmerzhaft in ihrem Kopf wider. Der Duft von altem Pergament und der schützende Geruch von Fenris’ Gehrock sind die einzigen Konstanten in diesem Moment.
Sie ist so tief in die dunklen Geheimnisse vertieft, dass sie den Hauch einer Veränderung in der Atmosphäre nicht sofort bemerkt.
Erst als ein leises Knistern des Bodens aus dem Gang ertönt, der nicht das Echo der Archivarin ist, zuckt Lyra zusammen. Sie wirft den Kopf hoch.
Ein Mann tritt aus den Schatten des Regalganges.
Lyra erstarrt. Sie hatte sich so sicher gefühlt, allein in den Tiefen des Archivs. Ihre Hand krampft sich reflexartig um den schweren Buchrücken.
Der Mann ist Mitte dreißig, hat warme, braune Augen und braunes, leicht gewelltes Haar, das über seine Stirn fällt. Seine Erscheinung ist nicht die eines gewöhnlichen Stadtbewoners. Er ist ebenfalls im gotischen Stil gekleidet, trägt einen langen, dunklen Mantel, der jedoch eleganter und weniger kämpferisch wirkt als Fenris’ Gehrock. Er strahlt eine sanfte, kultivierte Melancholie aus.
Sein Blick ist ruhig und direkt, als er Lyra inmitten der staubigen Akten sieht. Er lächelt vorsichtig, aber sein Lächeln wirkt aufrichtig freundlich und entschuldigend, nicht bedrohlich wie die falsche Güte der Wächterin.
„Entschuldigung“, sagt der Mann, seine Stimme ist tief und angenehm, ein sanfter Kontrast zur harten Stille des Gewölbes. „Ich wollte Sie nicht erschrecken. Ich habe nicht erwartet, dass um diese Zeit jemand in dieser Sektion arbeitet. Ich bin Samuel. Und Sie sind Lyra, nicht wahr?“
Lyras Herz schlägt einen panischen Rhythmus. Woher kennt er ihren Namen? Er wirkt freundlich, aber in Rosevil bedeutet Freundlichkeit oft die gefährlichste Täuschung.
Sie hält den Folianten fest, Fenris’ Gehrock fühlt sich plötzlich wie eine Herausforderung an, die sie trägt.
Lyra ignoriert den leichten Schwindel, den der Schrecken in ihr auslöst. Sie zieht Fenris’ Gehrock instinktiv enger um sich, eine Geste des Schutzes und der Besitzanzeige. Ihre Augen, dunkel und entschlossen geschminkt, fixieren den Mann.
Seine braunen Augen sind offen, aber sie wirken alt und wissen mehr, als ein Fremder wissen sollte.
„Ich bin Lyra“, bestätigt sie kühl, ohne zu lächeln, und ihre Stimme ist fest, obwohl ihr Inneres bebt. Der Kontrast zwischen ihrem eleganten, fast verführerischen Auftreten und der düsteren Entschlossenheit in ihrer Haltung ist auffällig. „Aber ich habe Sie nie zuvor gesehen. Woher kennen Sie meinen Namen, Samuel?“
Ihre Frage ist keine Bitte, sondern eine Forderung.
Samuel lässt sich nicht beirren. Sein freundliches Lächeln vertieft sich, doch es erreicht nicht ganz die Tiefe seiner Augen. Er macht eine leichte, ehrerbietige Verbeugung, die in diesem schmutzigen Archiv völlig unpassend wirkt.
„Verzeihen Sie meine Unhöflichkeit. Ich weiß mehr über die neuen Bewohner von Rosevil, als die meisten ahnen“, antwortet er ruhig. Er tritt einen Schritt näher, und seine Augen fallen auf den offenen Folianten auf dem Tisch. „Und jeder, der sich so tief in das Archiv wagt, um die Chronik des Grafen zu studieren - und das in Begleitung eines solch bemerkenswerten Gehrocks - ist kaum ein Unbekannter in dieser Stadt.“
Er nickt leicht in Richtung des schwarzen, schweren Stoffes, der Lyra umhüllt. Es ist eine subtile Anspielung auf Fenris, die Lyras Alarmglocken schrillen lässt. Es ist, als würde Samuel die leidenschaftliche, schmerzhafte Geschichte zwischen ihr und dem gefangenen Jäger sehen können.
„Dieses Stück kleidet eine Frau selten so gut“, fügt er mit einem Hauch von Bewunderung hinzu, die fast an Intimität grenzt, aber in einem respektvollen Rahmen bleibt. „Es gehört doch dem… dem Jäger, nicht wahr?“
Lyra erstarrt völlig. Der Begriff Jäger ist ein direkter Hinweis auf Fenris’ neues, verfluchtes Schicksal. Samuel ist nicht nur ein zufälliger Besucher. Er ist Teil des Netzwerks der Dunkelheit, das Rosevil beherbergt. Entweder ist er ein Feind, oder er ist ein gefährlicher Verbündeter.
Lyra ignoriert Samuels Anspielung auf den „Jäger“ und den Gehrock, aber die Worte haben ihre nackte, schmerzhafte Wahrheit direkt getroffen. Ihre Haltung wird eisig und abweisend. Sie verschränkt die Arme vor der Brust, der schwere Stoff des Gehrocks betont ihre Verteidigungshaltung.
„Sie weichen aus“, stellt Lyra fest, ihre Stimme ist scharf und voll unterschwelliger Drohung. „Ich frage Sie, woher Sie meinen Namen kennen, und Sie erzählen mir etwas über alte Kleidung. Antworten Sie mir, oder ich werde die Archivarin rufen.“
Samuel hebt die Hände in einer Geste der Unschuld. Er wirkt unbeirrt von Lyras feindseliger Haltung, was sie nur noch misstrauischer macht. Seine braunen Augen strahlen weiterhin eine sanfte Freundlichkeit aus, die in diesem kalten Gewölbe völlig unpassend erscheint.
„Das wäre sehr bedauerlich, Lyra“, sagt Samuel ruhig. Er geht langsam, fast fließend, um den Arbeitstisch herum und hält dabei einen respektvollen Abstand zu ihr und dem Folianten. „Die alte Dame ist nicht sehr gesprächig, besonders wenn es um die alten Geschichten geht, die unter der Erde schlummern. Ich vermute, Sie sind hier, um Antworten auf Fragen zu finden, die sich um die Ursache dieser Geschichten drehen.“
Er legt den Kopf leicht schief, seine ganze Erscheinung strahlt eine ruhige, beobachtende Intelligenz aus.
„Ich sehe, Sie haben die Chronik des Grafen gefunden. Eine faszinierende Lektüre, nicht wahr? Besonders die Teile, die sich mit ungezügelter Leidenschaft und dem Preis der Ewigkeit befassen. Viele Bewohner Rosevils beobachten, wer neu in die Stadt kommt, und wer mit den… besonderen Gegebenheiten in Kontakt gerät. Wir sorgen uns um die Neuen.“
Lyra verengt die Augen. Wir. Er spricht von einer Gruppe. Ihr instinktiver Verdacht schießt in die Höhe: Die Wächterin. Die magische Kälte von vorhin und nun dieser Mann, der genau weiß, wonach sie sucht und welche Kleidung sie trägt.
„Sorgen Sie sich im Auftrag der… Wächterin?“, fragt Lyra geradeheraus, indem sie den einzigen Namen nennt, den sie kennt. Ihre Stimme ist ein scharfes, feindseliges Flüstern.
Samuel lächelt kaum merklich, ein Ausdruck, der Wissen und Amüsement vermischt. Er weicht der Frage geschickt aus.
„Die Wächterin sorgt für sich selbst. Ich kümmere mich darum, dass niemand unnötigen Schaden nimmt. Die Suche in diesen Akten kann gefährlicher sein, als Sie denken, Lyra. Manchmal sind die Geheimnisse besser, wenn sie vergessen bleiben. Was erhoffen Sie sich zu finden? Eine Gebrauchsanweisung, um das Unsterbliche wieder sterblich zu machen?“
Seine Frage ist zielsicher und provokant. Er will Lyras Ziel erfahren, ihre Pläne aufdecken. Und Lyra ist sich jetzt sicher: Er ist ein Spion.
Lyra spürt, wie die Wut die letzte Kälte aus ihrem Körper vertreibt. Sie ist die Geliebte eines Jägers; sie ist nicht gemacht für taktische Spielchen oder verschleierte Höflichkeiten. Besonders nicht in Fenris’ Gehrock, der ihre neue, wilde Entschlossenheit verkörpert.
Ihre blauen Augen blitzen auf.
„Ich mag keine Rätsel, Samuel“, sagt Lyra, ihre Stimme ist laut genug, um in diesem verstaubten Gewölbe zu hallen. „Sie fragen mich nach meiner Absicht, während Sie Ihre eigene penibel verbergen. Wenn Sie hier sind, um ‚unnötigen Schaden‘ abzuwenden, dann fangen Sie bei sich an.“
Sie steht auf und tritt einen Schritt vor, direkt in seinen persönlichen Raum, eine subtile, aber aggressive Machtverschiebung. Der Duft des Archivs vermischt sich mit dem Rauch und Zedernholz von Fenris’ Gehrock.
„Sie wissen, wer ich bin, Sie wissen, wen ich suche, und Sie wissen, was mit ihm geschehen ist. Also spielen Sie nicht den besorgten Nachbarn. Wer sind Sie? Und was ist Ihre Verbindung zu der Hexe am Brunnen, die sich selbst die Wächterin nennt?“
Lyra lässt keine Zeit für eine charmante Ablenkung. Ihre Haltung ist fordernd und offen feindselig. Sie hat nichts mehr zu verlieren.
Samuel zuckt nicht einmal zurück. Er lässt Lyras Intensität über sich ergehen, seine braunen Augen werden aber tiefer und ernster. Das freundliche Lächeln verschwindet nun vollständig, und er legt eine müde, uralte Maske an.
„Ich mag auch keine Spielchen, Lyra“, erwidert Samuel, seine Stimme senkt sich zu einem ernsten Ton. „Aber Sie sind gerade in einen Krieg hineingestolpert, von dem Sie nichts verstehen. Ich bin weder der Freund der Wächterin, noch ihr Diener. Ich bin lediglich ein Überlebender in Rosevil, der weiß, dass sich Einmischung in die Ewigkeit immer rächt.“
Er nickt auf den Folianten. „Wenn Sie mich schon zwingen, meine Hand zu zeigen: Ich kenne den Fluch des Grafen besser als jeder Sterbliche in dieser Stadt. Und ich weiß, dass Ihre romantische Vorstellung der Erlösung Ihren Mann und Sie nur noch tiefer in diesen Schlamassel zieht.“
Er macht eine Geste, die die gesamte Dunkelheit des Archivs umfasst. „Ich bin der Einzige, der Ihnen wirklich helfen könnte, das Ausmaß des Paktes zu verstehen. Aber ich werde meine Geheimnisse nicht teilen, nur weil Sie wütend sind. Wir teilen sie nur, wenn Sie bereit sind, mir zu vertrauen. Und mir zu sagen, wie Fenris überhaupt dazu gebracht wurde, den Platz des Grafen einzunehmen.“
Lyra spürt die Ernsthaftigkeit in Samuels Worten. Das freundliche Lächeln ist verschwunden, und was bleibt, ist eine klare, schmerzhafte Wahrheit in seinen braunen Augen. Er wirkt nicht wie ein Handlanger der Wächterin, sondern wie jemand, der zu viel gesehen hat. Doch ihr Misstrauen ist tief, gehärtet durch Fenris’ ständige Warnungen.
Sie zögert. Sie zieht den Gehrock enger, fast so, als würde sie Fenris’ schützende Kälte anrufen, um ihre Entscheidung zu klären. Lyra ist nicht bereit, das schreckliche Geheimnis der Wolfsverwandlung mit einem Fremden zu teilen.
„Vertrauen ist in Rosevil ein Luxus, den ich mir nicht leisten kann“, kontert Lyra scharf. Sie hält seinen Blick fest, ihre Augen funkeln unter der dunklen Schminke.
Sie deutet auf seine Kleidung und die Art, wie er über die Ewigkeit spricht. „Sie reden, als wären Sie selbst Teil dieser Vergangenheit. Was ist mit Ihnen geschehen, Samuel? Die Wächterin hat ihre Finger überall. Bevor ich Ihnen auch nur ein Geheimnis über Fenris verrate, müssen Sie mir Ihres offenbaren. Was ist Ihre Verbindung zu dieser Stadt, und warum überleben Sie hier, wo alle anderen nur altern und verschwinden?“
Lyra wartet. Sie weiß, dass sie die Schutzschicht des Mannes durchbrechen muss, bevor sie die Wahrheit über Fenris’ Erlösung suchen kann. Sein elegantes Auftreten verbirgt sicherlich eine düstere Geschichte.
Samuel atmet leise aus, ein Geräusch, das in der Stille des Archivs melancholisch klingt. Er versteht die Forderung. Er weiß, dass er eine schmerzhafte Währung anbieten muss.
„Eine faire Frage“, erwidert Samuel, seine Augen fixieren den Folianten auf dem Tisch. Er macht eine leichte Bewegung mit der Hand und deutet auf die unheimliche Stille um sie herum. „Das Archiv ist ein guter Ort für Geständnisse, nicht wahr? Wenn Sie wissen wollen, wie man in Rosevil überlebt, müssen Sie verstehen, dass es immer einen Preis für das Überleben gibt.“
Er blickt Lyra direkt an, die braunen Augen sind nun voller einer tiefen, stillen Trauer. „Ich habe die Wächterin zum ersten Mal vor über zwei Jahrhunderten getroffen. Ich war nicht stark genug, um ihr zu widerstehen. Aber ich war auch nicht wichtig genug, um verflucht zu werden. Ich bin ihr neutraler Zeuge. Derjenige, der bleibt, um die Geschichten derjenigen zu beobachten, die ewig verlieren.“
Lyra spürt, wie ihre eisige Haltung unter Samuels Geständnis leicht schmilzt. Zwei Jahrhunderte. Der Gedanke an eine so lange, neutrale Existenz, gefangen als Zeuge im Schatten der Wächterin, ist eine andere Art von Fluch. Lyras Empathie - der Motor ihrer Liebe zu Fenris - regt sich. Er ist kein Diener, sondern ein Überlebender, der die Mechanismen der Hexe kennt.
Sie lockert die Arme, der schwere Gehrock fällt weicher um sie. Die Feindseligkeit weicht einer drängenden Notwendigkeit.
„Ein neutraler Zeuge“, wiederholt Lyra leise, ihr Blick bleibt an ihm haften. „Das ist alles, was Sie sind? Sie haben ihm geholfen, als der Graf verschwand? Sie haben Fenris beobachtet, als er… in diese Stadt kam?“
Sie macht eine Pause, die Worte der Wolfsverwandlung bleiben ihr auf der Zunge stecken. Sie ist noch nicht bereit, die Waffe dieses Wissens aus der Hand zu geben.
„Ich werde Ihnen erzählen, was Fenris und mir widerfahren ist, wenn ich weiß, dass es einen Grund zur Hoffnung gibt“, fährt Lyra fort, ihre Stimme ist nun flehend und doch entschlossen. „Sie sagen, Sie kennen den Fluch des Grafen besser als jeder andere. Das Bett in unserem Haus, die ungezügelte Lust, die die Wächterin damals ansprach - das ist der Schlüssel, nicht wahr? Sagen Sie mir, Samuel: Was war der Pakt, den der Graf mit der Hexe geschlossen hat? Was hat er versprochen, um die Ewigkeit zu bekommen, und wie können wir diesen Vertrag brechen?“
Sie lehnt an den Tisch, ihre Intensität saugt die gesamte Aufmerksamkeit aus dem Raum. „Ich brauche Fakten. Ich habe heute seinen Geruch getragen, um mich sicher zu fühlen. Ich werde alles tun, um ihn zu retten. Wenn Sie mir nicht helfen, diesen Pakt zu finden, dann sind Sie Teil des Fluches.“
Samuel betrachtet Lyra, die Hingabe in ihrem Blick ist unübersehbar. Die schiere, rohe Kraft ihrer Liebe ist eine stärkere Macht als jedes Buch in diesem Archiv. Er sieht, dass er sie nur durch Wissen gewinnen kann.
Er nickt langsam, die Trauer in seinen Augen wird noch tiefer.
„Der Pakt ist nicht in diesen Büchern dokumentiert, Lyra“, sagt Samuel. „Er war ein magischer Vertrag, gebunden durch das Blut des Herzens und das Symbol der Lust. Das Bett ist nur der Altar. Der Kern des Paktes ist die Übergabe der Freiheit. Der Graf wollte ewige Macht und Ekstase, und dafür versprach er der Wächterin: die Kontrolle über seine Form und seine Erben.“
Er senkt die Stimme, sodass sie kaum mehr als ein Flüstern ist. „Ich kann Ihnen zeigen, wo Sie das Original-Siegel des Paktes finden. Es ist nicht hier. Es ist versteckt, wo die Wächterin es nicht vermutet. Aber dafür müssen Sie mir vertrauen, Lyra. Und Sie müssen bereit sein, Fenris in seiner neuen Existenz zu akzeptieren, auch wenn es nur temporär ist.“
Lyras Entschlossenheit zwingt sie, den letzten, schmerzhaften Schritt zu tun. Die Information, die Samuel über den Pakt geliefert hat - die Kontrolle über Form und Erben - bestätigt ihre schlimmsten Ängste und lässt ihre Vorsicht schwinden. Sie muss ihn zum Handeln zwingen.
Sie atmet tief ein und stützt sich mit beiden Händen auf den Rand des Tisches, der Gehrock ihres Geliebten hängt schützend von ihren Schultern.
„Sie müssen verstehen, in welcher Gefahr wir uns befinden, Samuel“, beginnt Lyra, ihre Stimme ist nun hart und emotional zugleich. „Fenris ist nicht nur an einen Vertrag gebunden. Die Wächterin hat gehandelt. Sie hat ihn gezwungen, den Platz des Grafen einzunehmen, aber sie hat es auf eine Weise getan, die selbst für seine Stärke eine Qual ist.“
Sie fixiert ihn mit ihren blauen, eindringlichen Augen.
„Ich war dabei, als es geschah. Auf dieser verfluchten Lichtung, wo alles so schön und betörend war. Sie zwang ihn, etwas aufzunehmen. Die Blüte der Roten Mondblume.“
Lyras Lippen zittern leicht, als sie die nächste Wahrheit ausspricht, aber sie zwingt sich, sie auszusprechen.
„Der leuchtende Blütenstaub stieg auf und hüllte ihn ein. Die Wächterin hat ihm die Unsterblichkeit des Tieres aufgezwungen. Fenris ist nicht mehr Fenris, zumindest nicht in seiner Form. Er ist jetzt eine Bestie der Dunkelheit. Er ist der schwarze Wolf, den die Wächterin als ihren persönlichen Jäger in die Ewigkeit geschickt hat.“
Lyra beugt sich über den Tisch, ihre ganze Haltung ist eine Mischung aus Flehen und Herausforderung.
„Ich sah ihn fliehen, um mich zu schützen. Er ist jetzt in der Wildnis gefangen. Aber seine Augen... seine Augen waren die von Fenris. Die Wächterin hat ihm die Unsterblichkeit eines Raubtiers gegeben. Das ist die Folter. Das ist der Grund, warum ich den Pakt brechen muss, Samuel. Weil meine Liebe in einem Tierkörper gefangen ist. Sagen Sie mir jetzt, wo das Siegel versteckt ist.“
Samuel reagiert mit einer tiefen, stillen Erschütterung. Seine braunen Augen weiten sich kaum merklich, aber die Trauer und das Entsetzen, die er empfindet, sind plötzlich sehr real und sehr alt.
„Die Rote Mondblume...“, flüstert er, sein Blick geht über Lyras Schulter in die Dunkelheit, als würde er ein jahrhundertealtes Schreckgespenst sehen. „Ich hatte gehofft, diese Legende wäre nur ein Gerücht. Das ist schlimmer als der Fluch des Grafen selbst. Die Wächterin hat ihm eine unaufhaltsame Form gegeben, die nur auf ihren Befehl reagiert.“
Er schüttelt den Kopf, sein Gesicht ist aschfahl. „Gut. Sie haben mir vertraut. Nun, Lyra, Sie brauchen nicht mehr in diesen Büchern zu suchen. Das Siegel des Paktes ist im letzten Ort des menschlichen Verlangens versteckt. Es ist unter dem Bett des Grafen versenkt, in dem auch Sie und Fenris gelegen haben. Aber es ist magisch versiegelt. Nur wahre Leidenschaft kann es befreien.“
Lyras Adrenalin steigt schlagartig an. Die Information ist zu explosiv, um sie im Archiv zu diskutieren. Das Siegel des Paktes liegt unter ihrem Bett, dem Bett, in dem die ungezügelte Lust des Grafen und ihre eigene tiefe Bindung zu Fenris ihren Höhepunkt fanden. Und nur wahre Leidenschaft kann es freisetzen.
Sie kann Samuel nicht in ihr Haus lassen. Nicht, solange sie seinen wahren Platz in diesem dunklen Spiel nicht kennt.
„Ich danke Ihnen für die Information, Samuel“, sagt Lyra, ihre Stimme ist wieder kühl und distanziert, die emotionale Offenbarung ist vorüber. Sie schlägt den Folianten des Grafen zu und schiebt ihn zurück in das Regal, ein Zeichen, dass die Suche hier beendet ist. „Ich habe genug für heute. Ich muss diese Chronik verarbeiten.“
Sie versucht, ihren Tonfall so sachlich wie möglich zu halten, aber ihre zitternden Hände verraten die innere Eile.
„Ich werde mich um die Lust des Grafen und das Bett kümmern. Allein. Rosevil mag Sie als neutralen Zeugen dulden, aber das bedeutet nicht, dass ich Sie in meine Angelegenheiten ziehe.“
Lyra blickt ihn kurz an, eine Mischung aus Misstrauen und einem Hauch von Dankbarkeit in ihren Augen. Sie trägt Fenris’ Gehrock, und sie muss so handeln, wie der Jäger handeln würde: allein und geschützt.
„Auf Wiedersehen, Samuel. Wenn ich Sie wieder sehen sollte, hoffe ich, Sie sind ehrlicher über die Natur Ihrer Überlebensstrategie.“
Sie dreht sich abrupt um, bevor Samuel eine weitere Frage stellen oder ihr das Angebot machen kann, sie zu begleiten. Sie eilt den steinernen Gang entlang, die Stufen der Wendeltreppe hinauf, wobei der Gehrock schwer hinter ihr weht.
Samuel bleibt allein im dunklen Gewölbe zurück. Er blickt auf die Stelle, an der Lyra stand, und ein nachdenkliches, fast melancholisches Lächeln kehrt auf seine Lippen zurück. Er weiß, dass sie ihn nicht begleiten lassen würde. Und er weiß, dass das Siegel des Paktes nicht ohne Hilfe freigesetzt werden kann.
Sie sucht die Erlösung durch Leidenschaft, denkt Samuel. Der Graf hat seine Ewigkeit durch Verrat gewonnen. Und der Jäger... der Jäger wartet in der Wildnis.
Lyra erreicht die straßenseitige Tür des Archivs, verabschiedet sich kurz von der Archivarin und tritt hinaus in den kalten, nebligen Tag. Sie beginnt zu rennen. Nicht, weil die Wächterin sie verfolgt, sondern weil die Erlösung Fenris’ unter ihrem Bett liegt.