Lyra & Fenris - Moonbound    Kapitel 13

Der Ruf im Rauch 


Während Fenris von der Wächterin gezwungen wird, Abstand zu halten und seine Liebe in der Ferne zu bewachen, bricht Lyra im Haus unter der Last von Verlust und Sehnsucht zusammen. Zwischen Drohung und Hingabe offenbart sich eine grausame Wahrheit: Nähe bedeutet Schmerz, Distanz bedeutet Gefahr. Als Lyra erfährt, dass nur eine umgekehrte, alles verzehrende Leidenschaft den Fluch brechen kann, wird das Haus selbst zum Leuchtfeuer - ein stiller Ruf aus Rauch, Verlangen und unerschütterlicher Bindung, der den Wolf nach Hause führen soll.


Fenris verlässt die versiegelte Lichtung und wendet sich ab. Die gezügelte Wut treibt ihn nun mit einem neuen, fokussierten Ernst voran. Er ist der beschützende Schatten, der zu seinem Territorium zurückkehrt.

 

Er durchquert den Wald mit der geräuschlosen Effizienz eines Raubtiers, das seine Beute kennt. Die Bäume ziehen schnell an seinem schwarzen Fell vorbei. Er ist nur noch wenige hundert Meter vom Waldrand entfernt, wo die Vororte Rosevils beginnen, als die Luft plötzlich stockt.

Ein eisiger, magischer Schock friert die Bewegung in seinem mächtigen Körper ein.

Fenris hält abrupt inne. Seine grünen Augen schießen auf, die Bestie in ihm knurrt, aber der Mensch in ihm erkennt die Macht.

 

Direkt vor ihm, in einer kleinen Mulde, wo das Mondlicht kaum den Waldboden erreicht, steht sie: Die Wächterin.

Sie manifestiert sich in ihrer ältesten, unheimlichsten Form. Eine Frau, deren Gestalt wie aus altem, gefaltetem Pergament gefertigt ist. Ihr Gesicht ist ein Schatten, ein leeres, dunkles Oval, das keine Augen, keine Lippen besitzt – nur eine Lücke der Ewigkeit. Sie stützt sich auf einen zerfurchten, knorrigen Holzstab, der an seinem Ende schwache, unheilvolle Funken sprüht. Sie strahlt eine kalte, unerbittliche Macht aus, die Lyras bloßes Erschrecken im Archiv wie ein Kinderwitzen erscheinen lässt.

 

Fenris knurrt tief und kehlig. Der gequälte Mann in ihm hasst sie, aber die verfluchte Wolfsform ist an sie gebunden. Er kann nicht fliehen, er kann nicht angreifen. Er ist gezwungen, still zu stehen. Die Wächterin bewegt sich nicht. Ihre Stimme, ein kaltes, zischendes Flüstern, das direkt in Fenris’ Verstand dringt, ist voller bitterer Enttäuschung.

 

„Ich hatte gehofft, der Fluch der Mondblume hätte deine animalische Natur genügend gefestigt, Wolf. Aber du bist immer noch der unverbesserliche Narr des Grafen. Du suchst die Nähe deiner sterblichen Gefährtin.“

 

Das leere Gesicht wendet sich leicht, als würde sie die Spuren von Lyras Berührung auf seinem Fell erkennen. Das Flüstern wird schärfer, durchdrungen von kalten Spott und magischer Drohung.

 

„Ich habe gespürt, wie du dich an die Grenzen deines Territoriums geschlichen hast. Ich habe ihre Berührung gespürt. Sie trug deinen Geruch, Fenris. Du hast dir eine sanfte Berührung erlaubt, wo nur gehorsame Wildheit sein sollte.“

 

Die Wächterin tippt mit dem Holzstab hart auf den Waldboden. Die Funken sprühen kalt auf.

 

„Du bist jetzt mein Jäger. Deine Bestimmung ist Ewigkeit in der Form des Tieres, bis ich dich rufe, nicht sentimentalen Trost bei einer Frau. Wenn du diesen Akt der Selbstsucht wiederholst - wenn du versuchst, dich ihr zu nähern, wenn du dich von ihr berühren lässt - dann wirst du die wahre Grausamkeit dieses Paktes kennenlernen.“

 

Ihre Drohung ist explizit und schrecklich.

 

„Ich werde deine Form nicht ändern, Wolf. Aber ich werde dir Schmerz zufügen, der deine Seele brennt und deine Bestimmung verstümmelt. Ich werde ihre Qual an dich binden, und du wirst in ihrer Nähe leiden, bis du dich freiwillig von ihr abwendest. Ist das klar, du verfluchte Bestie?“

 

Fenris zwingt sich zu einem tiefen, widerwilligen Senken des Kopfes. Ein schmerzhaftes, erzwungenes Zeichen der Unterwerfung. Er hasst diese Geste, aber die Macht der Wächterin hält seine Muskulatur gefangen.

 

Die Wächterin lächelt - eine leere, furchtbare Geste im Schatten ihres gesichtslosen Ovals.

 

„Gut. Lauf nun. Und bleib fern von ihr. Deine Aufgabe ist die Wache, nicht die Liebe.“

 

Mit einem letzten, eisigen Zischen löst sich die Wächterin auf. Die kalte Magie weicht, und Fenris ist wieder frei, aber seine Seele ist mit neuem Schmerz versiegelt. Er weiß, dass die Wächterin das ernst meint.

Er muss Lyra jetzt noch vorsichtiger beschützen - aus der Distanz.

 

Fenris steht still, seine Wolfsform brodelt vor unterdrückter Wut und neuem Schmerz. Die Drohung der Wächterin ist klar: Nähe zu Lyra bedeutet jetzt Qual. Er ist gezwungen, Distanz zu halten, um sie nicht durch seinen eigenen Schmerz zu gefährden.

 

Er wendet sich ab und nimmt den Weg zurück in Richtung Rosevil, aber nicht, um zum Haus zurückzukehren. Er muss seine Präsenz an einem weiter entfernten Punkt verankern, von dem aus er die Bewegungen der Wächterin besser beobachten kann, ohne Lyras Nähe zu suchen. Er wählt die ältesten, unbewohntesten Ecken der Stadt.

Doch er kann nicht gehen, ohne ihr ein Zeichen zu hinterlassen. Ein Signal, das nur sie verstehen wird, ein flüchtiges Versprechen seiner unveränderten Liebe.

 

Fenris bewegt sich nun langsamer, konzentriert. Er ist nicht mehr in der Raserei der Flucht, sondern in der Kaltblütigkeit des taktischen Jägers.

Er erreicht einen markanten Punkt am Waldrand: ein alter, verwitterter Steinsockel, der einst eine Madonnenstatue trug und nun verlassen unter einer Eiche steht. Hier, wo der Schatten tief ist, hält er an.

Mit seiner gewaltigen Schnauze und den scharfen Zähnen - Werkzeuge der Zerstörung, die er nun für eine Botschaft nutzen muss - ergreift er vorsichtig einen dicken, rissigen Ast, der unter der Eiche liegt. Er trägt ihn zum Steinsockel.

 

Fenris legt den Ast auf den Sockel und beginnt, mit seiner Kralle in die rissige Rinde zu schnitzen. Es ist ein mühsamer, fast schmerzhafter Prozess, da seine Bestienglieder nicht für solch feine Arbeit gemacht sind. Aber die Entschlossenheit des Mannes in ihm überwindet die Form des Wolfes.

Er schnitzt drei einfache, tiefe Linien in das Holz, die Lyra sofort erkennen würde:

 

Ein Pfeil, der vom Wald weg in die Richtung der alten Stadt zeigt.

Ein Herz, das hastig, aber erkennbar in die Mitte geschnitzt ist.

Ein grober Umriss des Wolfskopfes.

 

Die Nachricht ist brutal klar und unendlich zärtlich:

Ich bin weg. Ich liebe dich. Ich bin der Wolf, aber ich beschütze dich aus der Distanz.

 

Fenris tritt zurück und betrachtet sein Werk. Das Zeichen der Liebe liegt offen auf dem kalten Stein, geschützt durch die tiefe Dunkelheit der Nacht. Er hat der Wächterin gehorcht, indem er sich von ihrem Haus entfernt, aber er hat sie betrogen, indem er Lyra einen Code der Treue hinterlassen hat.

 

Mit einem letzten, langen Blick auf die Richtung des Hauses, wo er weiß, dass sie wartet und seinen Gehrock trägt, verschwindet Fenris in den dunkelsten Gassen der alten Stadt. Die Jagd hat begonnen, und er ist jetzt ihr ferner, leidenschaftlicher Schatten.


Lyra zieht sich aus dem Flur der Enttäuschung zurück, die Kälte des Steins brennt noch auf ihrer Hand. Die gescheiterte Magie des Bettes bedeutet einen tödlichen Stillstand. Sie weiß, dass sie Samuel kontaktieren muss, aber jetzt braucht sie einen Moment der wahren, schutzlosen Trauer, fern vom Auge der Wächterin und dem eisigen Zeugen des Grafenbettes.

 

Sie steigt die zweite, schmale Holztreppe hinauf, die in den unfertigen Dachboden führt. Dieser Raum sollte ihr Schlafzimmer werden, bevor das gewaltige Bett des Grafen in der unteren Etage akzeptiert wurde. Weil das Bett zu breit für diesen Aufgang ist, bleibt dieser Raum ein unberührter Kokon ihrer ersten, intensivsten Nacht in Rosevil.

Der Raum riecht  nach altem Holz und intimer Erinnerung.

 

In der Mitte des holzgetäfelten Bodens liegt noch das Nachtlager, das sie damals notdürftig hergerichtet haben: eine dicke, schwarze Wolldecke und zwei schwere, dunkle Kerzen auf dem Boden, umgeben von einem Kreis geschmolzenen Wachses.

 

Lyra lässt sich in das Halbdunkel sinken und zündet die Kerzen mit einem langen Streichholz an. Das flackernde, weiche Licht beleuchtet die Szene und verwandelt den Raum in einen temporären Schrein.

Ihr Blick fixiert die Decke. Sie liegt noch genauso zerwühlt da, wie sie sie damals zurückgelassen haben. Die Decke ist ein geologisches Zeugnis ihrer ersten, wilden, verzweifelten Lust in diesem verfluchten Haus. Dort sind noch die Abdrücke ihrer Körper, die Spuren ihres Kampfes und ihrer Hingabe zu erkennen. Es ist ein unausgesprochenes Bekenntnis der Gewalt der Liebe.

 

Die Härte und die Entschlossenheit, die Fenris’ Gehrock ihr gerade noch verleiht, brechen plötzlich zusammen. Der Anblick dieses unveränderten Liebesaltars ist zu viel.

Ein leiser, heiserer Schrei entfährt Lyras Kehle. Die Tränen schießen ihr in die Augen, nicht nur aus Trauer, sondern aus wütender, schmerzhafter Sehnsucht. Sie sinkt auf die Knie und lässt ihren Körper vor dem zerwühlten Lager zusammensacken. Die stille Last des Fluches, der Kampf gegen die Hexe, das Risiko seiner Bestienform - alles bricht über ihr zusammen.

 

Sie streckt die Hände aus und zieht die schwere Wolldecke an sich, presst das raue, kalte Tuch an ihr Gesicht, atmet den schwachen, verlorenen Geruch von Fenris ein, der immer noch darin hängt.

Lyra weint nicht nur, sie schluchzt. Es ist ein körperlicher Akt der Verzweiflung, eine leidenschaftliche Reinigung ihrer Seele. Sie hält die zerwühlte Decke, als wäre sie der letzte Beweis seiner menschlichen Existenz, und ihre Tränen fallen auf den schwarzen Stoff.

 

„Wo bist du, mein Jäger?“, fleht Lyra ins dunkle Licht der Kerzen. „Ich kann das nicht ohne dich. Ich brauche deine Wärme, nicht diesen verfluchten Mantel.“

 

Lyra hält die zerwühlte Decke wie ein totales Relikt in den Armen. Die Schluchzer werden tiefer, lauter, unkontrollierter. Es ist kein stiller Kummer, sondern eine wilde, animalische Trauer, die aus der tiefsten Kammer ihrer Seele bricht. Sie drückt das schwere Tuch fester an ihren Oberkörper, fast so, als könnte sie durch die fremde Faser hindurch die Wärme und Stärke Fenris’ wieder in sich aufnehmen.

 

Ihr Herz schmerzt - nicht metaphorisch, sondern mit einem ziehenden, physischen Schmerz der Verzweiflung und Sehnsucht. Es ist das Wissen, dass er nicht weit entfernt in der Qual der Verwandlung gefangen ist, während sie machtlos in ihrem  Haus kniet.

 

Er muss zurück. Ich muss ihn zurückholen.

 

Dieser Gedanke ist ein glühendes Gelöbnis, das ihre Trauer in eine brennende, entschlossene Energie verwandelt. Sie presst ihr Gesicht in die Decke, ihre Tränen durchnässen den schwarzen Stoff. Sie will, dass dieser Geruch, diese Textur, diese unauslöschliche Erinnerung sie leitet.

Sie wispert, krächzt, fleht in die Decke hinein, ihre Stimme ist rau von der Bitterkeit der Tränen: „Ich finde den Weg, mein Jäger. Ich reiße diesen Fluch auseinander. Wir sind ewig in unserem Verlangen, nicht in diesem fremden Pakt!“

Sie ist völlig in diesem privaten Altar der Not gefangen, in der Hitze der Kerzen und der dunklen Intimität ihrer Erinnerung.

 

Plötzlich, inmitten der Kakophonie ihrer eigenen Verzweiflung, durchbricht ein lautes, ungeduldiges Klopfen die Stille des alten Hauses.

Drei wuchtige, dringliche Schläge hallen durch die Holzkonstruktion, vom Erdgeschoss bis in den Dachboden. Der Lärm ist hart, abrupt und völlig unpassend für die tiefe Nacht.

 

Lyra erstarrt. Die Tränen versiegen sofort. Die Angst schießt in ihr hoch und verdrängt die Trauer. Wer klopft mitten in der Nacht so forciert und unhöflich an die Tür des verfluchten Hauses?

Ist es die Wächterin, die ihre Trauer gespürt hat? Oder ist es Samuel, der seine Rolle als Zeuge nicht länger ertragen kann?

 

Lyra friert in der Bewegung ein, die noch von der Verzweiflung der Tränen geprägt ist. Die drei schweren Schläge an der Haustür haben die Dunkelheit durchrissen und die intime Magie des Dachbodens zerstört.

Sie legt die Decke zurück, der Gehrock ist fest um ihre Schultern geschlungen, und bewegt sich dann lautlos zur schmalen Holztreppe. Sie ist eine Raubkatze in seiner Kleidung. Ihre Füße finden fast geräuschlos die Stufen, die sie hinunter zum Hauptflur führen, wo das Grafenbett auf der einen Seite und die Haustür auf der anderen lauern.

Die Kerzen auf dem Dachboden werfen noch einen schwachen, flackernden Schein, aber der Hauptflur liegt in kalter, absoluter Dunkelheit. Lyra hält den Atem an und horcht.

 

Die Stille nach dem Klopfen ist dicker und schwerer als zuvor. Es ist eine angespannte Leere, die auf eine Reaktion wartet. Lyras Puls hämmert gegen ihre Schläfen.

Dann, durch das massive Eichenholz der Tür gedämpft, hört sie eine Stimme. Sie ist ruhig, freundlich und vollständig unangepasst an die Dunkelheit und die Gefahren Rosevils.

 

Es ist Samuel.

 

„Lyra? Sind Sie noch wach?“, fragt seine Stimme. Sie klingt dringlich und doch kontrolliert, ohne die Panik eines zufälligen Besuchers.

 

Lyra schließt die Augen. Samuel. Ihr instinktives Misstrauen schießt wieder hoch. Er wusste, dass sie ihn nicht begleiten ließ, und er kommt trotzdem zurück, mitten in der Nacht, nachdem das Siegel nicht brach? Das ist entweder verzweifelte Hilfsbereitschaft oder kalkulierte Neugierde.

Sie drückt sich gegen die kalte Wand. Sie will weder die Tür öffnen noch antworten. Sie ist eine Eingeweihte nun, eine Hüterin eines tödlichen Geheimnisses. Das Misstrauen ist ihre einzige Waffe, neben Fenris' Geruch.

 

Doch Samuel scheint ihre zögerliche Anwesenheit zu spüren. Er klopft nicht erneut, sondern spricht leise weiter, direkt an die dicke Tür gerichtet.

 

„Ich weiß, dass Sie mich nicht hereinlassen wollten, Lyra. Aber ich habe gespürt, dass der Pakt sich weigert. Die Wächterin hat Manipulationen vorgenommen, nachdem der Graf verschwunden ist. Ich kann Ihnen erklären, warum Ihre Leidenschaft das Siegel nicht befreien konnte. Bitte, öffnen Sie. Ich bin nicht ihr Werkzeug.“

 

Er spricht den Namen der Hexe nicht aus, aber seine Erklärung bestätigt Lyras bitteren Verdacht. Er wusste genau, was sie getan hatte und dass es gescheitert war.

 

Lyra hält den Atem an. Die Worte Samuels - „Ich habe gespürt, dass der Pakt sich weigert“ - sind ein magischer Schlag ins Gesicht. Woher zum Teufel weiß dieser Mann, was in den intimen, magischen Sekunden unter dem Bett geschehen ist? Er ist ein Zeuge, aber er scheint auch ein Sensor zu sein.

 

Sie atmet tief ein, füllt ihre Lungen mit der kühlen, staubigen Luft des alten Hauses, die nun mit der Intensität ihrer eigenen Angst geladen ist. Sie entscheidet sich für die Konfrontation durch Täuschung.

 

„Das Siegel ist zerstört!“, ruft Lyra zurück, ihre Stimme ist hoch und hart, obwohl sie noch immer durch das Eichenholz gedämpft wird. Es ist eine aggressive Lüge, ein Test seiner allwissenden Präsenz. „Ich habe getan, was nötig war. Der Pakt ist gebrochen! Gehen Sie, Samuel!“

 

Sie wartet, die Hand fest auf dem kalten Holz des Türrahmens, bereit, sich im Notfall zu verteidigen. Sie starrt auf das dunkle Eichenholz, als würde sie durch die Tür blicken und sein geheimnisvolles Gesicht sehen können.

Draußen herrscht eine kurze, scharfe Pause. Lyra hört, wie Samuel leise ausatmet - ein Geräusch, das Trauer und müde Gewissheit vermittelt.

 

„Lyra“, antwortet Samuel, seine Stimme ist nun sehr leise, fast ein Flüstern, aber es trägt eine unbestreitbare Autorität und eine tiefe, uralte Kenntnis. „Wir spielen nicht mehr. Der Pakt des Grafen ist nicht ein einfacher Siegelring, den man zerschlägt. Er ist ein magischer Knoten, gewebt aus Blut, Lust und ewiger Bindung.“

 

Sein nächster Satz ist ein kalter, präziser Stich in Lyras Seele.

 

„Ich spüre, wenn die Hauptmagie Rosevils erschüttert wird. Ich spürte das Fehlen der Erschütterung, als Sie unter dem Bett knieten. Ich weiß, dass Sie die Leidenschaft des Paktes gesucht haben. Und ich weiß, dass Sie scheiterten, weil die Wächterin einen zweiten Fluch über diesen Knoten gelegt hat.“

 

Seine Stimme wird flehend und mahnend zugleich.

 

„Die wahre Leidenschaft, die zur Entsiegelung nötig ist, reicht nicht aus, Lyra. Die Hexe hat sie umgekehrt. Jetzt müssen Sie die Formel der Umkehrung kennen. Sie sind in Gefahr, und der Wolf wird leiden, wenn Sie hier allein bleiben. Öffnen Sie. Ich habe keine Zeit für dieses romantische Misstrauen.“

 

Lyra hält die Luft an. Die Worte Samuels hallen in ihrem Kopf nach: Die Formel der Umkehrung. Ich bin nicht ihr Werkzeug.

 

Sie hat keine Wahl. Der Fluch des Grafen ist zu alt, zu komplex, und die Wächterin hat eine magische Falle gestellt. Fenris’ Schicksal hängt von Wissen ab, das nur ein zweihundertjähriger Zeuge besitzen kann. Das romantische Misstrauen ist ein Luxus, den sie sich nicht leisten kann, nicht während ihr Geliebter in der Wildnis leidet.

 

Mit einem tiefen, resignierten Seufzer, der ihre letzten Reste an Stolz hinwegfegt, greift Lyra nach dem massiven Riegel der Tür. Das Holz ist kalt unter ihrer Hand. Sie schiebt den Riegel mit einem lauten, metallischen Krachen zurück - ein Geräusch, das in der tiefen Stille der Nacht unendlich laut ist.

 

Sie legt die Hand auf den Türknauf und öffnet die schwere Eichentür einen Spalt breit.

 

Im matten Licht des Flurs steht Samuel. Er trägt immer noch seinen eleganten, leicht altmodischen Mantel, aber sein Gesicht ist nun von einem müden Ernst geprägt.

Als er Lyra erblickt, verschwindet der Ernst sofort, und ein sanftes, fast väterliches Lächeln breitet sich auf seinen Lippen aus.

 

„Ich danke Ihnen, Lyra“, sagt Samuel leise. Er tritt nicht sofort ein, er respektiert die unsichtbare Barriere ihrer Not.

 

Sein Blick verweilt auf ihr. Er mustert sie eindringlich, aber ohne jegliche Scham. Er sieht den schweren, schwarzen Gehrock, der ihre schlanke Gestalt umhüllt - die unveränderte Trophäe ihrer Bindung an Fenris. Und dann sieht er ihr Gesicht.

Der dunkle Kajal ist über ihre Wangen zerlaufen, vermischt mit den Spuren getrockneter Tränen. Die gotische Strenge ihres Make-ups ist aufgebrochen, ersetzt durch eine nackte, schmerzvolle Verletzlichkeit.

 

„Sie haben geweint“, stellt Samuel fest, seine Stimme ist leise und ohne Anklage. Es ist eine einfache Feststellung ihrer verlorenen Stärke. „Der Fluch ist brutal, wenn man ihn allein bekämpft.“

 

Er nickt leicht in Richtung des Inneren des Hauses, wo die Dunkelheit des Korridors lauert. „Lassen Sie uns nicht im Türrahmen stehen. Erzählen Sie mir genau, was Sie unter dem Bett gefunden haben, und was Sie empfanden, als das Siegel sich weigerte. Wir müssen die Formel der Umkehrung schnell finden.“

 

Lyra weicht einen Schritt zurück, die schwere Eichentür knarrt protestierend in ihren Angeln, als sie den Spalt weit genug öffnet, um Samuel Einlass zu gewähren. Es ist eine Kapitulation vor der Notwendigkeit, ein riskanter Tanz mit einem Mann, der zu viel weiß. Samuel tritt über die Schwelle, und mit ihm strömt eine Aura von altem Staub und kühlem Wissen in den dunklen Flur.

 

Sie führt ihn nicht in das obere Refugium ihrer Trauer, sondern bleibt im fahlen Licht des Korridors stehen. Der Gehrock von Fenris lastet schwer auf ihren Schultern, ein panzergleicher Schutz, während sie ihn aus tiefliegenden, verweinten Augen beobachtet.

 

„Ich habe das Siegel gefunden“, beginnt sie, ihre Stimme ist rau, gezeichnet von den Schluchzern der letzten Stunde. Sie bricht den Blickkontakt nicht ab, während sie die Worte wie kostbare Giftproben dosiert. „Unter dem Bett. Es ist kalt, Samuel. Kälter als das Haus selbst. Ich habe die Symbole gesehen… die verschlungenen Schlangen ohne Köpfe, den Dornenkranz.“

 

Sie macht eine Pause, ihre Kehle schnürt sich zusammen, als sie an den Moment der gezwungenen Intimität denkt.

 

„Ich habe alles versucht“, gesteht sie leise, und eine bittere Scham mischt sich in ihren Tonfall. „Ich habe mein Blut gegeben, ich habe die Leidenschaft angerufen, die zwischen Fenris und mir brennt. Ich habe mich in dieses Laken gekrallt, bis meine Knöchel weiß waren, und jedes Quäntchen Begehren in diesen Stein fließen lassen.“

 

Sie tritt näher an ihn heran, die Intensität ihres Schmerzes lässt die Luft zwischen ihnen vibrieren.

 

„Aber die Träne im Stein blieb trocken. Es gab kein Echo, keine Wärme. Es fühlte sich an, als würde das Siegel meine Energie nicht nur abweisen, sondern sie einsaugen und ersticken. Es war, als würde eine unsichtbare Hand - ihre Hand - die Verbindung zwischen mir und dem Pakt abwürgen.“

 

Lyra verschränkt die Arme, die Finger krallen sich in den Stoff des Gehrocks. „Sie hat etwas verändert, Samuel. Sie hat den Weg der Leidenschaft korrumpiert. Sagen Sie mir jetzt: Was ist diese Formel der Umkehrung? Wie bricht man ein Siegel, das sich von der Liebe selbst nährt, um sie gegen einen zu verwenden?“

 

Samuel sieht sie schweigend an, sein Blick wandert über ihr zerlaufenes Make-up hin zu dem massiven Bett, das wie ein stiller Altar im Schatten des Nebenzimmers aufragt. In seinen Augen spiegelt sich ein Wissen, das Jahrhunderte der sehnsüchtigen Qual umfasst.

 

Samuel tritt tiefer in den Raum, seine Schritte auf dem alten Parkett sind kaum hörbar, doch seine Präsenz füllt die drückende Stille des Hauses. Er bleibt vor Lyra stehen, so nah, dass sie die kühle Luft spürt, die an seinem Mantel haftet. Seine Augen, die braun und tief wie bernsteinfarbenes Harz leuchten, fixieren sie mit einer unerträglichen Sanftheit.

 

„Sie verstehen es nicht, Lyra“, setzt er an, und seine Stimme vibriert wie die tiefe Saite eines Cellos. „Die Wächterin hat das Siegel nicht einfach nur verschlossen. Sie hat es umgepolt. Sie nutzt die Leidenschaft nicht mehr als Schlüssel, sondern als Treibstoff für den Fluch. Je mehr Sie versuchen, das Siegel mit bloßem Begehren aufzuzwingen, desto fester schnürt sich die Schlinge um Fenris.“

 

Er macht eine Geste in Richtung des dunklen Zimmers, in dem das Bett wie ein lauerndes Ungeheuer thront.

 

„Der Pakt des Grafen basierte auf einer Lüge - auf Lust ohne Seele, auf Besitz ohne Hingabe. Die Wächterin glaubt, dass Fenris jetzt, in seiner Bestienform, nichts weiter ist als ein Instinkt auf vier Pfoten. Sie glaubt, dass Ihre Liebe zu ihm an der Grenze seines Fells endet.“

 

Samuel macht einen Schritt auf sie zu, seine Stimme sinkt zu einem beschwörenden Flüstern herab.

 

„Die Formel der Umkehrung ist kein Zauberspruch. Es ist ein Beweis. Sie müssen dem Siegel - und damit dem Pakt - demonstrieren, dass die Verbindung zwischen Ihnen und Fenris die Grenzen des Fleisches überschritten hat. Das Siegel muss die Frequenz einer Leidenschaft spüren, die so tief geht, dass sie die Bestie erkennt und sie trotzdem begehrt. Sie müssen ihm beweisen, dass Ihr Herz und sein Herz noch immer im selben, sündigen und heiligen Rhythmus schlagen, ungeachtet der Klauen und der Reißzähne.“

 

Lyra spürt, wie eine Gänsehaut über ihren Nacken läuft. Die erotische Schwere seiner Worte legt sich wie ein Schleier über ihre Sinne.

 

„Es reicht nicht, sich nach dem Mann zu sehnen, den er war“, fährt Samuel fort, und seine Augen blitzen gefährlich auf. „Sie müssen die Bestie lieben. Sie müssen die Leidenschaft in das Siegel fließen lassen, während Sie das Tier in ihm akzeptieren. Nur wenn das Siegel erkennt, dass Ihre Seelen unauflöslich verschmolzen sind - dass keine Verwandlung der Welt diesen Kern korrumpieren kann -, nur dann wird die Träne im Stein fließen und der Weg zur Erlösung frei werden.“

 

Er legt ihr eine Hand auf die Schulter, ein seltener Moment der Berührung, der Lyra erzittern lässt. „Sie müssen ihm nahe sein, Lyra. Physisch. Seelisch. In einer Weise, die über das Menschliche hinausgeht. Sie müssen dem Pakt zeigen, dass wahre Liebe keine Form kennt.“

 

Lyra starrt Samuel fassungslos an. Seine Worte dringen wie glühende Nadeln in ihr Bewusstsein. Die Bestie lieben. Nicht den Mann betrauern, sondern das Tier begehren, das er geworden ist. Es ist eine dunkle, fast blasphemische Forderung, die genau den Nerv ihrer ohnehin schon sündigen Leidenschaft trifft.

 

„Ihn als Tier lieben...“, wiederholt sie tonlos, während das Bild von Fenris vor dem Haus, dieses monströse und doch vertraute Wesen mit den brennend grünen Augen, vor ihrem inneren Auge auftaucht. Die Kälte seines Fells unter ihren Fingern, das bebende Grollen in seiner Brust - die Erinnerung daran lässt ihren Puls augenblicklich beschleunigen.

 

Sie tritt einen Schritt auf Samuel zu, die Entschlossenheit kehrt in ihren Blick zurück, auch wenn der Kajal noch immer ihre Wangen wie schwarze Narben zeichnet.

 

„Er war vorhin hier“, gesteht sie mit einem Mal, und ihre Stimme zittert vor unterdrückter Erregung. „Draußen, im Schatten der Kastanie. Ich bin zu ihm gegangen. Ich habe ihn berührt, Samuel. Er hat gezittert unter meiner Hand, als würde er innerlich verbrennen. Er ist geflohen, als könnte er meine Nähe nicht ertragen, aber ich habe gespürt, dass er nicht gehen wollte.“

 

Sie packt Samuel am Ärmel, ihre Finger krallen sich in den feinen Stoff seines Mantels.

 

„Wenn das die Formel ist – wenn ich ihm und dem Siegel zeigen muss, dass meine Leidenschaft vor seinem Fell nicht haltgemacht hat -, dann muss er zurückkommen. Er muss hierher, in dieses Zimmer, an diesen Ort unserer ersten Sünden.“

 

Ihre Augen weiten sich vor einer plötzlichen, brennenden Sorge.

 

„Aber er ist fortgerannt, tiefer in den Wald, als würde ihn etwas jagen, das schlimmer ist als der Fluch selbst. Wie soll ich ihn erreichen? Wie soll ich ihn dazu bringen, diese Schwelle zu überschreiten, wenn er sich selbst vor seiner eigenen Wildheit fürchtet?“

 

Sie ahnt nicht, dass Fenris nicht nur vor seiner Wildheit flieht, sondern vor der grausamen Strafe, die die Wächterin ihm angedroht hat. Sie sieht nur die unendliche Distanz zwischen ihrer menschlichen Sehnsucht und seinem animalischen Exil.

 

Samuel sieht sie lange an, und ein Schatten von tiefem Bedauern huscht über seine Züge. Er weiß um die patrouillierende Hexe, doch er erkennt auch die zerstörerische Kraft von Lyras Hingabe.

 

„Er wird zurückkehren, Lyra“, murmelt Samuel, und seine Stimme klingt nun wie eine dunkle Prophezeiung. „Ein Jäger verlässt sein Revier nie ganz, wenn die Beute sein eigenes Herz ist. Aber Sie müssen ihn locken. Nicht mit Worten, sondern mit dem Ruf Ihres eigenen Verlangens. Sie müssen das Haus zu einem Leuchtfeuer machen, das seine Sinne so sehr betäubt, dass er jede Warnung und jede Gefahr vergisst.“

 

Lyra lässt Samuels Ärmel nicht los; ihre Finger graben sich tiefer in den Stoff, während die Hitze ihres eigenen Blutes in ihr Gesicht steigt. Die Vorstellung, Fenris in seiner tierischen Gestalt zu begehren, hat nichts mit Perversion zu tun - es ist die pure, metaphysische Gier nach seiner Seele, die nun hinter Reißzähnen und Krallen gefangen ist. Es ist die Sehnsucht nach dem Mann, der ihn ausmacht, egal wie die Hülle beschaffen ist.

 

„Ich brenne für ihn, Samuel“, presst sie hervor, und ihre Stimme ist ein tiefes, raues Beben, das den kleinen Flur erfüllt. „Es spielt keine Rolle, dass er jetzt dieses Fell trägt. Wenn ich ihn ansehe, sehe ich Fenris. Ich spüre seinen Hunger, seinen Stolz, seine Dunkelheit. Mein Körper antwortet auf ihn, egal ob er auf zwei Beinen vor mir steht oder als Schatten durch das Unterholz bricht. Jede Faser in mir schreit nach ihm.“

 

Sie tritt so nah an Samuel heran, dass ihre Atemzüge sein Gesicht streifen. Ihre Augen funkeln trotz der Tränenspuren vor einer trotzigen, erotischen Kraft.

 

„Sagen Sie mir, wie ich dieses Leuchtfeuer entzünde!“, fordert sie, und ihre Stimme klingt nun wie die einer Hohepriesterin eines vergessenen Kultes. „Wie locke ich ihn aus der Schwärze des Waldes zurück an meine Seite? Ich will keine sexuelle Schändung dieser Bestie - ich will ihn beherrschen durch Hingabe. Ich will, dass er die Kälte des Fluchs vergisst, weil die Hitze meiner Seele ihn verbrennt. Ich will ihn hier haben, an diesem Siegel, damit er sieht, dass ich vor nichts zurückweiche. Nicht vor ihm, nicht vor der Hexe, nicht vor der Hölle selbst.“

 

Sie atmet schwer, der Gehrock hebt und senkt sich auf ihrer Brust wie ein lebendiges Wesen. Das Verlangen, das sie ausstrahlt, ist fast greifbar, eine physische Last in der stickigen Luft des Hauses.

 

„Was muss ich tun?“, flüstert sie nun, fast gebrochen vor Intensität. „Welches Opfer, welches Signal versteht eine Bestie, die noch immer das Herz meines Geliebten schlägt? Sagen Sie es mir, bevor die Nacht ihn ganz verschlingt.“

 

Samuel betrachtet sie mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Schrecken. Er erkennt, dass Lyra bereit ist, die Grenzen der menschlichen Vernunft zu überschreiten, um ihren Jäger zu binden.

 

„Es gibt einen Weg“, antwortet er schließlich, und seine Stimme klingt nun wie das Knistern von altem Pergament. „Ein Ruf, der nicht über die Ohren, sondern über das Blut wahrgenommen wird. Ein Ruf der essentiellen Sehnsucht.“

 

Samuel tritt einen Schritt zurück, sein Gesicht wird im Halbschatten des Flurs zu einer Maske aus ernsthafter Feierlichkeit. Er deutet mit einer schmalen Hand nach oben, dorthin, wo Lyra gerade noch in ihrer Verzweiflung gekniet hat.

 

„Die schwarzen Kerzen auf dem Dachboden“, beginnt er, und seine Stimme klingt nun wie das ferne Grollen eines heraufziehenden Gewitters. „Sie sind nicht aus gewöhnlichem Wachs. Sie wurden mit dem Harz der alten Kiefern von Rosevil und der Asche vergessener Schwüre gegossen. Sie sind Verstärker der Seele. Wenn Sie ihn rufen wollen, müssen Sie aufhören, wie eine Frau zu trauern, und anfangen, wie eine Gefährtin zu fordern.“

 

Er führt sie die schmale Treppe hinauf. Oben angekommen, im fahlen Schein des Mondes, der durch das Dachfenster bricht, deutet er auf das zerwühlte Lager.

 

„Zünden Sie die Kerzen erneut an“, befiehlt er leise. „Aber tun Sie es nicht für das Licht. Tun Sie es für den Rauch. Die Flamme muss die Essenz Ihres Verlangens verzehren. Sie müssen sich in die Mitte dieses Lagers knien, dort, wo Ihr Geruch und der seine noch in den Fasern der Decke miteinander ringen. Schließen Sie die Augen und rufen Sie sich nicht sein Gesicht ins Gedächtnis, sondern das Gefühl seiner Haut, den Druck seiner Hände, das Brennen seiner Küsse auf Ihrer nackten Schulter.“

 

Samuel tritt in den Schatten des Türrahmens, um ihr den Raum für die aufkeimende Magie zu lassen.

 

„Sie müssen dieses Bild in sich so weit anschwellen lassen, bis es schmerzt. Bis Ihre Haut prickelt und Ihre Lungen nur noch nach ihm verlangen. Wenn diese Hitze ihren Höhepunkt erreicht, atmen Sie den Rauch der schwarzen Kerzen tief ein. Stellen Sie sich vor, wie Ihr Atem, geladen mit dieser erotischen Sehnsucht, durch die Ritzen des Hauses kriecht, über die kalten Straßen fließt und wie ein unsichtbarer, glühender Faden direkt in seine Wolfsnase dringt. Es ist ein parfümiertes Band aus Feuer, dem keine Bestie widerstehen kann. Er wird Ihren Hunger schmecken, Lyra. Er wird spüren, wie sehr Sie ihn in dieser Dunkelheit begehren, und dieser Sog wird stärker sein als jeder Fluch und jede Warnung der Welt.“

 

Lyra spürt, wie ihr Herz gegen die Rippen hämmert. Sie sieht die schwarzen Kerzen an. Sie weiß, dass sie sich in diesem Moment völlig entblößen muss - nicht vor Samuel, sondern vor der Unendlichkeit ihres eigenen Verlangens.

 

„Tun Sie es jetzt“, flüstert Samuel. „Rufen Sie ihn heim. Machen Sie sich zum Leuchtfeuer seines Wahnsinns.“

 

Samuel neigt das Haupt in einer Geste tiefer Hochachtung vor der monumentalen Aufgabe, die Lyra nun bevorsteht. Er erkennt das Flackern in ihren Augen - ein Feuer, das hell genug ist, um die Schatten dieses Hauses zu vertreiben oder sie beide darin zu verzehren.

 

„Ich lasse Sie nun allein, Lyra“, sagt er, und seine Stimme ist kaum mehr als ein sanftes Rascheln im Gebälk. „Diese Art von Ruf duldet keine Zeugen. Er verlangt nach der absoluten, ungeschönten Wahrheit Ihrer Seele.“

 

Er macht einen Schritt zurück auf die oberste Stufe der schmalen Treppe, seine Gestalt verschmilzt fast mit der Dunkelheit des Flurs. Doch bevor er geht, hält er inne und sieht sie noch einmal eindringlich an.

 

„Wenn die Nacht zu schwer wird, wenn der Fluch Sie zu ersticken droht oder wenn… wenn die Bestie in ihm die Oberhand gewinnt und Sie sich fürchten: Ich bin im alten Pfarrhaus am Rande des Friedhofs. Suchen Sie nach dem Licht im Kellerfenster. Dort bewahre ich die Chroniken auf, die uns vielleicht den letzten Schlüssel liefern, sollte dieses Ritual allein nicht genügen.“

 

Mit einem letzten, bedeutungsschweren Nicken wendet er sich ab. Lyra hört das leise Echo seiner Schritte auf der Treppe, dann das ferne, dumpfe Fallen der schweren Haustür in ihr Schloss. Stille legt sich über das Anwesen - eine Stille, die darauf wartet, gefüllt zu werden.

 

Nun ist sie allein mit den schwarzen Kerzen und dem zerwühlten Lager, das noch immer nach ihrer gemeinsamen Nacht duftet.

 

Lyra kniet sich langsam in die Mitte der Decke. Sie spürt die raue Textur unter ihren Knien, die Kälte des Zimmers, die durch ihre Kleidung dringt, und die schwere, vertraute Last von Fenris' Gehrock. Sie greift nach dem Streichholz und entzündet die Dochte.

 

Ein schwerer, süßlicher und zugleich herber Duft beginnt sich auszubreiten, als der Rauch der schwarzen Kerzen dick und ölig aufsteigt. Lyra schließt die Augen. Sie lässt den Gehrock von ihren Schultern gleiten, bis sie nur noch in ihrer dünnen Kleidung dasteht, schutzlos und doch mächtiger als je zuvor.

 

Lyra schließt die Augen, und die Welt um sie herum - das kalte Gebälk des Dachbodens, das ferne Knacken des Hauses, die drohende Präsenz der Wächterin - verblasst zu einer bedeutungslosen Kulisse. Sie lässt sich tiefer in die zerwühlte Decke sinken, die Knie tief in den Stoff gepresst, der noch immer die unsichtbare Topografie ihrer letzten gemeinsamen Stunden bewahrt.

 

Sie beginnt, das Bild in sich zu formen, Stein für Stein, Berührung für Berührung. Es ist kein bloßes Erinnern; es ist eine Beschwörung des Fleisches.

 

Zuerst evoziert sie die Hitze seines Atems. Sie stellt sich vor, wie er dicht hinter ihr steht, seinen Kopf in ihre Halsbeuge gebettet, und wie die warme, ungeduldige Luft seiner Lungen über ihre Haut streift, die sich augenblicklich in einer elektrisierenden Gänsehaut aufbäumt. Sie meint, das raue Streifen seiner Bartstoppeln an ihrer Wange zu spüren - dieses maskuline, fast schmerzhafte Reiben, das ihre Sinne jedes Mal in Brand gesetzt hat. Es ist ein Reiz, der zwischen Zärtlichkeit und purer Dominanz schwankt, eine Markierung, die er mit jedem Kuss auf ihrer Haut hinterlassen hat.

 

Dann lässt sie die Erinnerung an seine Hände zu. Sie spürt die Besessenheit, mit der diese Hände - groß, schwer und fordernd - ihren Körper erkundet haben. Sie fühlt den festen Griff seiner Finger an ihren Hüften, das besitzergreifende Streichen über ihren Rücken, als wollte er jede Kurve ihres Leibes in sein Gedächtnis brennen, um sie nie wieder zu verlieren. Es war eine Erkundung, die keine Grenzen kannte, ein erotischer Eroberungsfeldzug, bei dem er sie nicht nur berührt, sondern regelrecht beansprucht hat.

 

Lyra lässt diese Bilder nicht nur zu, sie füttert sie mit ihrem Schmerz. Die Sehnsucht schwillt in ihrer Brust an, bis sie zu einer physischen Pein wird, einem dumpfen, ziehenden Schmerz tief in ihrem Unterleib und ihrem Herzen. Ihr ganzer Körper beginnt zu beben; ein feiner Schweißfilm bildet sich auf ihrer Stirn, während ihr Atem stoßweise und flach geht.

 

Sie ist nun nichts anderes mehr als ein Gefäß aus purem Verlangen.

 

Jeder Schlag ihres Herzens pumpt diese Sehnsucht in das Blut, und mit jedem Atemzug saugt sie den dicken, harzigen Rauch der schwarzen Kerzen auf. In ihrem Geist verschmilzt der Mann, der er war, mit der Bestie, die er nun ist. Sie begehrt den Kern seines Wesens, die wilde, ungezügelte Kraft, die ihn ausmacht. Sie wirft all ihre Scham, all ihre Angst in dieses innere Feuer, bis die Hitze so unerträglich wird, dass sie meint, innerlich zu verbrennen.

 

In diesem Moment der absoluten Ekstase und Qual stößt sie ihren Ruf aus - lautlos, aber geladen mit der Wucht einer sterbenden Sonne -, direkt hinaus in die Finsternis, dorthin, wo er im Schatten der Bäume auf sie wartet.

 

Komm heim, Fenris, denkt sie, und die Worte sind wie in ihr Fleisch gebrannt. Spüre mich. Rieche mich. Ich bin das Feuer, das dich wärmt, nicht die Kälte, die dich jagt.

 

Sie atmet den dunklen Rauch tief ein, lässt ihn ihre Lungen füllen und presst ihn dann mit der ganzen Kraft ihres Willens nach draußen, in die Nacht hinein, dorthin, wo der schwarze Wolf im Unterholz lauert.