Lyra & Fenris - Moonbound Kapitel 14

Der Preis des Rufes


Als die Verbindung zu Fenris brutal abreißt, folgt Lyra ihrem inneren Ruf bis in den dunklen Wald von Rosevil. Dort findet sie ihn - schwer verletzt, zur Bestie geworden und dem Tod näher als dem Leben. Während die Wächterin zurückkehrt, um ihr Werk zu vollenden, stellt sich Lyra schützend zwischen Hexe und Wolf. Mit nichts als Liebe, Opferbereitschaft und nackter Entschlossenheit trotzt sie der uralten Macht. Doch der Sieg ist fragil - und Fenris’ Leben hängt an einem letzten, verzweifelten Versprechen.


Meilen entfernt, im tiefsten, unwegsamen Dickicht der dunklen Wälder von Rosevil, hält der schwarze Wolf inne. Seine gewaltigen Pfoten graben sich tief in das feuchte Moos, als ein plötzlicher Ruck durch sein Rückgrat fährt, als wäre er von einem unsichtbaren Blitz getroffen worden.

 

Fenris hebt das mächtige Haupt. Die grünen Augen leuchten in der Finsternis wie brennender Schwefel. Sein gesamter Körper spannt sich an, die Muskeln unter dem pechschwarzen Fell zittern in einer ungeduldigen, animalischen Erregung.

 

Zuerst ist es nur eine Nuance im Wind. Doch dann bricht der Ruf über seine geschärften Sinne herein - kein Geräusch, das das Ohr erreichen könnte, sondern eine olfaktorische und metaphysische Lawine.

 

Er wittert sie.

 

Es ist nicht nur der vertraute Duft von Lyra; es ist ihre Essenz im Ausnahmezustand. Der schwere, harzige Rauch der schwarzen Kerzen trägt ihr Verlangen über die Distanz hinweg direkt in seine hochempfindliche Nase. Er schmeckt die Hitze ihrer Sehnsucht, das süße Aroma ihrer Haut, das nun von der Bitterkeit ihrer Tränen und dem Feuer ihrer Hingabe durchtränkt ist.

 

In seinem Wolfshirn explodieren die Bilder, die sie ausgesandt hat. Er spürt das Phantom ihrer Berührung auf seinem Fell, das Echo ihrer Lippen an seinem Hals. Der instinktive Drang der Bestie, zu jagen und zu töten, wird augenblicklich von einem viel älteren, viel mächtigeren Hunger überschrieben: dem Hunger nach seiner Gefährtin.

 

Ein tiefes, donnerndes Knurren entweicht seiner Kehle - ein Laut, der zwischen einer Drohung an die Welt und einem Wimmern der Qual schwankt. Das Band, das Lyra durch das Ritual geknüpft hat, zieht sich um sein Herz zusammen wie eine glühende Kette. Es ist ein erotischer Sog, so gewaltig, dass er die Warnung der Wächterin und den drohenden Schmerz des Fluches einfach hinwegfegt.

 

Fenris stößt ein langes, schmerzvolles Geheul aus, das die Stille der Nacht zerreißt und die Vögel aus den Kronen der alten Bäume schreckt. Es ist die Antwort auf ihren Ruf, ein Versprechen der Rückkehr.

 

Er wendet sich um. Die Pfoten stoßen ihn vom Boden ab, und er wird zu einem schwarzen Schatten, der mit rasender Geschwindigkeit durch das Unterholz pflügt. Er ignoriert die Dornen, die an seinen Flanken reißen, ignoriert die Erschöpfung. Er rennt nicht mehr nur, er jagt nach Hause. Er folgt dem glühenden Faden ihres Begehrens, der ihn unaufhaltsam zurück in das Haus und zurück zu der Frau zieht, die es gewagt hat, die Bestie mit der bloßen Macht ihrer Leidenschaft zu binden.

 

Fenris ist ein Schatten aus Muskeln und Wahn, eine dunkle Naturgewalt, die den Waldrand mit der Geschwindigkeit eines Albtraums ansteuert. Das Licht der Stadt Rosevil schimmert bereits schwach durch die letzten Reihen der knorrigen Stämme. Der glühende Faden von Lyras Verlangen zieht so heftig an seinem Innersten, dass der Wolfskörper fast unter der Last der menschlichen Sehnsucht zerbricht.

 

Doch kurz bevor er den schützenden Saum der Bäume verlässt, bevor er auf den Asphalt treten kann, der ihn zu ihr führen wird, gefriert die Nacht.

 

Ein plötzlicher, unnatürlicher Nebel quillt aus dem Boden hervor, kalt wie Grabesluft. Fenris wirft sich mit aller Kraft in die Eisen, die Krallen graben tiefe Furchen in die feuchte Erde, während er schlitternd zum Stehen kommt.

Direkt vor ihm, materialisiert aus der absoluten Schwärze, steht die Wächterin.

 

Sie wirkt in diesem Moment größer, unheilvoller, als bestünde sie aus dem verdichteten Groll von Jahrhunderten. Ihr gesichtsloses Oval ist auf ihn gerichtet, eine Leere, die alles Licht verschlingt. Sie hebt den alten Holzstab, und in dem Moment, als das knorrige Ende den Boden berührt, bricht eine Schockwelle aus kalter Magie hervor, die Fenris wie eine physische Mauer zurückstößt.

 

„Halt, Bestie!“, zischt ihre Stimme. Es ist kein Laut, der durch die Luft wandert, sondern ein hasserfülltes Echo, das direkt in seinem Schädel widerhallt.

 

Fenris fletscht die Zähne, ein markerschütterndes Grollen vibriert in seinem Brustkorb, und seine grünen Augen blitzen in einem gefährlichen, wahnsinnigen Licht. Er will an ihr vorbei. Er muss zu der Hitze, die ihn ruft, zu dem parfümierten Rauch, der seine Sinne vernebelt. Er ist bereit, diese uralte Erscheinung in Fetzen zu reißen.

 

Doch die Wächterin rührt sich nicht. Sie streckt den Stab aus, dessen Spitze nun in einem kränklichen, violetten Licht pulsiert.

 

„Du wagst es, meinen Befehl zu missachten?“, flüstert sie, und der Spott in ihrer tonlosen Stimme schneidet tiefer als jede Klaue. „Du riechst sie, nicht wahr? Du schmeckst ihren billigen Zauber, ihr verzweifeltes Flehen. Sie lockt dich wie eine läufige Wölfin, und du, der stolze Jäger, kriechst auf allen Vieren zu ihr zurück.“

 

Sie tritt einen Schritt näher, und der Wald um sie herum scheint vor Ehrfurcht zu ersterben.

 

„Ich habe dich gewarnt, Fenris. Jedes Mal, wenn du ihr nachgibst, jedes Mal, wenn du diesen erotischen Sog der Sterblichen über meine Gesetze stellst, werde ich den Pakt enger ziehen. Willst du wirklich sehen, wie sie unter der Last deines Fluches zerbricht? Willst du, dass mein Schmerz sie trifft, weil du zu schwach bist, dich fernzuhalten?“

 

Fenris bäumt sich auf, die Vorderpfoten in der Luft, ein Bild von monströser Wut und unterdrückter Leidenschaft. Er kämpft gegen die unsichtbaren Ketten an, die seinen Körper lähmen, während Lyras Ruf wie ein süßes Gift in seinen Adern brennt. Die Wächterin hält ihn fest, ein Bollwerk aus Eis gegen sein Feuer. 

 

Fenris’ Grollen schwillt zu einem gewaltigen, eruptiven Donnern an, das die Nacht zu zerreißen droht. Lyras Ruf brennt in seinem Innersten, ein glühender, unerfüllbarer Durst, der jede Vernunft in Asche legt. Die Wächterin ist eine Barriere, die er zerstören muss.

 

Er fletscht die Zähne, lange, dolchartige Reißzähne blitzen im schattenhaften Licht auf. Die grünen Augen lodern vor unbändiger Wut und Verzweiflung. Mit einem Satz, der die Erde erzittern lässt, stürmt er auf die gesichtslose Gestalt zu. Sein Körper ist ein Geschoss aus schwarzem Fell und Stahlmuskeln, seine einzige Absicht: die Wächterin in Stücke zu reißen und den Weg zu seiner Geliebten freizukämpfen.

 

Doch bevor seine gewaltigen Krallen die Pergament-ähnliche Gestalt erreichen können, bevor seine Reißzähne nach ihrem gesichtslosen Oval schnappen können, reagiert die Wächterin.

 

Sie hebt ihren gnorrigen Holzstab nicht zum Schlag, sondern rammt ihn hart in den Waldboden. Die violette Spitze pulsiert mit einer schrecklichen, kalten Energie. Ein kreischendes, unheilvolles Geräusch reißt die Stille der Nacht entzwei - ein Geräusch, das wie die Schreie tausender verdammter Seelen klingt.

 

Aus den tiefsten Schatten der Bäume, aus dem Nachthimmel selbst, brechen sie hervor: Eine schwarze, wirbelnde Wolke von Krähen.

 

Es sind keine gewöhnlichen Vögel. Ihre Augen glühen wie rote Kohlen in der Dunkelheit, und ihre Federn sind so schwarz, dass sie das Licht zu verschlucken scheinen. Sie sind die Diener der Wächterin, manifestierte Flüche, geflügelte Dämonen.

 

Mit einem kollektiven, rasiermesserscharfen Geschrei stürzen sie sich auf Fenris.

Die Bestie ist überwältigt. Er brüllt auf, ein Schrei aus tierischer Panik und menschlichem Schmerz, als die Krähen ihn wie eine lebendige, pechschwarze Wolke umhüllen. Ihre Schnäbel sind wie spitze Dolche, ihre Krallen wie eiserne Haken. Sie reißen an seinem Fell, suchen die schwächsten Stellen.

 

Schmerz explodiert in Fenris’ Körper. Er windet sich, er schlägt um sich, seine gewaltigen Kiefer schnappen blind nach den fliegenden Schatten, aber die Krähen sind zu viele, zu schnell. Sie sind eine schwarze, beißende, reißende Masse.

Fleischstücke werden aus seinem Körper gerissen. Der Geruch von Blut - sein eigenes Blut - erfüllt die Luft, ein metallischer Geschmack auf seiner Zunge. Er spürt, wie die Schnäbel in seine Flanken dringen, wie sie Stücke seiner Haut entreißen, wie sie seine Muskeln freilegen. Der Schmerz ist unbeschreiblich, eine brennende, glühende Folter, die ihn von Lyras Ruf ablenken soll.

 

Die Wächterin steht regungslos da, ihr gesichtsloses Oval beobachtet die Szene mit einer befriedigten Kälte. Die Krähen sind ihre Bestrafung, die physische Manifestation ihres Fluches.

 

Fenris bricht zusammen, seine Beine geben unter der schieren Masse des Angriffs nach. Er fällt zu Boden, windet sich, sein Blut tränkt die Erde, aber der Ruf Lyras ist immer noch da, schwächer nun, überschattet von der qualvollen Realität seiner Bestrafung.

 

Fenris liegt zuckend im Unterholz, sein mächtiger Körper ein Schlachtfeld aus zerfetztem Fell und scharlachroten Wunden. Der Dampf seines warmen Blutes steigt in die eiskalte Nachtluft, ein metallisches Opfer an den unerbittlichen Boden des Waldes. Jeder Atemzug ist eine Qual, ein rasselndes Echo des Schmerzes, das durch seine zerschundene Brust fährt.

 

Die Wächterin hebt langsam ihren knorrigen Holzstab. Mit einer fließenden, fast beiläufigen Geste beschreibt sie einen Kreis in der Luft. Ein kurzes, trockenes Klopfen des Holzes auf den feuchten Grund genügt, und das grauenhafte Kreischen verstummt.

 

Wie auf ein lautloses Kommando lösen sich die Krähen von ihrem Opfer. Sie steigen als ein einziger, schwarzer Wirbel empor, ihre roten Augen verblassen in der Dunkelheit, bis nur noch das unheilvolle Rauschen ihrer Schwingen zurückbleibt, das in den Wipfeln der alten Bäume verebbt.

 

Es herrscht eine Totenstille, die nur vom schweren, feuchten Keuchen der Bestie unterbrochen wird.

 

Die Wächterin tritt näher, bis der Saum ihres zerfetzten Gewandes das Blut berührt, das aus Fenris’ Flanke sickert. Sie neigt ihr gesichtsloses Oval tief zu ihm herab. Obwohl sie keine Lippen besitzt, ist die triumphierende Genugtuung in ihrer Haltung fast physisch greifbar. Sie weidet sich an seiner Ohnmacht, an der Demütigung des stolzen Jägers, den sie in den Staub gezwungen hat.

 

„Siehst du nun, mein schöner Wolf?“, flüstert sie, und ihre Stimme ist wie das Rascheln von vertrocknetem Laub auf einem Grabstein. „Jeder Schritt, den du auf sie zugehst, ist ein Schritt in dein eigenes Verderben. Deine Leidenschaft ist keine Stärke - sie ist die Leine, an der ich dich halte.“

 

Sie streicht mit der kalten Spitze ihres Stabes fast zärtlich über eine der klaffenden Wunden an seinem Hals, ein sadistischer Akt der Dominanz, der Fenris vor Schmerz aufstöhnen lässt.

 

„Dies soll dir eine Lehre sein, die sich tief in dein Fleisch brennt. Ich habe dich genau dort, wo ich dich haben will. Du bist mein Werkzeug, mein Schatten, mein Tier. Wenn ich es befehle, wirst du bluten, und wenn ich es befehle, wirst du leiden.“

 

Sie richtet sich zu ihrer vollen, unnatürlichen Größe auf. Der violette Schimmer ihres Stabes erlischt, und sie verschmilzt langsam mit den Schatten der Nacht.

 

„Bleib liegen, Fenris. Spüre die Kälte. Spüre die Ohnmacht. Und lerne, dass dein Verlangen nach ihr nur der Köder ist, mit dem ich dich breche.“

 

Mit einem letzten, eisigen Lufthauch verschwindet sie, und Fenris bleibt allein zurück - verwundet, gedemütigt und zutiefst gezeichnet, während in der Ferne das Leuchtfeuer von Lyras Sehnsucht immer noch wie eine ferne, unerreichbare Sonne brennt.

 

Ein markerschütterndes, heiseres Stöhnen bricht aus Fenris’ Kehle - ein Laut, der tief aus seiner zerschundenen Wolfsbrust quillt und die Stille des Waldes wie eine scharfe Klinge zerschneidet. Es ist das Geräusch einer Kreatur, die an der Grenze ihrer Belastbarkeit steht, ein Amalgam aus animalischer Pein und menschlicher Verzweiflung.

 

Der Schmerz pulsiert in einem erbarmungslosen Rhythmus durch seinen Körper. Die Wunden, die die Krähen der Wächterin geschlagen haben, brennen wie flüssiges Feuer. Jede Bewegung, jeder flache Atemzug lässt das rohe Fleisch unter dem zerfetzten Fell erzittern.

 

Völlig auf sich allein gestellt und von der Welt verlassen, beginnt Fenris, sich der Instinkte seines tierischen Körpers hinzugeben. Mit der rauen, warmen Zunge beginnt er, seine Wunden zu lecken. Es ist ein archaischer, intimer Akt der Selbstreinigung, ein verzweifelter Versuch, die brennende Magie der Wächterin mit dem eigenen Speichel zu kühlen. Er schmeckt sein eigenes, heißes Blut - metallisch, salzig und aufgeladen mit dem Adrenalin der Jagd, die so grausam unterbrochen wurde.

 

In seinem Inneren tobt ein Kampf, der weit über das Physische hinausgeht. Seine Gedanken klammern sich mit letzter Kraft an Lyra.

 

Er sieht sie vor sich, wie sie im Kerzenschein des Dachbodens kniet, das Haar wie ein dunkler Wasserfall über ihre Schultern fallend, die Augen geweitet vor Verlangen. Er spürt noch immer das Echo ihres Rufes, diesen glühenden, erotischen Faden, der ihn durch die Finsternis leiten sollte.

 

Doch während er dort im Dreck liegt, gezeichnet von den Klauen der Dunkelheit, geschieht das Unvermeidliche.

 

Lyras Rufe, die eben noch wie ein donnerndes Leuchtfeuer in seinem Kopf dröhnten, werden leiser. Die Verbindung, die sie mit ihrer Seele und dem Rauch der schwarzen Kerzen geknüpft hat, beginnt zu fasern. Er spürt, wie die Intensität ihrer Sehnsucht nachlässt, vielleicht weil sie erschöpft ist, vielleicht weil der Fluch der Wächterin eine Mauer aus Schweigen zwischen sie geschoben hat.

 

„Lyra...“, formt sein menschlicher Geist ihren Namen, doch aus seiner Schnauze dringt nur ein klagendes Jaulen.

 

Das Bild ihrer leidenschaftlichen Hingabe verblasst. Die Wärme ihres Atems, die er eben noch auf seinem Fell zu spüren glaubte, weicht der unerbittlichen Kälte der feuchten Erde. Der Duft nach Zedernholz und weiblicher Haut verflüchtigt sich, bis nur noch der bittere Geruch von Fäulnis und eigenem Blut übrig bleibt.

 

Fenris schließt die Augen, die grüne Glut in ihnen erlischt fast vollständig. Er ist allein in der Schwärze. Der Ruf ist verstummt. Die Verbindung ist gekappt. Zurück bleibt nur die Bestie, die in ihren eigenen Wunden liegt und darauf wartet, dass die Nacht sie ganz verschlingt.


Lyra schreckt mit einem unterdrückten Keuchen aus der Trance hoch. Die Verbindung, die eben noch wie ein glühender Draht ihre Seele mit der seinen verband, ist mit einer brutalen Plötzlichkeit gerissen. Es ist kein langsames Verblassen, sondern ein gewaltsamer Abbruch, der ihr das Blut in den Adern gefrieren lässt.

 

Ihr Körper bebt, nicht mehr vor Verlangen, sondern vor einer eisigen, instinktiven Gewissheit. Sie hat es immer gewusst, schon seit ihrer ersten Begegnung: Ihre Seelen sind so eng miteinander verwoben, dass sein Schmerz zu ihrem eigenen wird. Und in diesem Moment schmeckt sie Eisen auf ihrer Zunge; sie spürt einen stechenden, brennenden Schmerz in ihren Gliedern, als würden unsichtbare Krallen ihr eigenes Fleisch zerfetzen.

 

„Fenris...“, haucht sie, und ihr Herz hämmert in einem panischen, unregelmäßigen Takt gegen ihre Rippen.

 

Etwas Schreckliches ist geschehen. Die Dunkelheit draußen ist nicht mehr nur leer - sie ist bösartig geworden.

Sie springt auf, die Knie noch schwach von der Ekstase des Rituals. Mit fahrigen Händen greift sie nach Fenris’ schwerem Gehrock, der wie eine schützende Haut auf dem Boden liegt. Sie schlüpft hinein, hüllt sich in das grobe Tuch, das noch immer seinen maskulinen Geruch verströmt, und stürzt aus dem Dachzimmer.

 

Die Treppenstufen knarren unter ihren eiligen Schritten wie protestierende Knochen. Im Erdgeschoss angekommen, ist der Flur eine einzige, schwarze Schlucht. Lyra tastet blind nach der Kommode, ihre Finger krallen sich in das kalte Holz, bis sie eine der Schubladen aufreißt. Das Metall kreischt schrill. Sie wühlt zwischen alten Schlüsseln und Papieren, bis ihre Finger den kalten Stahl einer schweren Taschenlampe umschließen.

 

Mit einem harten Klick schneidet der Lichtstrahl durch die Finsternis, ein einsames, zitterndes Schwert gegen das Grauen.

 

Sie reißt die schwere Haustür auf. Die Nachtluft schlägt ihr entgegen, feucht und beladen mit dem Vorboten eines Unwetters. Lyra wartet keine Sekunde. Sie rennt.

 

Ihre Stiefel hämmern auf den Asphalt der verlassenen Straße, der Gehrock fliegt hinter ihr wie der Umhang einer dunklen Rächerin. Sie ignoriert das Brennen in ihrer Lunge, ignoriert die Schatten, die in den Toreinfahrten von Rosevil zu lauern scheinen. Ihr gesamtes Sein ist nur noch auf einen Punkt fixiert: den Waldrand. Dort, wo das Schwarz der Bäume den Himmel verschlingt.

 

„Ich komme, Fenris!“, schreit ihr Geist gegen den Wind an.

 

Sie stürzt in das erste Dickicht, das Licht ihrer Taschenlampe tanzt wild über knorrige Wurzeln und peitschende Zweige. Sie rennt direkt in den Rachen der Bestie, angetrieben von einer Liebe, die keine Furcht mehr kennt, nur noch die rasende Notwendigkeit, ihn zu finden, bevor die Wächterin ihr Werk vollendet.

 

Lyra sprintet über den dunklen Asphalt, ihre Lungen brennen, aber die Angst um Fenris ist ein viel stärkerer Antrieb als jede körperliche Erschöpfung. Der schwere Gehrock schlägt um ihren Körper, eine physische Erinnerung an den Mann, den sie sucht. Die Taschenlampe in ihrer Hand tanzt wild, ein panischer Lichtstrahl, der die herannahende Schwärze des Waldes nur noch unheimlicher macht.

 

Sie erreicht den Waldrand. Dort, wo die knorrigen Äste der alten Bäume wie skelettartige Finger in den Himmel ragen, findet sie den kleinen, ausgetretenen Pfad - den Eingang in sein Reich, das nun von Grauen durchtränkt ist.

 

Ohne zu zögern, ohne einen Funken Furcht, stürzt Lyra hinein. Ihre Stiefel zerstampfen das Laub und die kleinen Äste, die Taschenlampe schneidet zitternd durch die undurchdringliche Dunkelheit des Unterholzes. Jeder Schatten scheint sich zu bewegen, jedes Rascheln könnte ein lauerndes Monster sein, doch Lyra nimmt nichts davon wahr. Ihr Blick ist fixiert, ihre Seele ist blind für alles außer der quälenden Gewissheit, dass er hier ist, verletzt und in Gefahr.

 

Sie muss nicht lange laufen.

 

Nur wenige Meter vom Waldrand entfernt, wo die Bäume noch lichter stehen und der Mond manchmal eine fahle Sichel auf den Boden wirft, sieht sie ihn.

 

Dort liegt er.

 

Ein gigantischer, schwarzer Schatten auf dem Waldboden, zusammengekrümmt, regungslos. Es ist Fenris, seine mächtige Gestalt ein Bild von zerbrochener Wildheit. Der Anblick trifft Lyra wie ein physischer Schlag. Ihr Herz setzt einen Moment aus, bevor es in einem panischen Rhythmus wieder zu schlagen beginnt.

 

Die Luft riecht scharf und metallisch - der Geruch von frischem Blut.

 

Lyra lässt die Taschenlampe fallen. Sie rollt über den Boden und wirft wilde, tanzende Schatten auf die Szene. Dann fällt Lyra auf die Knie, ihre Hände vor den Mund geschlagen, um einen Schrei des Entsetzens zu unterdrücken.

Sie sieht die zerfetzten Stellen in seinem tiefschwarzen Fell, die dunklen, feuchten Flecken auf dem Moos, wo sein Blut in die Erde gesickert ist. Sie sieht die leere, gequälte Stille, die von ihm ausgeht.

Er liegt genau dort, wo die Wächterin ihn bestraft hat, ein verwundeter König seines Reiches, zum Krüppel geschlagen von der Hand einer Hexe.

 

Lyra kriecht auf allen Vieren zu ihm, ihre Hände zittern, als sie seine Seite berühren. Das Fell ist verklebt, nass und warm vom Blut. Sie spürt das tiefe, unregelmäßige Heben und Senken seines Brustkorbs. Er lebt, aber er ist gebrochen.

 

Ein Schluchzen entweicht ihrer Kehle. Das Ritual ist gescheitert. Ihr Ruf hat ihn nicht gerettet, sondern ihn nur in die Fänge der Peinigerin getrieben.

 

Lyra zwingt sich, das lähmende Entsetzen niederzukämpfen. Die Luft in diesem Waldstück ist geschwängert vom Geruch nach Tod, Eisen und verbrannter Magie. Sie muss stark bleiben; sie ist eine Jägerin, eine Frau, die für diese Liebe bereit ist, durch das Fegefeuer zu gehen. Doch als sie auf seine zerfetzten Flanken starrt, auf das rohe Fleisch, das unter dem schwarzen Fell hervorschimmert, fühlt sie sich so schutzlos wie nie zuvor. Sie hat nichts bei sich -  keinen Verband, keine Kräuter, nur ihre Hände und den schweren Gehrock auf ihrem Rücken.

 

„Ganz ruhig, mein Herz... ganz ruhig“, flüstert sie, doch ihre Stimme bricht.

 

In diesem Moment der tiefsten Agonie bewegt sich der schwarze Wolf. Fenris hebt mühsam das gewaltige Haupt. Die Bewegung ist langsam, gezeichnet von einer Erschöpfung, die bis in die Knochen reicht. Als er die Augen öffnet, trifft ihr Blick auf seinen - und die Welt um sie herum hört auf zu existieren.

 

In diesem grünen Leuchten liegt so viel Schmerz, Demütigung und unendliche, verzweifelte Liebe, dass Lyras mühsam errichteter Damm aus Beherrschung bricht. Warme, salzige Tränen rollen unaufhaltsam über ihre Wangen, waschen den dunklen Kajal fort und hinterlassen Spuren der reinsten Verletzlichkeit.

 

Sie streckt die zitternden Hände aus und nimmt seinen massiven Kopf in ihre Handflächen. Das Fell an seinen Wangen ist rau, seine Ohren zucken schwach unter ihrer Berührung. Sie spürt die Hitze, die von seinem Körper ausstrahlt - ein Fieber, das durch den Fluch und die Wunden genährt wird.

 

Lyra beugt sich vor, bis ihr Gesicht nur noch Millimeter von seinem entfernt ist. Sie schließt die Augen und drückt ihre Lippen sanft, aber mit einer verzehrenden Intensität auf seine dunkle, feuchte Schnauze. Es ist ein Kuss, der alle Konventionen sprengt, ein heiliger und zugleich sündiger Akt der Hingabe. Sie küsst nicht das Tier; sie küsst die Seele des Mannes, die sie hinter diesen Raubtierzügen spürt.

 

„Ich bin hier“, flüstert sie gegen sein Fell, ihr Atem vermischt sich mit seinem schweren, rasselnden Keuchen. „Ich lasse dich nicht allein in dieser Dunkelheit. Hörst du mich? Sie kann uns brechen, sie kann dich bluten lassen, aber sie kann nicht verhindern, dass ich dich finde. Niemals.“

 

Sie presst ihre Stirn gegen die seine, ihre Finger graben sich fest in sein Nackenhaar.

 

„Du bist kein Monster für mich, Fenris. Du bist mein Jäger, mein Geliebter. Ich brenne noch immer für dich, hier im Dreck und im Blut, genauso wie oben auf der Seidendecke. Ich werde einen Weg finden, dich zu heilen. Ich verspreche es dir bei meinem Leben.“

 

Fenris gibt ein leises, fast unhörbares Wimmern von sich, ein Laut, der ihr das Herz zerreißt, und lehnt seinen Kopf schwer in ihre Hände, als wäre sie der einzige Anker, der ihn noch in dieser Welt hält.

 

Lyra handelt wie im Rausch. Die Panik ist einer kalten, schneidenden Entschlossenheit gewichen. Sie sieht das Blut, das in den dunklen Waldboden sickert, und sie weiß, dass jede Sekunde zählt, in der das Leben aus ihm herausfließt.

 

„Ich helfe dir“, keucht sie, während sie verzweifelt ihre Umgebung absucht. „Ich finde einen Weg.“

 

In der feuchten Kälte der Nacht, umgeben von den drohenden Schatten der Bäume, beginnt sie eine schmerzhafte Entkleidung. Sie schlüpft aus dem schweren, dunklen Gehrock, der eben noch wie ein Panzer um sie lag, und lässt ihn achtlos auf das feuchte Moos gleiten. 

 

Hektisch zieht sie sich den dicken Pullover über den Kopf. Ihre Haare fliegen wild um ihr Gesicht, während sie den Stoff mit zitternden, aber kraftvollen Fingern packt. Sie sucht nach einer Naht, einem Schwachpunkt, und dann, mit einem harten, gellenden Reißen, zerfetzt sie das Material. Der Stoff leistet Widerstand, doch Lyra nutzt ihre ganze Kraft, bis sie lange, unebene Streifen in den Händen hält.

 

Eilig wirft sie sich den Gehrock wieder über die nackten Schultern. Das grobe Futter reibt direkt auf ihrer Haut, ein brennender Kontrast zur Kälte, während sie sich wieder über Fenris beugt. Sie ist nun halb nackt unter seinem Mantel, eine gefallene Priesterin, die alles opfert, um ihr Idol zu retten.

 

Sie beginnt, die Stoffstreifen um seine klaffenden Wunden zu wickeln. Ihre Finger tauchen tief in sein verklebtes, warmes Fell ein. Das Blut tränkt den Stoff ihres Pullovers augenblicklich, färbt das Material in ein dunkles, sündiges Purpur.

 

„Halt durch, Fenris“, flüstert sie, während sie einen Streifen fest um seine Flanke knotet. Ein tiefes, schmerzerfülltes Grollen vibriert durch seinen massiven Körper, direkt in ihre Hände hinein. „Ich weiß, dass es wehtut. Ich weiß es.“

 

Sie arbeitet mit einer fieberhaften Intimität. Ihre nackte Haut unter dem Gehrock berührt bei jeder Bewegung sein Fell; sie ist ihm so nah, dass sie die Hitze seiner Qual spüren kann. Es ist eine grausame, blutige Form der Vereinigung. Sie presst die Ballen ihrer Hände auf die tiefsten Risse, versucht, den Fluss des Lebens aufzuhalten, während ihre eigenen Tränen auf die improvisierten Verbände fallen.

 

Der Gehrock rutscht ihr von der Schulter, entblößt ihre bleiche Haut im fahlen Schein der Taschenlampe, die noch immer irgendwo im Laub liegt. Lyra kümmert es nicht. In diesem Moment gibt es keine Scham, keine Zivilisation - nur sie, die Bestie und das bittere Blut, das sie miteinander verbindet. Sie knotet den letzten Streifen fest, ihre Hände sind rot und zittern unkontrolliert.

 

„Das wird nicht reichen“, murmelt sie verzweifelt, während sie seinen Kopf wieder in ihren Schoß zieht. „Es ist nicht genug...“

 

Lyra kniet im blutgetränkten Laub, ihr Atem steigt in hastigen, weißen Wolken in die frostige Nachtluft auf. Unter dem schweren, schwarzen Gehrock ist sie fast nackt, die Kälte beißt in ihre Haut, doch das Feuer ihres Adrenalins betäubt jeden Schmerz. Sie starrt auf die improvisierten Verbände aus ihrem zerrissenen Pullover, die sich bereits dunkel und schwer mit seinem heißen Blut vollsaugen.

 

Ein verzweifeltes Schluchzen brennt in ihrer Kehle. Sie weiß, dass das hier nicht reicht. Die Krähen der Wächterin haben Wunden geschlagen, die tiefer liegen als das Fleisch - es sind magische Risse, die nach einer Heilung verlangen, die sie allein nicht vollbringen kann.

 

Was soll ich tun?, hämmert es in ihrem Kopf.

 

Wäre Fenris jetzt der Mann, der er in den Nächten zuvor war, würde er sie mit seiner rauen, ruhigen Stimme anleiten. Er würde ihr sagen, welche Kräuter unter den Schatten der Farne wachsen, welche Wurzeln das Gift der Hexe binden können. Er wäre ihr Lehrer in dieser dunklen Biologie. Doch der Mann ist gefangen hinter den schmerzerfüllten Augen der Bestie, und seine einzige Antwort ist ein rasselndes Atemgeräusch, das ihren Namen zu rufen scheint, ohne ihn aussprechen zu können.

 

Sie tastet hektisch die Taschen des Gehrocks ab, ihre Finger suchen nach der glatten Oberfläche ihres Smartphones, doch die Taschen sind leer. In ihrer blinden Panik hat sie das Haus ohne jede Verbindung zur Außenwelt verlassen. Sie ist allein mit einer sterbenden Legende.

 

„Ich muss gehen“, flüstert sie, und das Wort fühlt sich an wie Verrat. „Ich muss Samuel holen. Er ist der Einzige, der weiß, wie man diese Wunden schließt. Er wartet im Pfarrhaus.“

 

Sie sieht Fenris an, und ihr Herz krampft sich zusammen. Er ist so schwach. Sein gewaltiger Körper, der einst wie ein Monument der Stärke wirkte, zittert nun unkontrolliert im feuchten Dreck. Als er ihren Blick erwidert, sieht sie darin eine Qual, die über das Physische hinausgeht - es ist die nackte Angst eines Wesens, das nicht will, dass das Licht der Welt erlischt, während seine Gefährtin sich entfernt.

 

„Ich komme zurück, Fenris. Ich schwöre es dir bei meinem Blut“, presst sie hervor. Sie beugt sich tief zu ihm herab, ihre nackte Brust drückt sich unter dem Mantel gegen seine Flanke, eine letzte, verzweifelte Übertragung von Wärme und Leben. Sie küsst ihn noch einmal, schmeckt das Salz ihrer Tränen und das Metall seines Blutes auf ihren Lippen.

 

Sein Blick brennt sich in ihre Seele, ein stummes Flehen, ein tragisches Einverständnis.

 

Lyra zwingt sich aufzustehen. Ihre Beine fühlen sich an wie Blei, doch die Notwendigkeit peitscht sie voran. Sie greift die Taschenlampe, deren Strahl nun über die blutigen Abdrücke auf dem Boden zuckt, und wendet sich ab. Sie muss zurück in die Stadt, durch die Schatten von Rosevil rennen, bis ihre Lungen platzen, um den Mann zu finden, der das Unmögliche möglich machen kann.

 

Lyra will sich gerade in die Dunkelheit stürzen, die Muskeln zum Sprint gespannt, als die Luft vor ihr plötzlich flimmert und zu einer zähen, öligen Masse gefriert. Ein unnatürlicher Windstoß streift sie.

 

Aus dem Nichts tritt eine Gestalt in den fahlen Lichtkegel. Doch es ist nicht das gesichtslose Phantom im zerfetzten Gewand. Vor ihr steht die Antiquitätenverkäuferin - jene Frau, die ihr vor kurzem noch mit einem falschen Lächeln und staubigen Händen begegnet ist. Sie trägt ihre alltägliche Kleidung, die jedoch in der Schwärze des Waldes wie eine groteske Verkleidung wirkt. Nur eines passt nicht in das Bild der bürgerlichen Händlerin: In ihrer rechten Hand hält sie den knochigen, uralten Stab, dessen Spitze in einem hämischen, violetten Rhythmus pulsiert.

 

„Schon unterwegs, meine Liebe?“, fragt sie, und ihre Stimme ist nun frei von jeder menschlichen Wärme. Sie klingt wie das Schleifen eines Messers auf Stein. „Die Nacht ist noch jung, und die Bestie hat ihre Lektion noch nicht zu Ende gelernt.“

 

Ein Schauer des Ekels läuft über Lyras nackte Haut unter dem Gehrock, doch die Angst wird augenblicklich von etwas weitaus Mächtigerem verdrängt. Eine ungeheure, schwarze Wut schießt in Lyra hoch, heißer als das Ritualfeuer auf dem Dachboden.

 

Sie weicht keinen Schritt zurück, um zu fliehen. Stattdessen tritt sie rückwärts, bis ihre Fersen das bebende Fell des verletzten Wolfes berühren. Sie breitet die Arme aus, den schweren Stoff des Mantels wie Schwingen aufspannend, und stellt sich als menschlicher Schutzwall vor Fenris. Unter dem Gehrock bebt ihre Brust, der Zorn lässt ihr Blut in den Schläfen hämmern.

 

„Verschwinde!“, schreit Lyra der Hexe entgegen. Ihre Stimme ist nicht mehr die einer verzweifelten Frau, sie ist das Brüllen einer Löwin, die ihr Revier verteidigt. „Rühr ihn nicht mehr an! Du hast ihn zerrissen, du hast ihn gedemütigt, aber du wirst ihn nicht töten. Nicht solange ich hier stehe.“

 

Die Wächterin lacht leise, ein trockenes, hohles Geräusch. Sie hebt den Stab und deutet auf Lyras nackte Schultern, die unter dem Gehrock hervorschimmern.

 

„Sieh dich an, Lyra. Eine Sterbliche, die sich in die Kleidung eines Monsters hüllt und glaubt, sie könne das Schicksal aufhalten. Du riechst nach seinem Blut und deiner eigenen Lust. Es ist erbärmlich.“

 

Lyra fixiert die Antiquitätenhändlerin mit einem Blick, der vor mörderischer Entschlossenheit funkelt. Die Wut macht sie unberechenbar. Sie spürt Fenris’ schweren, heißen Atem an ihren Waden. Jedes Stück ihrer Zivilisation ist in diesem Moment abgefallen. Sie ist bereit, sich auf die Hexe zu stürzen, sich mit Fingernägeln und Zähnen zu wehren, um das Wesen zu schützen, das hinter ihr im Sterben liegt.

 

„Du nennst ihn ein Monster?“, knurrt Lyra, und ein gefährliches Lächeln umspielt ihre Lippen, während die Tränen auf ihren Wangen trocknen. „Das einzige Monster hier bist du. Und wenn du ihn willst, musst du erst an mir vorbei. Versuch es nur.“

 

Fenris hebt mühsam das gewaltige, blutverschmierte Haupt. Der Schmerz, der durch seine zerfetzten Flanken rast, ist ein weißglühendes Inferno, doch das Schauspiel, das sich vor seinen grünen Augen abspielt, lässt selbst die Agonie verblassen.

 

Er sieht Lyras Rücken, ihre aufrechte, unnachgiebige Gestalt. Er sieht die blassen, nackten Schultern, die unter dem schweren Stoff seines Gehrocks hervorlugen - ein Bild von zerbrechlicher Schönheit und monumentaler Gewalt. Sie steht dort wie eine dunkle Kriegerin, die Beine tief im blutigen Schlamm verankert, bereit, sich einer uralten Macht entgegenzuwerfen, die sie mit einem Fingerschnippen auslöschen könnte.

 

Ein tiefes, vibrierendes Grollen der Bewunderung rührt sich in Fenris’ Brust. Er hat sie begehrt, er hat sie geliebt, er hat ihre Zärtlichkeit genossen, aber er hat sie noch nie so majestätisch und furchteinflößend erlebt. In diesem Moment erfüllt ihn ein Stolz, der stärker ist als der Fluch. Sie ist nicht mehr nur sein Opfer oder seine Geliebte; sie ist seine Gefährtin im Geiste, eine Seele, die so wild und unbezähmbar ist wie die Bestie, die er verkörpert. Er erkennt in ihrem Zorn das Echo seiner eigenen Dunkelheit, eine Leidenschaft, die so absolut ist, dass sie keine Angst mehr kennt.

 

Doch das trockene, hasserfüllte Lachen der Antiquitätenhändlerin zerreißt die heilige Stille dieses Augenblicks.

 

Die Wächterin neigt den Kopf zur Seite, ihre Augen blitzen vor sadistischem Amüsement, während sie Lyra mustert. Sie sieht das junge Weibchen, das fast nackt unter dem Mantel eines Monsters steht, die Haut von Tränen und Dreck gezeichnet, und findet darin nur eine groteske Komödie.

 

„Sieh dich an, kleine Lyra“, spottet sie, und ihre Stimme trieft vor herablassender Verachtung. „Du glaubst wirklich, dass dein kleiner Funken Sterblichkeit gegen die Dunkelheit von Jahrhunderten bestehen kann? Du stehst dort, zitternd vor Kälte und Wut, und bildest dir ein, du hättest Macht.“

 

Sie macht einen provokanten Schritt nach vorn, den knochigen Stab fest im Griff, während das violette Licht ihre Züge in eine dämonische Maske verwandelt.

 

„Was willst du verrichten? Willst du mich mit deinen bloßen Händen zerfleischen? Willst du mich mit deinen Tränen ertränken?“, höhnt sie und lacht erneut, ein schrilles, unnatürliches Geräusch, das die Krähen in den fernen Wipfeln aufschrecken lässt. „Du bist nichts weiter als eine kleine, verirrte Seele, die sich in einen Albtraum verliebt hat. Du hast keine Magie, kein Blut, das diesen Boden binden könnte. Du bist ein Hindernis, das ich mit einem einzigen Atemzug beiseite fegen werde.“

 

Sie hebt den Stab drohend an, die Spitze zielt direkt auf Lyras Herz. „Geh beiseite, Kind, bevor ich dich lehre, dass Stolz in diesem Wald nur ein anderes Wort für Selbstmord ist.“

 

Die Stille, die sich nun über die blutgetränkte Lichtung legt, ist absolut und unnatürlich - eine Vakuumglocke aus purem Entsetzen. Lyra rührt sich nicht. Ihr Blick ist wie eine eiserne Klinge mit dem der Wächterin verkeilt. Unter dem schweren Gehrock bebt ihr nackter Körper, doch es ist kein Zittern der Furcht, sondern die hochelektrische Spannung eines Raubtieres vor dem Sprung. In ihren Augen lodert ein Feuer, das die uralte Hexe nicht versteht: die totale, destruktive Hingabe einer Frau, die nichts mehr zu verlieren hat.

 

Hinter ihr spürt Fenris die tödliche Elektrizität in der Luft. Er wittert das Ende. Sein wolfhafter Instinkt schreit ihm zu, dass Lyra diesen Moment nicht überleben wird. Sie ist Fleisch und Blut, eine zerbrechliche Flamme gegen einen Orkan aus schwarzer Magie.

 

Mit einem Grollen, das tief aus seinem zerschundenen Inneren aufsteigt und wie das Brechen von Eis klingt, mobilisiert er seine letzte, geheiligte Kraftreserve. Er stemmt die gewaltigen Pranken in den morastigen Boden. Das Reißen seiner Wunden, die Agonie der zerfetzten Muskeln - er blendet alles aus. Er ist kein Tier mehr, er ist eine reine Willensbekundung. Er wird sich auf diese Frau stürzen, er wird sie in Stücke reißen, und wenn er dabei selbst zu Asche zerfällt. Es ist ihm gleichgültig, solange Lyra atmet.

 

Die Wächterin neigt den Kopf, ihre Miene ist eine Maske aus mitleidiger Abscheu. „Ein letztes Mal, Sterbliche“, flüstert sie, und ihre Stimme ist das Grabgeläute von Rosevil. „Geh. Verlass diesen Wald, verlass dieses Leben, und ich schenke dir das Vergessen. Bleibst du, schenke ich dir nur das Ende.“

 

„Niemals“, presst Lyra hervor, und das Wort ist ein sakraler Schwur.

 

Hinter ihr hat sich Fenris hochgehievt. Er schwankt, sein Körper bebt unkontrolliert vor Kraftlosigkeit, das Blut tropft in schweren Kaskaden von seinem Fell. Er ist ein sterbender Gott des Waldes, bereit für sein letztes Opfer. Er spannt die Sehnen zum Sprung an.

 

Die Wächterin verliert die Geduld. Ihre Augen blitzen violett auf, eine mörderische Aura entlädt sich. Sie hebt den knochigen Stab mit einer herrischen Geste, bereit, das Urteil zu vollstrecken und beide - die Bestie und seine Geliebte -  in die ewige Finsternis zu schleudern. Das violette Licht an der Spitze schwillt zu einer blendenden Kugel aus purem Hass an.

 

Doch dann geschieht das Unvorstellbare.

 

In dem Moment, als die Entladung erfolgen sollte, erlischt das Licht. Ein trockenes, hohles Knacken geht durch den Stab. Das pulsierende Violett flackert einmal kläglich auf und stirbt dann mit einem kläglichen Zischen ab, als wäre die Quelle der Magie versiegt.

 

Der Stab, dieses uralte Instrument der Unterdrückung, bleibt tot und grau in der Hand der Hexe. Ein entsetzter Ausdruck stiehlt sich auf das Gesicht der Antiquitätenhändlerin. Sie starrt auf das Holz, das plötzlich kalt und leblos wirkt.

 

Lyra und Fenris verharren in der Bewegung, beide vom plötzlichen Ausbleiben der Vernichtung überrascht. Die Stille wird nun von etwas Neuem gefüllt - einem feinen, goldenen Schimmer, der von Lyras nackter Haut unter dem Gehrock auszugehen scheint, genährt von der Reinheit ihres Opfers. Die Magie des Fluches findet keinen Angriffspunkt mehr gegen eine Liebe, die bereits den Tod akzeptiert hat.

 

Das unheilvolle Violett ist erloschen, und mit ihm die unantastbare Aura der Wächterin. Ihr Gesicht, eben noch eine Maske hämischer Überlegenheit, verzerrt sich zu einer Fratze aus purem, fassungslosem Zorn. Ein Schrei bricht aus ihrer Kehle - kein menschlicher Laut, sondern ein gellendes, rissiges Kreischen, das an das Bersten von trockenem Holz und das Heulen eines Sturms erinnert. Es ist das Geräusch einer Macht, die zum ersten Mal auf einen Widerstand gestoßen ist, den sie nicht brechen kann: die absolute, opferbereite Frequenz von Lyras Seele.

 

So abrupt, wie sie aus dem Nichts materialisiert ist, löst sich die Gestalt der Antiquitätenhändlerin auf. Sie zerfällt in einen Wirbel aus schwarzen Schatten und modrigem Staub, der vom Wind davongetragen wird, bis nur noch das Echo ihres hasserfüllten Schreiens in den Wipfeln nachhallt.

 

Die Stille, die zurückbleibt, ist schwer und vibrierend. Lyra stößt einen tiefen, zitternden Atemzug aus. Das Adrenalin, das sie eben noch aufrecht hielt, weicht einer brennenden Erschöpfung, doch ihr Verstand bleibt scharf wie eine Klinge. Sie weiß, dass dies nur ein vorübergehender Sieg ist. Der Stab hat versagt, der Fluch hat gewankt, aber Fenris stirbt noch immer vor ihren Augen.

 

Hinter ihr bricht die Bestie zusammen. Die Kraft, die Fenris für diesen letzten, verzweifelten Schutzwall mobilisiert hat, ist versiegt. Mit einem schweren, dumpfen Aufschlag sinkt er wieder in das blutgetränkte Moos. Sein Atem geht rasselnd, Schaum mischt sich an seinen Lefzen mit dem dunklen Blut.

 

Lyra wirft sich neben ihn in den Schmutz. Der schwere Gehrock rutscht ihr von den Schultern, entblößt ihre bleiche, schweißnasse Haut, während sie sich über ihn beugt. Sie ignoriert die Kälte, die Feuchtigkeit, den Tod, der nach ihnen greift. Mit unendlicher Zärtlichkeit streicht sie über seine Stirn, über die Stelle, die sie vorhin mit ihrem Kuss versiegelt hat. Ihre Finger zittern, als sie durch sein zerzaustes, verklebtes Fell fahren.

 

„Ich muss gehen, Fenris“, flüstert sie, und ihre Stimme ist ein heilig brennendes Versprechen in der Dunkelheit. „Der Moment gehört uns, aber er ist kurz. Ich hole Samuel. Ich hole die Hilfe, die dich rettet.“

 

Sie nimmt sein massives Haupt noch einmal in ihre Hände. Ihre Augen suchen die seinen - dieses tiefe, schmerzvolle Smaragd, in dem nun ein Funken Hoffnung glimmt. Lyra beugt sich tief herab und drückt ihre Lippen ein letztes Mal auf seine Schnauze. Es ist ein Kuss, der nach Eisen, Tränen und unsterblicher Hingabe schmeckt.

 

„Warte auf mich. Kämpfe gegen die Dunkelheit an, bis ich zurück bin. Ich lasse dich nicht im Stich. Niemals.“

 

Fenris sieht sie an, sein Blick ist klarer als zuvor, als hätte ihre Berührung den Nebel der Agonie für einen Moment vertrieben. Er stößt ein leises, kehliges Geräusch aus und neigt das schwere Haupt in einer langsamen, bedeutungsschweren Bewegung. Ein Nicken. Er hat sie verstanden. Er wird bleiben. Er wird leben - für sie.

 

Lyra reißt sich von ihm los, ein schmerzhafter Akt, der sich anfühlt, als würde sie sich ein Stück ihres eigenen Herzens herausreißen. Sie springt auf, wickelt den Gehrock fest um ihren fast nackten Körper und beginnt zu rennen. Sie flieht nicht vor dem Wald; sie rennt um das Leben ihres Geliebten, während hinter ihr die Bestie im Schatten wacht und auf die Erlösung wartet.