Lyra & Fenris - Moonbound Kapitel 10
Nach der brutalen Trennung kehrt Lyra allein durch den nebelverhangenen Kern von Rosevil nach Hause zurück - verletzt, erschüttert und verfolgt von der Gewissheit, nicht wirklich allein zu sein.
Während sie in der Sicherheit ihres Hauses zusammenbricht, offenbart sich draußen eine grausame Wahrheit: Fenris ist nicht verloren. In der Gestalt eines Wolfs jagt er durch die Stadt - noch immer bei klarem Verstand, getrieben von Liebe, Schuld und dem unbändigen Willen, Lyra zu beschützen.
Lyra liegt für einen schmerzhaften, stillen Augenblick auf dem kalten Kopfsteinpflaster, ihre Rippen protestieren bei jedem Atemzug. Doch der körperliche Schmerz ist nichts im Vergleich zu der seelischen Zerrissenheit. Fenris war direkt vor ihren Augen in eine bestialische, ewige Gefangenschaft gestoßen worden, und sie war machtlos vertrieben worden.
Sie zwingt sich aufzustehen, ihre Glieder zittern. Der magische Bann der Wächterin hat sie in die sterbliche Welt zurückgespuckt. Die Gassen von Rosevil sind wieder da, grau, feucht und unendlich leer.
Lyra beginnt, mechanisch zu gehen. Sie weint nicht laut, ihre Tränen sind jetzt stumm und heiß, verbrannte Spuren auf ihrer Haut. Sie verlässt die Zone des Hafens und irrt durch das Stadtzentrum, das selbst um diese späte Stunde noch von einem dichten, fast undurchdringlichen Nebel eingenommen ist, der sich wie ein Schleier über die gotischen Fassaden legt. Rosevil ist immer ein Ort der Dunkelheit gewesen, doch jetzt fühlt es sich an wie ein kaltherziges, leeres Grab.
Sie erreicht die vertraute, hohe Haustür ihres Zuhauses. Das Kerzenlicht, das sie vor Stunden in ihrer panischen Eile angelassen hatte, ist aus, oder der Nebel schluckt es.
Lyra bleibt vor der schweren, dunklen Tür stehen. Sie holt tief Luft, ihre Augen sind rot gerändert und starr. Sie blickt nicht sofort auf das Messingschild.
Stattdessen scannt sie die Umgebung.
Die gesamte, lange Wanderung zurück - durch die nebligen Gassen, vorbei an den schweigenden Denkmälern und den dunklen Fenstern - hatte Lyra das unangenehme, kribbelnde Gefühl beschlichen, beobachtet zu werden. Es war keine offene Bedrohung, sondern ein kaltes, lauerndes Wissen in ihrem Nacken.
Sie dreht sich langsam um. Der Nebel ist hier so dick, dass er die Sicht auf nur wenige Meter reduziert. Die Straßenlaterne am Ende der Straße ist nur ein schwacher, gelblicher Dunstkreis.
Niemand.
Die Fenster der gegenüberliegenden Häuser sind schwarz und stumm. Es gibt keine Schritte, kein Husten, kein verräterisches Knistern. Doch die Gewissheit bleibt: Sie ist nicht allein. Jemand oder etwas folgt ihr.
Die kalte Gewissheit steigt in ihr auf: Es war nicht die Wächterin, die ihr gefolgt ist. Es ist Fenris.
Der Jäger ist jetzt in der Stadt.
Lyra zwingt ihre zitternde Hand, den kalten Türknauf zu fassen. Die Dunkelheit und die Ungewissheit hinter der Tür sind jedoch nicht furchteinflößender als der unsichtbare, lauernde Wolf in den Nebelschwaden Rosevils.
Lyra dreht sich ein letztes Mal zur Straße. Ihre Sicht ist sinnlos. Der Nebel von Rosevil hat sich in eine milchige, graue Wand verwandelt, die jede Kontur und jeden Schatten schluckt. Das Kribbeln am Nacken ist immer noch da, eine kalte, bestialische Präsenz, aber sie kann nichts erkennen.
Mit einem tiefen, zittrigen Seufzer - einer hörbaren Entlassung des Schmerzes, den sie auf der Straße zurückhalten musste - öffnet sie die schwere Eichentür und schlüpft ins Haus. Sie schließt die Tür sofort hinter sich, die Verriegelung klickt mit einem hohlen, endgültigen Geräusch ins Schloss.
Die Dunkelheit im Flur ist mild und bekannt. Lyra lässt ihren schweren Mantel fallen; das dunkle Tuch landet stumm auf dem Holzboden. Sie streift die nassen, schweren Stiefel ab, die symbolisch für ihre gescheiterte Jagd stehen. Barfuß, nur in ihrem dünnen Pullover und der zerrissenen Hose, schleppt sie sich durch das stille Haus.
Im Schlafzimmer, das die gemeinsame Intimität ihrer Liebe birgt, bricht Lyra zusammen.
Sie sinkt auf den dicken, weichen Teppich neben das Bett und lässt den Lärm ihrer Trauer endlich frei. Sie weint laut, unkontrolliert und verzweifelt. Sie schämt sich ihrer Tränen nicht. In diesem Moment ist sie nur eine Frau, die mit ansehen musste, wie die Liebe ihres Lebens durch Magie in ein Tier verwandelt und ihr weggenommen wurde. Die Hexe hatte ihr die Ewigkeit versprochen, aber Fenris’ Menschlichkeit gestohlen.
Die Hölle ist nicht, ihn zu verlieren. Die Hölle ist, ihn so zu lieben.
Draußen, im herzlosen Nebel Rosevils, schleicht der schwarze Wolf um das Haus.
Fenris.
Die Bestie in ihm ist mächtig, die dunkle Verwandlung hat ihm unsterbliche Stärke gegeben, aber der Verstand in seinem Kopf ist immer noch der seine. Die Hexe hatte seine Form kontrolliert, nicht seine Seele. Er kann sich an die Schreie, an den Schmerz, an Lyras Tränen erinnern. Er wird sie nicht allein lassen.
Fenris - der Wolf - bewegt sich lautlos, sein Fell schluckt das spärliche Licht. Er umkreist das Haus, jede Bewegung ist die eines perfekten Jägers und eines verzweifelten Liebhabers. Seine Sinne sind nun übermenschlich; er riecht Lyras Parfüm, die schwache Salzigkeit ihrer Tränen, das warme, beruhigende Aroma ihrer Haut, selbst durch die dicken Mauern. Er riecht die Spur ihrer Angst und die überwältigende Hitze ihrer Liebe.
Er erinnert sich an ihre Küsse, an ihre Hände, die seine Haut berühren, an jedes private, zärtliche Geheimnis ihrer Verbindung. Dieses Gedächtnis ist der einzige Schild gegen die totale Kontrolle der Hexe.
Der Wolf verkriecht sich schließlich in eine dunkle, feuchte Ecke zwischen der Gartenmauer und einem dichten Efeubusch. Seine grünen Augen fixieren das Schlafzimmerfenster, obwohl er durch den Nebel kaum etwas sehen kann. Er ist ihr Wächter, ihr Gefangener, der unsterbliche Jäger, der seine Beute beschützt.
Er wartet. Er weiß, dass Lyra weint. Und er kann nichts tun, außer sie vor der Dunkelheit draußen zu bewachen.
Im Haus ist der Schmerz so überwältigend, dass er Lyras gesamte Energie verbrennt. Ihre Tränen versiegen langsam, die erschöpfte, schmerzende Seele kann nicht mehr kämpfen. Lyra rollt sich auf dem Teppich zusammen, eingehüllt in die Dunkelheit des Zimmers, das nach Fenris’ verschwundenem Duft riecht. Überwältigt von Trauer und magischer Erschöpfung sinkt sie in einen tiefen, unruhigen Schlaf. Es ist keine Erholung, sondern eher eine bewusstlose Flucht vor der brutalen Realität.
Draußen, in der feuchten, dichten Stille Rosevils, hält Fenris Wache.
Der gigantische, schwarze Wolf liegt geduckt im Schatten, seine Muskeln sind angespannt und bereit. Er ist unsterblich jetzt, ein Jäger von unheimlicher Perfektion, aber er ist auch ein Gefangener. Der Zwang der Hexe hat seine Form verändert, aber seine loyale, wache Seele bleibt Lyras unerschütterlicher Beschützer.
Seine grünen Augen sind unermüdlich. Sie fixieren das Schlafzimmerfenster, seine Atmung ist flach und kontrolliert. Er wird kein Auge zudrücken, bis die schwache, graue Dämmerung des Morgens anbricht.
Die ganze Stadt, umhüllt vom kalten, magischen Nebel, ist seine Arena und seine Falle. Er ist jetzt eine Bestie der Dunkelheit, ein Wesen, das nicht in der modernen, sterblichen Welt überleben kann, wenn es gesehen wird. Ein einziger Blick, ein einziger Schrei in der Morgendämmerung, und die Jagd würde beginnen - nicht die Jagd der Hexe, sondern die der Menschen, die ihn fangen oder töten würden.
Fenris weiß, dass er in dieser Gestalt nicht in der Stadt bleiben kann. Er ist an den verfluchten Wald gebunden, an die magische Dunkelheit, wo seine neue Form verborgen bleiben kann. Er muss Lyra verlassen, sobald die Sonne die Nebel zu lichten beginnt.
Bis dahin ist er der stille, unsichtbare Wächter, der seine verlorene Geliebte beschützt. Er lauscht auf ihr gleichmäßiges, leises Atmen im Haus - das einzige Geräusch in der Welt, das ihm noch einen Sinn gibt. Er ist der Wolf, der auf seine Frau aufpasst. Und die Ewigkeit ist gerade erst angebrochen.
Lyra wird nicht durch Lärm geweckt, sondern durch eine tiefe, körperliche Empfindung. Selbst im Schlaf, überwältigt von der Trauer, spürt ihr Unterbewusstsein die Anwesenheit ihres Ankers. Es ist ein kalter, doch beruhigender Druck auf ihre Seele, eine Gewissheit von wachsamer, unerbittlicher Loyalität. Sie weiß, dass sie nicht allein ist. Fenris ist da.
Sie kommt mühsam vom kalten Boden hoch, ihre Glieder schmerzen von der magischen Vertreibung. Sie ignoriert den Schmerz und geht direkt zum Fenster, das in die nebelverhangene Straße blickt.
Die Dämmerung beginnt gerade. Das tiefe Schwarz der Nacht weicht einem grauen, unentschlossenen Morgen. Die feuchten Vorhänge hängen schwer vor dem Glas. Lyra weiß, dass sie sie nicht bewegen sollte - jede Bewegung könnte den unsichtbaren Wächter alarmieren. Aber der Drang, ihn zu sehen, ist eine leidenschaftliche, zwingende Notwendigkeit.
Vorsichtig, mit kaum einem Hauch, zieht Lyra den Rand des schweren Stoffes gerade so weit zurück, dass ein schmaler Spalt die Sicht auf die Straße freigibt.
Und da ist er.
Nicht direkt vor der Tür, aber in der Ferne, wo die letzte Ecke in den tieferen Nebel führt. Sie sieht die gigantische, tiefschwarze Gestalt des Wolfes. Er bewegt sich langsam, kraftvoll und lautlos, seine Haltung ist die eines Königs, der abzieht. Seine grünen Augen, selbst in der Distanz noch als leuchtende Punkte wahrnehmbar, blicken ein letztes Mal über die Fassaden, als würden sie ihre Essenz speichern.
Er verlässt die Stadt. Er zieht sich in sein verfluchtes Reich zurück, bevor das Licht die Geheimnisse Rosevils enthüllt. Lyra starrt ihn an, und die Tränen kommen sofort wieder. Sie sind jetzt jedoch nicht nur Tränen der Trauer; sie sind Tränen der unverbrüchlichen Liebe und des Todesmuts. Sie hat ihn gesehen, den Mann hinter der Bestie.
Der Wolf verschwindet schließlich vollständig in dem dichten, grauen Schleier der Morgendämmerung.
Lyra schließt den Vorhang entschlossen. Ihre Hand ist jetzt ruhig. Die Trauer ist noch da, ein brennendes Loch in ihrer Brust, aber sie wird von einem neuen, eisernen Fokus ersetzt. Fenris ist nicht verloren. Er ist gefangen.
„Ich werde dich erlösen, mein Jäger“, flüstert Lyra in die Stille des Zimmers. „Du wirst nicht auf ewig an diesen Fluch gebunden sein. Ich werde die Wächterin finden. Ich werde das Biest brechen. Und ich werde dir deine Freiheit zurückgeben, die du für mich geopfert hast.“
Der Morgen bricht nicht nur in der Stadt an; er bricht auch in Lyras Seele ein. Doch das Weinen ist vorbei. Die Trauer ist transformiert in eine kühle, klare Entschlossenheit. Sie verlässt das Schlafzimmer, die Spuren der Tränen sind noch kalt auf ihren Wangen, und geht in die Küche. Mechanisch füllt sie den Wasserkocher und stellt ihn auf, das scharfe, zischende Geräusch des aufkochenden Wassers ist ein Anker in der realen, sterblichen Welt.
Während das Wasser summt, geht Lyra zu ihrer Handtasche. Sie nimmt ihr Smartphone.
Fenris hat ihr strengstens verboten, es in der Nähe ihrer Wohnung einzuschalten, aus Angst, die moderne Technologie würde die Aufmerksamkeit der magischen Welt auf sie lenken. Aber Fenris ist jetzt ein gefangener Jäger in den dunklen Wäldern. Seine Regeln sind gebrochen.
Sie entsperrt das Gerät. Das helle, kalte Licht des Bildschirms ist ein scharfer Kontrast zur gotischen Dunkelheit des Raumes. Sie öffnet den Browser.
Ihre Finger tippen hastig die Suchanfrage ein: "Rosevil Geheimnisse Magie Fluch"
Der Wasserkocher klickt ab. Lyra gießt das Wasser über den Kaffee, ignoriert aber den aufsteigenden Dampf und den Duft. Sie springt leicht auf die Arbeitsfläche der Küchenschränke, die nun ihr neuer Beobachtungsposten ist, die Beine angewinkelt unter ihren dünnen Pullover gezogen.
Sie beginnt, durch die Suchergebnisse zu scrollen.
Die Enttäuschung ist schmerzhaft.
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Rosevil - Vergessene Hafenstadt: Sehenswürdigkeiten (Keine)
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Top 10 Geisterstädte: Rosevil (Zu langweilig)
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Investitionen in Rosevil: Ein schlechtes Risiko.
Jeder Artikel, jedes Forum, jede Online-Enzyklopädie wiederholt dieselbe, nüchterne Wahrheit: Rosevil ist eine verschlafene Stadt am Hafen, ohne touristischen Wert, ohne Geschichte, die es wert wäre, erzählt zu werden. Alles ist verfallen, die Bevölkerung altert, die Wirtschaft stagniert. Ein Nichts.
Es gibt keinen Hinweis auf uralte Flüche. Nichts über Wächterinnen oder Rote Mondblumen. Die moderne Welt hat die tiefere, dunkle Wahrheit der Stadt ausgelöscht, sie als irrelevanten Schutt abgetan.
Lyra seufzt tief, ihr Atem beschlägt kurz die Oberfläche des Handys. Sie ist allein. Die Erlösung Fenris’ wird nicht in einem Online-Artikel zu finden sein.
Mit einem frustrierten, leisen Geräusch legt sie das Handy beiseite. Es landet sanft auf der Arbeitsfläche neben ihrer dampfenden Kaffeetasse. Wenn die Geheimnisse Rosevils nicht im digitalen Raum zu finden sind, müssen sie in den verborgenen, physischen Ecken der Stadt lauern. Dort, wo die Menschen aufgehört haben zu suchen.
Der schwarze Wolf rennt derweil tief in das verfluchte Dickicht. Die neue, unsterbliche Form verleiht Fenris eine atemberaubende Geschwindigkeit und Ausdauer, doch die Flucht ist keine Befreiung, sondern eine Qual. Die Bäume werden dichter, der Nebel verschluckt ihn vollständig, die Luft ist hier kalt und rein magisch.
Er findet eine kleine, dunkle Höhlung zwischen den Wurzeln einer uralten Eiche. Es ist ein Ort, der Schutz vor den Elementen und dem menschlichen Blick bietet. Mit einer eleganten, doch erschöpften Bewegung legt sich der riesige Wolf nieder, sein schwarzes Fell verschmilzt fast vollständig mit dem Schatten.
Fenris versucht, seinen Körper zur Ruhe zu zwingen, aber der neue, wilde Herzschlag in seiner Brust ist unerbittlich. Sein Wolfskörper ist erschöpft von der Transformation, aber sein menschlicher Verstand rast.
Er schließt die Augen - die leuchtend grünen Pupillen dringen nicht mehr durch die Dunkelheit, aber sein innerer Blick ist hellwach.
Seine Gedanken haften verzweifelt an Lyra.
Er riecht sie immer noch auf seinem Fell - den Duft von Jasmin, die Wärme ihrer Angst, die salzige Trauer ihrer Tränen. Er sieht die Stelle, an der sie kniete, ihre Augen voller unerschütterlicher Liebe, als sie ihn ansah, die Bestie.
Und in dieser kalten, feuchten Waldecke wird ihm das Grauen der Strafe klar.
Die Wächterin hat ihm nicht nur seine menschliche Form genommen. Sie hat ihm sein menschliches Empfinden gelassen. Sie hat ihm die Liebe, die Sehnsucht und die Vernunft nicht geraubt.
Er ist ein denkendes, liebendes Wesen, gefangen in einem bestialischen, unsterblichen Gefäß. Er hat die Fähigkeit, Lyra zu lieben, zu beschützen und zu begehren, aber er hat die Fähigkeit verloren, sie zu berühren, mit ihr zu sprechen, ihr Trost zu spenden. Er kann sie nur noch als Jäger beschützen. Er ist zur ewigen, stummen Wache verdammt, zu einem Leben der Nähe, das nie Intimität sein darf.
Die Hexe hatte ihm die Ewigkeit gegeben - aber eine Folter der Ewigkeit. Er wird Zeuge sein, wie Lyra altert und stirbt, unfähig, ihr Trost zu spenden, unfähig, sie vor dem Tod zu bewahren. Er wird ihre Liebe immer spüren, aber nie erwidern können.
Ein leiser, kehlig grollender Laut - das wolfsgleiche Äquivalent eines tiefen, menschlichen Seufzers - entfährt seiner Brust. Die Strafe ist schlimmer als erwartet. Fenris muss nun mit seinem vollkommenen, menschlichen Verstand in der Gestalt eines Wolfes überleben.
Er liegt zusammengerollt in den kalten Wurzeln der Eiche. Sein Verstand ist ein brennender Altar des Schmerzes, aber die magische und physische Erschöpfung des Wandels ist zu groß. Endlich, getrieben von der Notwendigkeit, sinkt er in einen unruhigen, schweren Schlaf.
Doch der Schlaf bietet ihm keine Gnade, keine Ruhe vor der Pein der verlorenen Form. Sein menschliches Empfinden übernimmt die Führung.
Fenris' Traum ist ein intensives, brennendes Echo der Intimität, die er verloren hat. Er ist wieder in seinem eigenen Fleisch, in der dunklen, warmen Höhle ihres Schlafzimmers, und er hält Lyra in seinen Armen.
Er spürt das weiche Gewicht ihres Körpers auf seinem, die Art, wie ihre Haut auf seiner dunklen Hitze reagiert. Er riecht den vertrauten Duft ihres Haares, während er es zurückzieht, um den zarten Bogen ihres Halses freizulegen. Die Stille der Nacht ist nur gefüllt vom Rauschen ihres Atems, der in ein heiseres Keuchen übergeht, als seine Lippen und seine Hände die Geheimnisse ihres Körpers erkunden.
Im Traum ist er wieder der Jäger und der Hingebungsvolle, der sie an sich presst, wenn sie seinen Namen stöhnt. Er spürt die feurige Spannung ihrer Muskeln, das zarte Beben unter seiner Berührung, die Art, wie sie ihn braucht, um die tiefe, dunkle Leere in ihm zu füllen. Es ist die perfekte, schmerzhafte Wiederholung der körperlichen Einheit, die sie als Anker und Gefäß verband.
Der Traum wird qualvoll intensiv. Fenris spürt das Glühen ihrer Sehnsucht, die Art, wie sie ihn mit Händen und Mündern zur Raserei treibt. Er erlebt das berauschende Gefühl des finalen Einsseins, das ihre Liebe besiegelte, das Gefühl von Besitz und Zärtlichkeit, das nur ihm gehörte.
In der Kälte des Waldes zuckt der Wolf. Ein leises, unterdrücktes Wimmern, halb Grollen, halb menschlicher Schrei, entfährt seiner Kehle. Der Traum ist ein sadistischer Spiegel der verlorenen Berührung. Er hat die Fähigkeit zu fühlen, aber er hat die Fähigkeit verloren, zu nehmen und zu geben.
Er erwacht abrupt, die grünen Augen blitzen im Schatten auf. Der Duft von Lyra ist nur noch ein verblassendes Echo in der kalten, feuchten Luft. Er ist ein Tier, gefangen in einem Körper, der die Ekstase ihrer Liebe erlebt hat, aber sie nie wieder empfangen darf. Die Hölle der Wächterin ist perfekt.
Der Traum ist verschwunden, die süße, brennende Erinnerung an Lyras Körper verweilt schmerzhaft in seinem wolfsgleichen Fleisch. Die Diskrepanz zwischen der leidenschaftlichen Erinnerung und der eisigen Realität seiner gefangenen Form treibt ihn zur Weißglut. Seine grünen Augen sind nicht nur wach; sie lodern vor reiner, unkontrollierbarer Wut.
Die Frustration, die Unfähigkeit, zu seiner Frau zurückzukehren, sie zu trösten, sie zu berühren - all das sammelt sich in einem einzigen, wilden Impuls. Er ist der Jäger, der von seinem eigenen Rudel getrennt ist, der Mann, der von seinem eigenen Körper verraten wurde.
Mit einem wütenden Brüllen, das die Stille des Waldes zerreißt, springt Fenris aus seiner Höhlung.
Er ist nicht auf der Jagd. Er ist wütend.
Der riesige, schwarze Wolf stürzt sich auf den nächstgelegenen Baumstamm, eine dicke, mit altem Moos bewachsene Buche. Er rammt seine mächtige Schulter in das Holz, ein dumpfer Schlag hallt durch den Wald, und er reißt mit seinen Klauen tiefe Furchen in die Rinde. Der Baum zittert unter der rohen, magischen Kraft seines Angriffs.
Die Wut ist blind, befreiend in ihrer Heftigkeit. Es ist eine gewalttätige Entladung der Energie, die er für Lyra nicht verwenden kann. Jeder Hieb, jede Zerrung der Kralle, ist ein stummer Schrei nach der verlorenen Berührung seiner Geliebten.
Fenris reißt Äste ab, stampft auf den Waldboden, dass Erde und Moos fliegen. Seine Muskeln spannen sich unter dem schwarzen Fell zu stählernen Seilen; es ist ein Anblick von erschreckender, wilder Schönheit. Er ist die elementare Dunkelheit, die er so lange unterdrückt hat, jetzt freigelassen und auf die Umgebung gerichtet.
Er wendet sich ab von der zerfetzten Buche und fixiert einen Felsbrocken, der seit Jahrhunderten an Ort und Stelle liegt. Mit einem wütenden Knurren springt er darauf zu, seine mächtigen Kiefer schnappen zu. Die Zähne sind lang und scharf; sie würden Lyras Haut zerschneiden, anstatt sie zu küssen.
Er ist das perfekte Biest. Und das ist seine Strafe.
Als die Zerstörung endet, steht Fenris keuchend inmitten der Verwüstung. Sein Körper ist von Adrenalin durchflutet, aber der Schmerz im Herzen ist unvermindert. Die Wut hat nur die Bäume zerstört. Lyras Gesicht, ihre Tränen, ihre Flehen - all das ist immer noch scharf in seinem menschlichen Verstand eingebrannt.
Er sinkt auf die Vorderpfoten, der Rauch seines Atems steigt in der kalten Waldluft auf. Er muss seine Kraft kontrollieren. Nicht um die Hexe zu besiegen, sondern um Lyra nicht zu verletzen. Er ist ein Sklave der Ewigkeit, aber seine Loyalität ist frei.
Lyra steht unter dem heißen, fast schmerzhaften Strahl der Dusche, der die magische Kälte und den Schmutz der Nacht von ihrer Haut wäscht. Das Wasser ist fast kochend, ein Versuch, die Eiswände um ihr Herz zu schmelzen. Es gelingt nicht. Sie wäscht ihre Tränen fort, aber die eisige Entschlossenheit bleibt.
Als sie aus der Dusche tritt, ist ihr Körper warm und dampfend, aber ihre Seele ist kalt.
Vor dem Spiegel widmet sie sich dem rituellen Akt des Anziehens, eine Wiederherstellung der Fassade für die gefährliche Welt, die sie nun betreten muss. Sie wählt Kleidung, die ihre Stimmung widerspiegelt: alles schwarz. Schwarze Röhrenjeans, ein schwarzer, figurbetonter Pullover, der das Silber ihrer Haut kontrastiert. Sie schminkt sich wie immer - dunkle, rauchige Augen und schwarze Lippen -, eine Rüstung aus Ästhetik.
Sie zieht ihren, langen, schwarzen Mantel an. Doch als sie in den Flur tritt und an der Garderobe, aus dem Friedhofstor vorbeigeht, bleibt ihr Blick an Fenris’ schwarzen Gehrock hängen.
Er hängt unberührt dort, wo er ihn das letzte Mal hingehängt hat - ein schweres, dunkles Tuch von perfektem Schnitt, das nach ihm riecht. Nach Zedernholz, Rauch und dieser einzigartigen, dunklen Energie, die nur Fenris in sich trägt.
Lyra zögert keine Sekunde. Sie zieht ihren eigenen Mantel wieder aus, lässt ihn auf den Boden fallen und streckt die Hand nach seinem Gewand aus.
Sie schlüpft in den Gehrock. Er ist ihr viel zu groß. Die breiten Schultern Fenris’ lassen das Tuch fast von ihren eigenen zarten Schultern rutschen, die Ärmel sind viel zu lang und die Länge reicht Lyra bis zu den Waden.
Aber das ist ihr vollkommen egal.
Der Stoff ist schwer und warm, und der Duft nach Fenris ist überwältigend und tröstlich. Es ist, als würde sie ihn berühren, als würde er sie mit seinem Kleidungsstück festhalten und beschützen. Es ist eine intime, erotische Nähe in seiner Abwesenheit; sie trägt seine Stärke, seine Dunkelheit, seine Wärme.
Lyra schließt die Knöpfe des Gehrocks, hüllt sich fest in seine Wärme und starrt in den Spiegel. Sie sieht nicht nur sich selbst; sie sieht die Verbundenheit. Sie ist jetzt Lyra, die Jägerin der Erlösung, gekleidet in der Hülle ihres verfluchten Geliebten.
Lyra zieht den Kragen von Fenris’ zu großem Gehrock hoch und tritt hinaus in den grauen, nebelverhangenen Morgen Rosevils. Das Gewicht des Tuches ist eine feste, tröstliche Last; ein greifbarer Anker in der Abwesenheit des Mannes, dem es gehört. Sie geht zügig, die schwarzen Stiefel machen leise, entschlossene Geräusche auf dem feuchten Kopfsteinpflaster.
Während sie die Gassen durchquert, deren Fassaden so alt und undurchschaubar sind wie die Geheimnisse, die sie bergen, lässt Lyra ihren Verstand nicht bei der Verzweiflung verweilen. Sie konzentriert sich auf Fakten.
Fenris war nicht der erste, der sich in den Fängen der Wächterin verlor.
Ihre Gedanken kehren zu der unvollendeten Geschichte zurück, die sie beide hier in Rosevil begonnen hatten: die Geschichte des Grafen.
Fenris hatte immer Andeutungen gemacht, dass sein Schicksal und das düstere Erbe dieses Hauses ineinander verwoben waren. Und der offensichtlichste Anhaltspunkt steht direkt in ihrem Schlafzimmer: Das Bett des Grafen.
Das Bett.
Es ist ein monumentales, schwarzes Himmelbett, das älter ist als die Stadt selbst, überladen mit geschnitzten, gotischen Schatten und tiefen Geheimnissen. Fenris hatte Lyra darin mit einer Qual der Lust begehrt, die die Jahrhunderte zu ignorieren schien. In diesem Bett war ihre düstere, leidenschaftliche Bindung besiegelt worden.
Lyra spürt, wie die Erinnerung an die Hitze und die Wildheit ihrer Nächte in diesem Bett ihre Wangen rötet, selbst durch die Kälte des Morgens. Es ist eine erotische, schmerzhafte Gewissheit: Die Kraft ihrer Liebe wurde von den dunklen Echos dieses Hauses genährt.
Es ist offenkundig: Die Wächterin, der Fluch, Fenris’ Dunkelheit und die Geschichte des Grafen sind direkt miteinander verbunden. Der Graf war einst derjenige gewesen, der mit der Dunkelheit paktierte, der diesen Ort zu einem magnetischen Pol für das Übernatürliche machte.
Der Fluch, der Fenris in den Wolf verwandelte, ist nur die Wiederholung eines uralten Dramas, inszeniert von derselben, ewigen Wächterin.
Um Fenris zu erlösen, muss Lyra nicht nur die Gegenwart besiegen, sondern auch die Vergangenheit entwirren. Sie muss die Wahrheit des Grafen finden.
Sie weiß, dass die Wahrheit nicht im Internet liegt, sondern in den verstaubten Ecken dieses vergessenen Ortes.
Lyra trifft ihre Entscheidung, noch bevor sie die Hauptstraße erreicht. Die Erlösung ihres Jägers liegt nicht in der Zukunft, sondern in der Wiederherstellung der Vergangenheit. Wenn der Fluch Fenris’ eine Wiederholung des Schicksals des Grafen ist, dann liegt der Schlüssel zur Umkehrung in den verstaubten Aufzeichnungen dessen, was einst war.
Ihre Schritte beschleunigen sich. Das Ziel ist das Stadtarchiv.
Das Archiv von Rosevil ist kein modernes, lichtdurchflutetes Gebäude. Es ist ein gotischer, grauer Bau aus dem späten neunzehnten Jahrhundert, der direkt neben der verlassenen alten Kirche steht. Das Gebäude selbst sieht aus, als würde es unter der Last der gesammelten, ungesagten Geschichten ächzen.
Fenris’ Gehrock schützt Lyra vor der kalten Feuchtigkeit, und ihr Entschluss ist scharf wie Stahl.
Sie betritt das Archiv. Die Luft im Inneren ist dick, kalt und riecht nach altem Papier, Schimmel und einer tiefen, traurigen Stille. Die Neonröhren über ihr flackern faul, unfähig, die Dunkelheit in den hohen Regalen vollständig zu vertreiben.
Am einzigen Schreibtisch sitzt eine ältere Dame mit einem dicken, grauen Zopf und einem Gesicht, das aussieht, als wäre es aus demselben Pergament wie die Akten gefertigt. Sie blickt Lyra über den Rand einer halbmondförmigen Brille hinweg an.
Lyra spürt die Aufmerksamkeit der alten Archivarin, aber sie lässt sich nicht beirren. Sie ist in der Uniform ihrer Mission.
„Ich benötige Zugang zu den ältesten Dokumenten über die Geschichte Rosevils“, sagt Lyra, ihre Stimme ist tiefer, fester, vielleicht auch durch den schweren Gehrock Fenres geerdet. „Insbesondere alles, was sich auf das ehemalige Anwesen des Grafen und die zugehörigen Ländereien bezieht. Ich bin auf der Suche nach… Familienhintergrund.“
Die Archivarin lächelt kaum. Ihre Augen fixieren den überdimensionalen Gehrock, der Lyras zarte Figur fast verschluckt - ein Kleidungsstück, das nicht in diese Welt gehört.
„Das wird schwierig, Kind“, krächzt die Alte. „Die alten Bestände liegen tief unten. Und die Geschichte des Grafen… Nun, die ist unvollständig. Niemand fragt danach. Seit Jahrhunderten nicht.“
Lyra lehnt sich leicht über den Schreibtisch, der Duft des Gehrocks und ihre schwarze Lippenfarbe sind ein herausfordernder Kontrast zur Sterilität des Archivs.
„Ich habe Zeit“, erwidert Lyra mit einem Hauch von dunkler, ungeduldiger Leidenschaft. „Und ich bin sehr motiviert. Führen Sie mich bitte zu den Aufzeichnungen, die mit den Anfängen dieses Hauses verbunden sind.“
Die Archivarin seufzt, ihre Miene verrät, dass Lyras Entschlossenheit ein seltener, beunruhigender Anblick ist. Sie erhebt sich und weist mit einer knochigen Hand auf eine dunkle, steinerne Wendeltreppe, die in die Tiefe führt.
„Die wahre Geschichte liegt immer unter dem Boden, nicht wahr?“, murmelt die Archivarin. „Folgen Sie mir. Aber berühren Sie nichts ohne Handschuhe. Und erwarten Sie keine einfachen Antworten. Der Graf hat dafür gesorgt, dass seine Geschichte schwierig zu finden ist.“
Die alte Archivarin führt Lyra in die Tiefe. Die steinerne Wendeltreppe ist feucht und eisig, die Luft wird mit jedem Schritt schwerer und muffiger. Lyra ignoriert die Kälte; Fenris’ Gehrock ist eine warme, vertraute Umarmung um ihren Körper.
Sie erreichen den untersten Kellerraum, das eigentliche Archiv. Es ist ein Gewölbe, das aussieht wie ein mittelalterliches Verlies. Die Wände sind aus rauem Stein, und die Regale sind nicht aus Holz, sondern aus verrostetem Eisen gefertigt, beladen mit schweren, staubigen Folianten, die von Lederriemen zusammengehalten werden. Hier unten ist die Dunkelheit fast absolut, nur ein einzelner, schwacher Glühdraht spendet ein schäbiges Licht.
Die Archivarin deutet auf einen besonders dunklen Gang. „Das sind die ältesten Akten. Die sind ungeordnet und unvollständig. Viel Glück.“ Sie lässt Lyra allein, ihr schneller Rückzug hallt auf der Steintreppe wider.
Lyra steht inmitten der gesammelten, toten Geschichte. Der Geruch von Verfall ist überwältigend.
Sie hat gerade die Hand ausgestreckt, um den ersten Folianten zu berühren, als sie es spürt:
Ein plötzlicher, unnatürlich kalter Windzug streicht über ihren Nacken.
Es ist kein leichter Hauch, sondern ein eisiger, gezielter Atem, der ihr Haar aufstellt und die Haut unter Fenris’ Gehrock erstarren lässt. Lyra zuckt zusammen. Sie weiß sofort: Ein geöffnetes Fenster kann es nicht sein. Dieses Gewölbe ist tief unter der Erde, versiegelt. Es ist eine magische Präsenz.
Sie dreht sich abrupt um, ihr Herz beginnt in ihrem Brustkorb zu hämmern. Sie scannt die Schatten. Nichts. Nur die hohen, dunklen Regale.
Dann spürt sie es noch einmal. Der Windzug ist stärker, kälter, und er trägt nun einen feinen, metallischen Geruch mit sich - die Ahnung von Magie, die sie am Brunnen gespürt hat. Es ist ein flüsterndes, unsichtbares Zischen, das Lyras Gedanken zu infiltrieren versucht.
Die Erkenntnis trifft Lyra wie ein Schlag, hart und eisig: Die Wächterin ist hier.
Sie ist nicht physisch anwesend, aber ihre Essenz hat das Archiv erreicht. Sie hat Lyras Suche bemerkt, die beunruhigende Konzentration auf die Wurzel des Fluches. Die Wächterin sendet eine stumme, kalte Drohung aus, um Lyra von den schmutzigen Geheimnissen des Grafen fernzuhalten.
Fenris’ Gehrock fühlt sich plötzlich nicht mehr nur tröstlich, sondern wie eine Herausforderung an. Die Wächterin weiß, dass Lyra ihren Mann sucht, und sie ist gekommen, um die Jagd zu stoppen, bevor sie beginnt.