Lyra & Fenris - Moonbound Kapitel 12

Die Träne des Begehrens


Lyra entdeckt unter dem Bett des Grafen das Siegel des uralten Paktes, doch weder Liebe, Schmerz noch Blut vermögen es zu öffnen. Die grausame Erkenntnis folgt: Die Wächterin hat den Fluch verstärkt. Als Lyra Fenris schließlich in seiner Wolfsform wiederbegegnet, wird ihre Bindung auf eine letzte, schmerzhafte Probe gestellt - und ihr wird klar, dass sie Hilfe brauchen wird, um ihn zu retten.


Lyra rennt nicht, aber ihre Schritte sind so schnell und entschlossen, dass sie kaum langsamer ist als im vollen Lauf. Fenris’ Gehrock ist warm und schwer, und der Geruch von Zedernholz ist ihr unverzichtbarer Trost in der kalten, feuchten Luft Rosevils.

 

Der Weg nach Hause ist durchdrungen von Gedanken, die sich wie dunkle Seidenfäden um ihre Seele wickeln.

Sie denkt an Fenris. Nicht an den Wolf, sondern an den Mann, den sie in diesem schwarzen Tuch geliebt hat. Sie erinnert sich an die ungeduldige Gier in seinen Augen, die dunkle Zärtlichkeit seiner Berührungen. Wie oft hatte er sie in jenes gotische Bett gedrückt, das jetzt der Schlüssel zu seinem Fluch ist? Die Wächterin hatte Recht: Es war seine ungezügelte, intensive Leidenschaft, die ihn zum Erben des Grafen machte.

Wahre Leidenschaft kann es befreien.

 

Lyra fragt sich, was Samuel damit meinte. War es nur körperliche Lust, oder war es die tiefe, seelische Verbindung, die nur sie beide teilten? Ihre Beziehung war nie einfach oder hell gewesen; sie war immer dunkel, intensiv und existentiell - eine perfekte Antwort auf das Erbe des Grafen.

 

Ihre Gedanken wandern auch zu Samuel. Neutraler Zeuge. Zwei Jahrhunderte in Rosevil. Er ist ein wandelndes Archiv und ein potenzielles Opfer der Wächterin. Sie hatte ihn abgewiesen, aber sie weiß, dass sie ihn vielleicht wiedersehen muss. Das Misstrauen bleibt, aber die Notwendigkeit wiegt schwerer.

 

Sie erreicht das Haus. Die schwere Eichentür ist so dunkel und unbeweglich wie zuvor. Lyra schließt hinter sich ab, wirft den Gehrock nicht ab - sie braucht seine Gegenwart.

Sie hastet ins Schlafzimmer. Der Raum, der in der Nacht der Tränen Zuflucht war, ist jetzt der Altar des Fluches. Das riesige, geschnitzte Himmelbett dominiert den Raum, ein schwarzes, stilles Monster.

 

Ohne zu zögern, fällt Lyra auf die Knie und kriecht unter das Bett.

Der Raum unter dem Bett ist dunkel und voller alter Staubfäden. Sie tastet mit den Händen den kalten Holzboden ab, dort, wo die schwere Matratze aufliegt. Sie sucht nach einer unnatürlichen Naht, einer magischen Markierung, einem versteckten Fach.

 

Ihre Finger stoßen auf eine Stelle, die anders ist. Es ist kein Holz und kein Staub. Es ist ein kalter, glatter Stein - ein Siegel.

 

Es ist in den Boden eingelassen, unsichtbar unter dem Staub, und es hat die Form eines heraldischen Wappens, aber mit dunklen, verschlungenen Symbolen in der Mitte, die Lyras Seele unbewusst als gefährliche Magie erkennt. Sie versucht, das Siegel anzuheben, aber es ist unbeweglich - versiegelt.

 

Hier ist es. Das Siegel des Paktes.

 

Lyra legt ihre Hände auf den kalten Stein. Das Gefühl der ewigen Lust des Grafen und der erzwungenen Unsterblichkeit Fenris’ scheint aus der Kälte in ihre Hände zu strömen. Sie muss dieses Siegel brechen. Und dazu braucht sie ihre wahre Leidenschaft.

 

Lyra kniet unter dem kolossalen Bett des Grafen, ihre Hände pressen sich auf das kalte, glatte Siegel im Boden. Die geschnitzten Ornamente des Bettes - Zeugen jahrhundertelanger, dunkler Begierde - umrahmen sie in der Halbdunkelheit. Fenris’ Gehrock ist nun nicht nur Trost, sondern eine magische Rüstung ihrer Absicht.

 

Sie weiß, dass Worte und reiner Wille nicht ausreichen werden, aber sie muss es versuchen. Die wahre Leidenschaft muss in einem Akt der Liebe und des Schmerzes kanalisiert werden.

 

Lyra schließt die Augen und konzentriert sich auf die Hitze, die zwischen ihr und Fenris immer existierte. Die rohe, fast gewalttätige Anziehung, die sie sofort verband.

 

„Fenris!“, flüstert sie, dann lauter, ein flehendes, leidenschaftliches Rufen in die Stille des Hauses. „Ich brauche dich! Ich bin hier. Ich bin in unserem Bett. Erinnere dich!“

 

Sie presst ihre Stirn auf das kalte Siegel und ruft die gemeinsamen Erinnerungen hervor: Die Nacht, in der er ihr seine dunkle Natur offenbarte; das brennende Verlangen, das sie in jeder Berührung teilten; die wilden, verzweifelten Küsse nach jedem Kampf. Die unbändige, kompromisslose Liebe, die ihren gotischen Roman ausmachte.

 

„Unsere Leidenschaft, Fenris! Sie ist der Schlüssel! Die Wächterin hat dir das Tier aufgezwungen, aber das hier ist unser Bund! Erinnere dich, wie du mich hier begehrt hast! Wie du mich besessen hast! Wie wir uns gegenseitig die Seelen offenbart haben!“

 

Ihre Stimme bricht, Tränen der Frustration und Sehnsucht dringen durch ihre fest geschlossenen Augen. Sie kanalisiert die gesamte, leidenschaftliche Energie ihrer Beziehung in das kalte, steinige Siegel.

 

Doch das Siegel antwortet nicht.

 

Es bleibt unbeweglich, eiskalt und stumm. Das Wappen der Dunkelheit glänzt stumpf im Staub. Es gibt keine Vibration, keinen Riss, kein magisches Echo. Die bloße Erinnerung an die Liebe, so intensiv sie auch sein mag, ist nicht genug, um den magischen Pakt zu brechen, der mit der Ewigkeit geschlossen wurde.

 

Lyra öffnet die Augen, ihre Hoffnung ist zu einem schmerzhaften, tauben Klumpen in ihrer Brust erstarrt. Die pure Liebe ist machtlos. Sie ist noch nicht an den Kern der wahren Leidenschaft vorgedrungen, die Samuel meinte.

 

Sie muss tiefer gehen.

 

Lyra zieht die Hände vom Siegel zurück. Die Frustration über den stumpfen Misserfolg brennt heißer als jede Wut. Sie kann nicht impulsiv handeln; der Pakt ist zu alt und zu tödlich. Samuel hatte nicht gelogen: Es ist ein magischer Mechanismus, der nur auf die richtige Frequenz reagiert.

 

Sie ignoriert die Kälte und das Unbehagen des Gewölbes unter dem Bett. Sie konzentriert sich auf den eingelassenen Stein. Mit den Händen wischt sie den Staub beiseite und beleuchtet das Siegel mit der Taschenlampe ihres Handys.

 

Der Stein ist ein medaillonförmiges Wappen, tief in den Holzboden eingelassen. Lyras Blick fixiert die geschnitzten Symbole in der Mitte. Sie sind keine bekannten heraldischen Zeichen.

 

Es ist eine makabre Ikonografie der Bindung:

Die verschlungenen Schlangen: Zwei dünne, schwarze Schlangen winden sich umeinander, aber ihre Köpfe sind abgetrennt und blicken in entgegengesetzte Richtungen. Sie symbolisieren die ewige Bindung, die niemals enden kann, aber gleichzeitig ohne Führung ist - ein ewiges Gefängnis des Körpers.

 

Der Dornenkranz: Um die Schlangen windet sich ein Kranz aus stilisierten Dornen und Ranken. Diese stehen für den Schmerz und die Qual der ewigen Existenz. Der Graf fand keine Erlösung in seiner Lust, sondern nur Schmerz in der Ewigkeit.

 

Die Träne unter dem Zeichen: Ganz unten, unter den Schlangen, ist eine einzige, perfekt geformte Träne eingemeißelt. Sie ist nicht aus Verzweiflung, sondern aus gepresstem, flüssigem Verlangen - die Essenz der unstillbaren, erotischen Gier des Grafen.

 

Lyra versteht plötzlich die grausame Logik der Wächterin. Das Siegel ist kein Schlüssel, der mit Liebe aufgesperrt wird. Es ist ein magischer Verschluss, der die Leidenschaft - die Quelle des Fluches - selbst als Öffnungsmechanismus nutzt.

 

Wahre Leidenschaft kann es befreien.

 

Das bedeutet nicht die Erinnerung an die Liebe. Es bedeutet die reine, entfesselte, schmerzhafte, verzweifelte Leidenschaft, die den Grafen einst antrieb und die Fenris dazu brachte, seine Bestimmung hier zu finden. Die Leidenschaft muss aktiv sein, brennend, und in diesem Moment in Lyras Körper existieren.

 

Das Siegel ist ein Altar des unstillbaren Begehrens.

 

Lyra blickt auf das dunkle, gewaltige Bett, das über ihr thront. Das letzte, was sie in dieser Situation wollte, war Intimität. Aber sie erkennt, dass sie Fenris’ wahre Natur hier befreien muss, indem sie das erotische Versprechen des Grafen erfüllt und entweiht.

 

Um das Siegel zu brechen, muss Lyra nicht nur ihre Liebe bekennen, sondern ihre wildeste, verzweifeltste Leidenschaft in diesem verfluchten Bett entfachen, um die Träne des Verlangens im Siegel zu aktivieren.

 

Lyra erkennt die grausame Wahrheit: Das Siegel muss durch eine körperliche, magisch geladene Entladung aktiviert werden. Sie kann nicht warten. Jeder Augenblick, den Fenris als gefangene Bestie in der Wildnis verbringt, ist eine Qual.

 

Sie greift in die Tasche des Gehrocks und zieht ein kleines, scharfes Messer hervor, das Fenris immer bei sich trug. Die Dornen auf dem Siegel - die Symbole des Schmerzes - geben ihr einen Hinweis. Sie muss die Formel mit ihrer eigenen Essenz abschließen.

 

Mit fester Entschlossenheit ritzt sie sich leicht in die Innenseite des Handgelenks. Ein dünner, scharfer Schmerz. Dunkelrotes Blut perlt sofort hervor, der Geruch ist metallisch und intensiv.

 

Sie presst das blutende Handgelenk auf die Träne des Verlangens im Siegel.

 

„Im Schmerz des Verlangens! Im Blut der Liebe! Brich den Pakt!“, flüstert Lyra, ihr Atem stockt.

 

Das Blut bildet einen glänzenden Fleck auf dem Stein. Doch es passiert nichts. Keine Hitze, kein magisches Knistern. Das Siegel bleibt stumm, kalt und versiegelt. Es scheint, als sei das Blut einer Sterblichen nicht die magische Währung des Paktes.

 

Lyra wischt das Blut ab, ihr Herz pocht hart vor Enttäuschung. Der Schmerz war real, aber die Reaktion blieb aus.

 

Die Dornen und das Blut waren nur ein Teil der Formel. Jetzt bleibt nur noch die ultimative Tat der „wahren Leidenschaft“ im Altar der Lust selbst.

 

Lyra steht auf und reißt sich Fenris’ Gehrock vom Leib. Das schwere Tuch fällt geräuschvoll auf den Boden, als würde der letzte Schutz vor der Realität fallen. Sie steht in ihrem schwarzen, engen Pullover und Jeans. Es fühlt sich an, als würde sie sich entblößen - nicht für einen Liebhaber, sondern für eine magische Notwendigkeit.

 

Sie klettert auf das gewaltige, dunkle Bett. Die Matratze ist tief und umhüllt sie sofort, als wäre sie dafür gemacht, leidenschaftliche Geheimnisse zu verschlingen.

 

Lyra legt sich auf den Rücken und beginnt, ihre tiefsten Erinnerungen an Fenris, die wildeste, unkontrollierbarste Lust heraufzubeschwören, die sie je geteilt haben. Sie visualisiert seine stählernen Muskeln, seine ungeduldigen Hände, das Grollen seiner Stimme, die die Kontrolle über sie forderte. Sie versucht, sich in jenen erotischen Rausch zu versetzen, der die Essenz des Grafen und nun auch ihres Bundes war.

 

Sie ächzt, stöhnt und windet sich in der tiefen Matratze, ihre Hände vergraben sich im dunklen Linnen. Es ist ein Akt der verzweifelten, einsamen Ekstase, erzwungen, um einen magischen Mechanismus auszulösen.

 

„Ich begehre dich! Hier! Jetzt! Brich es auf, du verdammter Stein! Nimm meine Leidenschaft!“, presst Lyra hervor, die Hitze steigt in ihrem Körper auf, aber es ist eine künstliche, schmerzhafte Wut.

 

Sie fällt keuchend zurück auf die Kissen. Der Akt der gewollten, magischen Intimität bleibt leer. Das Bett schweigt. Das Haus schweigt.

 

Lyra starrt auf das geschnitzte Wappen über dem Bett - die dunkle Krone des Grafen. Eine eisige Erkenntnis durchfährt sie, kälter als jeder Windhauch.

 

Die Wächterin.

 

„Sie hat es verändert“, flüstert Lyra. „Die Hexe hat gewusst, dass der Schlüssel die Leidenschaft ist, und sie hat ihn verflucht.“

 

Die Wächterin hat das Siegel nicht einfach zurückgelassen, um es leicht brechen zu lassen. Sie hat eine zusätzliche magische Schicht über den ursprünglichen Pakt gelegt. Der Pakt des Grafen ist nicht mehr durch einfache, wenn auch starke, Leidenschaft zu lösen.

 

Die Hexe muss einen zweiten Fluch auf das Bett oder das Siegel selbst gelegt haben, einen Schutzmechanismus, der verhindert, dass die Liebe Fenris’ ihn so einfach erlösen kann. Lyra hatte ihre stärksten Waffen - Blut und Verlangen - eingesetzt, und beide sind verpufft.

 

Sie muss Samuel erneut kontaktieren. Er war kein Feind, sondern der einzige Zeuge mit Wissen über die magischen Manipulationen der Wächterin.

 

Lyra gleitet vom Bett herab, ihre Muskeln schmerzen von der verzweifelten, nutzlosen Anstrengung. Die Leere des gescheiterten Rituals ist beinahe physisch. Das Siegel ist stärker, als sie angenommen hatte. Die Wächterin hat ihren Zug gemacht.

 

Sie bückt sich und zieht Fenris’ Gehrock wieder an. Es ist ein Akt der Wiederherstellung; das schwere Tuch legt sich um sie, warm und vertraut, und gibt ihr sofort ein Gefühl von Entschlossenheit und Schutz zurück, das die fehlgeschlagene Magie ihr genommen hatte. Sie knöpft es bis zum Kinn zu, schluckt den Geruch von Rauch und Zedernholz ein, die Essenz des Mannes, den sie retten muss.

 

Ihre Blicke wandern zum Fenster.

 

Sie geht zum Fenster, zieht einen Vorhang einen Spalt auf. Der Himmel draußen ist jetzt in einem tiefen, samtigen Schwarz gehalten, das nur von einem grauen Dunstschleier über den Straßen Rosevils gemildert wird. Die Dunkelheit ist vollständig und undurchdringlich. Es ist tiefe Nacht.

 

Lyra tritt an das Fenster, ihre Handflächen pressen sich gegen das kalte Glas. Sie scannt die verwinkelten Gassen und die schattenreichen Bäume, die das Anwesen umgeben.

 

In ihrem Herzen brennt eine heiße, irrationale Hoffnung. Fenris ist ein Jäger, ein Beschützer. Auch wenn er nun in der verfluchten Form eines Tieres gefangen ist, auch wenn sein Verstand von der Bestie überschattet wird - seine ureigenste Pflicht bleibt sie. Er würde nicht weit gehen.

 

Er muss in der Nähe sein.

 

Lyra presst ihren Körper fest gegen den Rahmen und lässt die Dunkelheit ihre Augen füllen. Sie sucht nach einer Bewegung, einem Schatten, einem Echo seiner mächtigen Präsenz. Sie denkt an die grünen Augen, die sie kurz vor seiner Flucht gesehen hatte - Augen voller Qual und Liebe.

 

Sie spricht, ohne die Lippen zu bewegen, direkt in die verlängerte Nacht hinein, eine stumme, intime Beschwörung.

 

„Bist du da, Fenris? Ich weiß, du kannst nicht kommen. Aber ich hoffe, du bist nah genug, um zu wissen, dass ich nicht aufgebe. Du musst stark bleiben. Ich habe deinen Gehrock an. Er riecht nach dir. Ich spüre dich… Bitte, sei hier. Ich brauche dich als meine Wache.“

 

Die Gassen bleiben leer und still, nur das Rauschen des Windes zieht durch die gottverlassenen Stadt. Sie sieht nichts, fühlt aber eine gesteigerte, prickelnde Anspannung in der Luft. Ein instinktives, tiefes Wissen als Jägerin ihrer selbst: Sie ist nicht allein.

 

Die Dunkelheit draußen mag ruhig erscheinen, aber Lyra ist sich sicher, dass ein Paar grüner Augen sie aus den Schatten beobachtet. Fenris ist ihre unsichtbare Wache, der gefangene Wolf, der sein Territorium um sie schützt.

 

Die unsichtbare Gewissheit, dass Fenris draußen lauert, ist stärker als jeder logische Rat. Lyra kann das Warten nicht ertragen. Sie trägt seinen Gehrock - sie ist bereits in seiner Welt, in seiner Dunkelheit.

 

Sie löst sich vom kalten Fensterglas und geht zur Haustür. Das Schloss klickt leise. Lyra tritt auf die kleine Veranda, hüllt sich fest in das schwere Tuch des Gehrocks und scannt die schattenreiche Straße.

 

Die Luft ist kühl, feucht und riecht nach Laub und Nacht. Es ist die perfekte Tarnung für ein Tier. Lyra geht langsam die wenigen Stufen hinunter und bleibt am äußersten Rand des schmalen Lichtkegels stehen, der aus dem Flur fällt.

 

Sie atmet tief durch, um den Geruch zu fangen, und dann, ganz plötzlich, sieht sie ihn.

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite, verschmolzen mit den tiefen Schatten eines alten Kastanienbaumes, ist eine unnatürlich große, dunkle Silhouette.

 

Es ist Fenris.

 

Er ist riesig, sein Körper ist schwarz wie Pech, und seine Kontur bricht die normalen Linien der Dunkelheit. Er ist in Lauerstellung, sein Kopf ist leicht gesenkt, aber Lyra spürt, dass seine grünen Augen auf sie gerichtet sind - scharf, aufmerksam und voller der alten, wilden Intensität, die sie so gut kennt. Er ist das perfekte, gefährliche Raubtier, gefangen in der Hülle seines Fluches.

 

Lyras Herz schlägt einen wilden, freudigen, verzweifelten Rhythmus. Die Angst ist sofort da, aber sie wird von einer überwältigenden Welle der Liebe und des Verlangens weggespült. Sie muss ihn sehen. Sie muss diese Nähe spüren.

Sie überlegt nicht lange. Alle Vernunft, die ihr Samuel oder die Wächterin hätten predigen können, zerbricht unter dem unbändigen Drang ihrer Seele.

 

Lyra setzt sich in Bewegung.

 

Sie überquert die Straße in schnellen, entschlossenen Schritten, der Gehrock fliegt um ihre Beine. Sie ignoriert das Risiko, ignoriert, dass dies ein unberechenbares, ungezähmtes Tier ist, dessen Stärke sie in Stücke reißen könnte.

 

„Fenris!“, flüstert sie, kaum hörbar.

 

Als sie sich nähert, spürt Lyra die kalte, magische Aura der Verwandlung. Das Tier knurrt leise, ein tiefes, kehliges Geräusch, das in der menschlichen Brust entstanden ist, aber jetzt durch die Kehle des Wolfes geformt wird. Es ist ein Warnlaut, aber auch ein Erkennungszeichen.

 

Lyra bleibt zwei Schritte entfernt stehen. Sie blickt in die leuchtend grünen Augen der Bestie. Es sind die Augen ihres Geliebten, voller verzweifelter Sehnsucht und dem instinktiven Kampf gegen die neue, aufgezwungene Natur.

Sie streckt langsam, vorsichtig eine gehandschuhte Hand aus - die Hand, mit der sie gerade versucht hat, das Siegel zu brechen. Ihre Geste ist eine flehende Bitte um Intimität, eine Huldigung an seine neue, dunkle Form.

 

„Lass mich dich berühren“, haucht Lyra. „Nur eine Sekunde. Ich habe dich so vermisst.“

 

Der schwarze Wolf spannt seine gewaltigen Muskeln an. Er macht einen kleinen, fast schmerzhaften Schritt zurück, als würde ihn ihre Nähe foltern. Das Knurren wird lauter, eine Mischung aus Trieb und Ablehnung. Er will sie berühren, aber er fürchtet, sie zu zerreißen.

 

Die Luft zwischen Lyra und der Bestie knistert vor roher, unkontrollierter Spannung. Das tiefe Knurren des Wolfes ist ein Schmerzenslaut der Ablehnung, aber in seinen grünen Augen lodert ein verzweifeltes, ungestilltes Verlangen, das Lyras Seele erkennt. Er kämpft gegen den Trieb, er will nicht fliehen. Er will sie.

 

Lyra wartet nicht auf seine Erlaubnis. Sie hat die dunkle Romantik dieser schmerzhaften Intimität schon immer verstanden. Sie schiebt ihre Hand vorsichtig, aber bestimmt vorwärts, ignoriert die gespannten Muskeln und die gebleckten, gefährlichen Zähne.

 

Ihre behandschuhte Hand berührt schließlich das dichte, pechschwarze Fell seiner Schulter.

 

Der Augenblick der Berührung ist ein elektrischer Schock von fremder Kälte und vertrauter Hitze. Lyra spürt die gewaltige, unnatürliche Stärke des Wolfes; die Härte seines Körpers unter dem Fell ist wie Eisen und Magie. Es ist nicht das weiche, vertraute Fleisch Fenris’, sondern das perfekte Werkzeug der Wächterin.

 

Doch unter der Kälte der Verwandlung spürt Lyra eine brennende Wärme - die unveränderte Seele ihres Mannes. Es ist, als würde sie direkt seinen unbändigen Schmerz berühren, die Qual seiner gefangenen, männlichen Lust, die sich nun in einer tierischen Form manifestiert. Es ist die leidenschaftlichste, traurigste Berührung, die sie je geteilt haben. Lyra presst ihre Hand tiefer in das Fell, eine stille Bestätigung ihres Bundes: Du bist immer noch mein, egal in welcher Form.

 

Als Lyras Hand sein Fell berührt, durchzuckt Fenris ein Schmerz so scharf wie eine Wunde und zugleich eine Ekstase so überwältigend, dass es ihm fast das Knurren abreißt. Die Kälte der Verwandlung wird durch die Hitze ihrer Berührung sofort gebrochen.

 

Er riecht Lyra: Zedernholz, Blut von dem Ritual und der süße, berauschende Duft ihrer Haut. Es ist der Geruch seiner Heimat, der Geruch seiner Begierde. Die Berührung ist eine qualvolle Erinnerung an die Nächte in dem Bett, in dem er sie so leidenschaftlich begehrte.

 

Der instinktive Trieb des Wolfes befiehlt ihm, diesen warmen, wehrlosen Körper zu dominieren und zu schützen, aber die menschliche Liebe in seinen grünen Augen zwingt ihn zur stählernen Regungslosigkeit. Er hält den Atem an, zittert leicht unter ihrer Hand. Er könnte sie jetzt an sich ziehen, sie mit seiner neuen Stärke überwältigen, sie lieben, bis der Wald bebt - aber er würde sie verletzen.

 

Plötzlich reißt Fenris sich mit einem gequälten, tiefen Aufheulen los. Das Geräusch ist nicht mehr nur Knurren, es ist ein tierischer Schrei der Verzweiflung. Er kann es nicht ertragen. Die Intensität ihrer Nähe, die sie durch den Gehrock und die Nacht geteilt haben, ist eine zu große Qual für seine gefangene Seele.

 

Er dreht sich um. Der riesige, schwarze Körper löst sich in einer pfeilschnellen Bewegung von den Schatten. Mit wenigen, geräuschlosen Sprüngen verschwindet er in der dunklen Wildnis hinter den Häusern.

Lyra bleibt allein auf dem kalten Pflaster zurück, ihre Hand brennt noch immer von der Berührung seiner magischen Kälte. Sie hat ihn berührt. Es war real.

 

Sie muss zurück ins Haus und Samuel kontaktieren. Der Pakt ist durch einen zweiten Fluch blockiert. Sie braucht das Wissen des Überlebenden. 


Die Flucht ist eine verzerrte Ekstase.

 

Fenris rennt nicht - er explodiert förmlich aus dem Schatten des Baumes. Sein riesiger, schwarzer Körper wird von einem elementaren, unbändigen Schub angetrieben, der ihm von der Wächterin aufgezwungen wurde. Die Straße, die Häuser, das Pflaster - alles verschwimmt in einem verschwommenen, wilden Tunnel. Er sucht die schützende, verschlingende Dunkelheit des Waldes, das einzige Terrain, das seiner neuen Form gerecht wird.

 

Jeder Satz seiner mächtigen Wolfsbeine trägt ihn tiefer in die Wildnis der Nacht, aber er kann dem Schmerz nicht entkommen, den Lyras Berührung ausgelöst hat.

 

Ihre Hand.

Die kurze, zarte Berührung ihrer gehandschuhten Finger auf seinem Fell brennt sich in seine Seele wie ein brennendes Brandzeichen. Das Gefühl ist dual und grausam: Es ist der süße Hauch der Erlösung und gleichzeitig der eisige Beweis seiner absoluten Gefangenschaft.

 

Lyras Geruch - der Duft von Zedernholz, Blut, und ihre brennende, unerschütterliche Liebe - ist überall. Er ist in seine Wolfsnase eingebrannt, eine parfümierte Folter, die ihn in den Wahnsinn treibt.

 

Ich bin dein, Fenris.

 

Er erinnert sich an die verzweifelte Geste ihrer ausgestreckten Hand. An die furchtlose Hingabe in ihren Augen. Diese Frau, so zart und doch so unendlich stark, hatte sich ihm genähert, dem ungezähmten, gefährlichen Biest, und hatte um eine Berührung gebeten.

 

Die Berührung war reinste Lust und reinster Schmerz. Die seelische Verbindung zwischen ihnen beiden war durch seine neue, tierische Form intensiviert und verzerrt worden. Er hatte gespürt, wie ihr Herz für ihn schlug, wie ihr Verlangen ihn rief, und sein Wolfskörper hatte mit einem rasenden, unstillbaren Trieb geantwortet.

 

Ich hätte dich genommen.

 

Der Gedanke ist eine Wunde. Er weiß, dass er in diesem Zustand keine Kontrolle über die Wildheit hat, die die Rote Mondblume ihm aufgezwungen hat. Hätte er nachgegeben, wäre es keine Zärtlichkeit gewesen, sondern Dominanz, getrieben von der tierischen Gier der Wächterin. Er würde sie nicht mit Liebe verzehren, sondern mit gewalttätiger, magischer Lust.

 

Fenris stößt einen wütenden, stummen Schrei aus, der nur in seiner menschlichen Seele widerhallt. Die Frustration, die er vorhin auf die Bäume entlud, ist nun wieder da, verstärkt durch die Entfesselung der Nähe.

 

Sie hat meinen Gehrock getragen.

 

Das Tuch, das er jetzt an ihr roch, war sein Symbol der Männlichkeit und des Schutzes. Sie trug seine Stärke, um sich ihm zu nähern. Das ist Lyra in ihrer Essenz: Furchtlosigkeit und leidenschaftliche Verzweiflung.

 

Er bricht durch die letzte Baumgrenze und taucht ein in das tiefe, schützende Unterholz. Hier, wo das Licht der Stadt nicht mehr hinkommt, kann er grollen und leiden. Er ist die unsterbliche Bestie, aber er ist auch der gefangene Geliebte.

 

Er muss fern bleiben. Seine einzige Chance, sie zu schützen, ist die absolute Distanz. Er muss seine Wolfsform nutzen, um gegen die Wächterin zu kämpfen, bis Lyra den Pakt bricht.

 

Aber die Erinnerung an ihre Hand auf seinem Fell ist eine glühende Gewissheit: Sie wird nicht aufgeben. Und er wird warten, gequält und wild, bis sie das Siegel befreit und ihn zurück in seine menschliche, leidenschaftliche Form zwingt.

 

Die rasende Flucht führt Fenris tief in das Herz des Waldes. Seine ungeheure Geschwindigkeit ist eine Notwendigkeit; er muss die elektrische Ladung der Nähe zu Lyra verbrennen, er muss die erotische Folter der Erinnerung an ihre Berührung in reine, physische Erschöpfung verwandeln.

 

Er läuft ziellos, aber die Wildnis ist ihm jetzt eine instinktive Heimat. Sein Körper, eine Maschine aus schwarzem, glänzendem Muskel und unaufhaltsamer Kraft, pflügt durch das Unterholz.

 

Seine menschlichen Gedanken sind eine quälende, klare Stimme in dem Tierkopf.

 

Lyra. Ihr Name ist ein heiser Schrei in seiner Kehle. Er riecht sie überall - in seinem Atem, auf seinem Fell. Die Erinnerung an ihre Hand, so sanft und doch so fordernd, lässt seine Krallen in den weichen Waldboden graben. Er ist ein Sklave des Triebs der Wächterin, aber er ist auch der leidenschaftliche Liebhaber, der in diesem Körper gefangen ist. Er muss diese Form beherrschen, bevor er sie wieder berühren kann.

 

Er weiß, sie wird den Pakt suchen. Das Wissen gibt ihm einen dunklen, entschlossenen Sinn. Er muss sich um sie herum als Wache bewegen, ein unsichtbarer, unheilvoller Schatten, der die Hexe fernhält, während seine Geliebte die Erlösung vorbereitet.

 

Inmitten seiner rastlosen Jagd bemerkt Fenris, dass sich seine unbewusste Route verändert hat. Er wird von einem magischen Magnetismus gezogen, den er nicht kontrollieren kann. Sein Instinkt führt ihn an den Ort seiner Verdammnis.

 

Er bricht aus dem dichten Wald heraus und gelangt an den Rand der verfluchten Lichtung.

Er hält abrupt inne. Ein wütendes, tiefes Knurren rollt ihm aus der Kehle.

Die Lichtung ist nicht mehr der betörende, friedliche Ort des Verrats. Die kleine, offene Fläche, in deren Mitte die Rote Mondblume einst den leuchtenden Staub freigesetzt hatte, ist jetzt hermetisch abgeriegelt.

 

Hohe, dicke Dornenranken, schwarz wie verbranntes Holz und gespickt mit langen, magisch wirkenden Stacheln, haben die gesamte Lichtung umwunden. Die Ranken sind nicht natürlichen Ursprungs; sie winden sich in einem dichten, unheilvollen Zaun, der über zwei Meter hoch ist. Sie sind ein lebendiges, schmerzhaftes Bollwerk. Niemand kann diese Mauer unversehrt durchdringen.

 

Fenris erkennt die Handschrift sofort: Die Wächterin.

Nachdem sie ihn in den Wolf verwandelt hat, hat sie diesen Ort ihrer Macht versiegelt. Vielleicht, um die restliche magische Essenz der Mondblume zu schützen, oder vielleicht, um einen Fluch zu bewahren, den sie dort installiert hat.

 

Ein eisiger Wind streicht über die Dornen und trägt einen kalten, leichten Hauch von verfluchter Magie.

Fenris starrt auf die dunkle Barriere. Die Wächterin hat ihre Fesseln an ihn gelegt, und jetzt hat sie ihren Altar versiegelt. Er kann hier nichts tun. Seine Mission liegt nicht im Angriff auf die Dornen, sondern im Schutz der Frau, die das Siegel des Paktes sucht.

 

Mit einem letzten, tiefen, animalischen Grollen wendet sich Fenris ab. Die Wut ist gezügelt. Er weiß jetzt, wo er hingehört: Zurück in die Schatten um das Haus.