Lyra & Fenris - Moonbound Kapitel 15
Blut, Bindung und das Gesetz der Dunkelheit
Nach der grausamen Nacht steht Lyra vor einer unmöglichen Aufgabe: Sie muss Fenris retten, während der Fluch tiefer in ihn greift. Zwischen Blut, uralter Magie und der lauernden Macht der Wächterin erkennt sie, dass ihre Liebe mehr ist als Schwäche - sie ist eine Anomalie. Doch jeder Sieg fordert einen Preis, und die Dunkelheit beginnt, neue Wege zu suchen.
Das alte Pfarrhaus steht wie ein düsterer Wächter am Rande des Friedhofs, umhüllt von einem Nebel, der zwischen den verwitterten Grabsteinen hervorkriecht. Lyra erreicht die schwere Holztür, ihr Körper ist ein einziger Schrei aus Erschöpfung und reinem Überlebenswillen. Unter dem massiven Gehrock ist ihre Haut eiskalt, während ihr Inneres vor Adrenalin kocht. Ihre Lungen brennen, jeder Atemzug fühlt sich an wie das Inhalieren von Glasscherben, und das metallische Aroma von Fenris’ Blut klebt noch immer an ihren Händen und Lippen.
Sie wartet keine Sekunde. Sie hebt die Faust und hämmert gegen das massive, dunkle Holz der Tür.
„Samuel!“, schreit sie, doch ihre Stimme ist nur ein heiseres Krächzen, zerrissen vom Wind und der Panik.
Das Geräusch ihres Klopfens hallt unnatürlich laut durch die Totenstille der Umgebung - ein hektischer, synkopischer Rhythmus, der die Ordnung dieser heiligen und verfluchten Stätte stört. Sie schlägt wieder und wieder gegen die Tür, ihre Knöchel schmerzen, während sie sich mit der anderen Hand am Türrahmen festkrallt, um nicht zusammenzubrechen.
Ihr Herz hämmert so heftig gegen ihre Rippen, als wolle es aus ihrer Brust ausbrechen und zurück in den Wald fliehen, zu der Bestie, die sie dort im Sterben zurückgelassen hat. Die Zeit dehnt sich wie zähes Pech. Jede Sekunde, die sie hier vor dieser verschlossenen Tür verbringt, fühlt sich an wie ein Verrat an Fenris.
„Samuel, mach auf! Er stirbt!“, brüllt sie nun, und ihre Schläge werden verzweifelter, wilder.
Die Taschenlampe, die sie noch immer umklammert, wirft einen zittrigen Lichtstrahl über die zerfurchte Oberfläche der Tür. Lyra lehnt ihre Stirn gegen das kalte Holz, ihre Tränen vermischen sich mit dem Schweiß auf ihrem Gesicht. Sie ist die personifizierte Verzweiflung, eine Frau, die gerade der Hexe getrotzt hat und nun an der schlichten Barriere einer verschlossenen Tür zu scheitern droht.
In ihr tobt das Bild von Fenris - wie er dort im Schlamm liegt, zerfetzt, gedemütigt und doch so stolz. Sie spürt die Schwere seines Mantels auf ihrer nackten Haut, ein brennendes Mahnmal ihrer Bindung.
Endlich hört sie von drinnen ein Geräusch. Ein schwerer Riegel wird zurückgeschoben, ein Schlüssel dreht sich im Schloss. Lyra hält den Atem an, ihre Faust bleibt mitten in der Bewegung in der Luft hängen, während das Licht der Taschenlampe auf den sich öffnenden Türspalt fällt.
Samuel packt Lyra am Oberarm und zieht sie mit einer kraftvollen, fast groben Bewegung in die schützende Dunkelheit des Flurs. Die schwere Eichentür fällt mit einem dumpfen, endgültigen Knall ins Schloss und schließt die lauernde Nacht draußen aus. Im Inneren des Pfarrhauses riecht es nach altem Papier, Bienenwachs und dem fahlen Aroma von Weihrauch.
Einen Moment lang herrscht atemlose Stille. Samuel lässt sie los, doch er tritt nicht zurück. Sein Blick brennt auf ihr. In der flackernden Helligkeit einer einzelnen Kerze auf dem Beistelltisch sieht er Lyra an - eine Erscheinung des absoluten Chaos und der rohen Leidenschaft. Der schwere Gehrock steht weit offen, die Knöpfe längst vergessen. Darunter offenbart sie sich ihm fast vollständig: Ihre bleiche Haut ist gezeichnet von Schmutz und den dunklen Spritzern von Fenris' Blut. Nur der knappe, schwarze Spitzen-BH verbirgt das Nötigste, während ihre Brust sich im Takt ihres jagenden Pulses hebt und senkt.
Es ist ein Anblick von abgründiger Erotik und tiefstem Leid. Samuel erstarrt, seine Augen weiten sich, und für den Bruchteil einer Sekunde verliert der besonnene Zeuge seine Maske. Sein Blick streift über ihre Schultern, das Beben ihres Bauches, bis er sich mit fast gewaltsamer Anstrengung von ihrer körperlichen Präsenz losreißt und sich auf ihre Augen fixiert, die groß und dunkel vor Entsetzen sind.
„Was ist geschehen?“, presst er hervor, seine Stimme ist rau und tiefer als gewöhnlich.
Dann bricht der Damm. Die Worte sprudeln aus Lyra heraus, ein hektischer, verzweifelter Strom aus Angst und Wut.
„Sie war da!“, keucht sie, während sie sich die Haare aus dem Gesicht wischt und dabei das Blut an ihren Fingern auf ihrer Stirn verteilt. „Die Wächterin... sie hat ihn zerfleischt. Überall Krähen, Samuel, hunderte von ihnen! Sie haben ihm das Fleisch vom Körper gerissen. Er liegt dort im Wald, er verblutet! Ich habe versucht, ihn zu verbinden, aber es reicht nicht. Das Blut hört nicht auf zu fließen!“
Sie tritt einen Schritt auf ihn zu, ihre Hände krallen sich in die Revers seines Mantels. „Du musst mir helfen! Jetzt! Sie wollte uns beide vernichten, aber ihr Stab... er hat versagt. Er ist einfach erloschen. Aber Fenris stirbt, wenn wir nicht sofort zu ihm gehen. Bitte, Samuel, du hast gesagt, du weißt Dinge... du hast gesagt, du bist kein Werkzeug! Beweis es!“
Ihre Stimme schlägt um in ein Flehen, das Samuel sichtlich erschüttert. Er sieht das Blut an ihren Händen - und die Entschlossenheit in ihrem Blick. Er erkennt, dass die Zeit der Beobachtung vorbei ist.
„Ihr Stab hat versagt?“, murmelt er, und ein Ausdruck von ungläubigem Staunen legt sich auf seine Züge. „Das ist unmöglich... es sei denn...“ Er schüttelt den Kopf, als wollte er einen Gedanken vertreiben, und greift nach einer ledernen Tasche, die bereit auf einem Tisch steht.
Samuel verliert keine weitere Sekunde. Mit einer fast militärischen Präzision greift er nach der schweren, schwarzen Ledertasche, die auf dem massiven Eichentisch bereitsteht - ein Relikt aus einer Zeit, in der Ärzte noch Priester waren und Priester Heiler. Das Metall der Schnallen klirrt leise in der bedrückenden Stille des Flurs.
Er nickt Lyra kurz und bestimmt zu, eine stumme Geste, die sie auffordert, voranzugehen. Seine Kiefermuskeln mahlen, während er den Autoschlüssel von einem Haken an der Wand reißt. „Wir nehmen den Wagen. Bis zum Waldrand sparen wir wertvolle Minuten“, sagt er, seine Stimme nun wieder fest und autoritär.
Sie treten hinaus in die feindselige Nachtluft. Der Nebel auf dem Friedhof scheint sich wie gefräßige Finger nach ihnen auszustrecken, doch sie beachten ihn nicht. Auf dem Kiesweg, der zum Wagen führt, beleuchtet das fahle Mondlicht Lyras Gestalt. Die Szenerie ist von einer grausamen Ästhetik: Die junge Frau, gezeichnet von Blut und Tränen, die nackte Haut ihrer Schultern und ihres Dekolletés schimmert wie Alabaster gegen das tiefe Schwarz des maskulinen Gehrocks.
Bevor sie die Beifahrertür erreicht, hält Samuel einen Moment inne. Trotz der Dringlichkeit, trotz der drohenden Katastrophe, wandert sein Blick unwillkürlich über ihren Oberkörper. Er fixiert die Kurve ihrer Brust, die nur von der schwarzen Spitze des BHs gehalten wird, und das wilde Heben ihres Atems. Es ist kein lüsterner Blick, sondern einer voller Ehrfurcht und dunkler Faszination für die rohe, weibliche Kraft, die sie ausstrahlt - eine Kraft, die gerade eben eine Hexe in die Flucht geschlagen hat.
Lyra spürt die Hitze seines Blickes auf ihrer Haut wie eine Berührung. Ein kurzes, bewusstes Flackern tritt in ihre Augen. Sie ist sich ihrer Nacktheit und der Wirkung, die sie erzielt, vollkommen bewusst, doch in ihrem Herzen ist kein Platz für Spielereien. Mit einer fließenden, fast stolzen Bewegung greift sie nach den Revers des schweren Gehrocks und zieht ihn fest über ihrer Brust zusammen. Das grobe Tuch verbirgt nun wieder ihre Blöße.
„Fahren Sie, Samuel“, sagt sie leise, aber mit einer Schärfe, die keinen Widerspruch duldet.
Sie steigen beide in den Wagen. Die Türen fallen fast gleichzeitig zu, und der Motor des schweren Geländewagens erwacht mit einem hohlen Brüllen zum Leben. Samuel legt den Gang ein, und die Reifen wirbeln den Kies auf, während sie mit aufheulendem Motor zurück in Richtung der schwarzen Schatten des Waldes jagen.
Im Inneren des Wagens ist es stickig und heiß. Lyra starrt starr nach vorn, ihre Hände fest in den Stoff des Mantels gekrallt, während Samuel das Fahrzeug mit einer Besessenheit steuert, die zeigt, dass er genau weiß, was auf dem Spiel steht. Sie sind zwei Seelen auf einer Mission gegen den Tod selbst.
Das Innere des Wagens ist von einer unheilvollen Spannung erfüllt, die nur vom rhythmischen Wischen der Scheibenwischer und dem fahlen Licht der Armaturenbretter durchbrochen wird. Samuel steuert den Wagen mit einer beinahe rücksichtslosen Geschwindigkeit über die kurvigen Straßen von Rosevil, doch sein Geist scheint meilenweit entfernt zu sein, gefangen in den staubigen Archiven seines Gedächtnisses.
Seine Finger knöcheln weiß um das Lenkrad, während er den Blick starr auf die dunkle Fahrbahn gerichtet hält. „Es ist unmöglich“, murmelt er vor sich hin, fast zu leise, als dass Lyra ihn verstehen könnte. „Es widerspricht jedem Gesetz der Dunkelheit. Der Stab... er ist die Verlängerung ihres Willens. Er ist die Finsternis selbst.“
Lyra dreht den Kopf zu ihm. In dem schattigen Licht des Innenraums wirken ihre Züge hart, gezeichnet von der Erschöpfung und dem Blut, das auf ihrer Haut getrocknet ist. Sie hält den Gehrock fester um sich geschlossen, während sie ihn fragend, fast fordernd ansieht. „Was murmeln Sie da, Samuel? Erklären Sie es mir. Warum hat sie aufgehört? Warum ist dieses verfluchte Ding einfach... gestorben?“
Samuel wirft ihr einen kurzen, flackernden Seitenblick zu. Sein Gesicht wirkt im Schein der vorbeiziehenden Straßenlaternen wie aus Stein gehauen. „In all den Chroniken, die ich über die Wächterin und ihren Fluch studiert habe - in all den Jahrhunderten der Unterdrückung - gab es keinen einzigen Bericht darüber, dass ihre Macht jemals gewankt hätte. Der Stab versagt nicht einfach. Er ist ein Instrument des Schicksals.“
Er atmet tief ein und drosselt das Tempo nur minimal, als sie sich dem Waldrand nähern. „Es gibt nur eine einzige Theorie in den verbotenen Texten, eine so radikale Vermutung, dass ich sie bisher für einen Mythos hielt. Magie dieser Art nährt sich von der Angst und der Unterwürfigkeit ihrer Opfer. Sie ist eine Dominanz, die nur funktioniert, solange das Gegenüber die Unausweichlichkeit des Fluches akzeptiert.“
Er macht eine kurze Pause, und seine Stimme wird zu einem ehrfürchtigen Flüstern. „Was heute Nacht im Wald geschehen ist, Lyra... Sie haben das Unmögliche getan. Sie haben sich nicht nur vor ihn gestellt, um zu sterben. Sie haben die Bestie geliebt, während sie blutete. Sie haben das Monster begehrt, während es im Dreck lag. In diesem Moment der absoluten, grenzenlosen Hingabe - in dieser Vereinigung von menschlicher Liebe und animalischem Schmerz - haben Sie eine Frequenz erzeugt, die stärker ist als der Hass der Hexe.“
Er schluckt schwer. „Ihre Liebe zu ihm... diese dunkle, erotische Leidenschaft, die Sie beide verbindet, hat eine Barriere geschaffen, die der Stab nicht durchbrechen konnte. Sie haben das Gesetz des Fluches gebrochen, weil Sie aufgehört haben, sich zu fürchten. Die Wächterin ist nicht einfach gegangen; sie ist geflohen, weil sie in diesem Augenblick keine Macht mehr über Sie hatte. Sie sind zur Anomalie in ihrem System geworden.“
Lyra starrt ihn an, und ein Schauder, der nichts mit der Kälte zu tun hat, läuft über ihren Rücken. Sie denkt an das Gefühl, als sie ihre Lippen auf Fenris' Schnauze presste, an die Hitze, die zwischen ihnen geflossen ist.
„Das heißt“, flüstert sie, „dass ich die Waffe bin?“
„Nein“, korrigiert Samuel sie, während er den Wagen scharf zum Stehen bringt, wo der Asphalt im dunklen Waldsaum endet. „Sie sind die Heilung. Aber die Wächterin wird diesen Affront nicht ungestraft lassen. Wir müssen uns beeilen. Wenn die Magie versagt hat, wird sie nun zu weitaus physischeren Mitteln greifen.“
Samuel reißt die Fahrertür auf, noch bevor der Motor ganz verstummt ist. Lyra springt aus der anderen Seite, den schweren Gehrock fest um ihren bebenden Körper geschlungen. Sie warten nicht auf Worte. Gemeinsam stürzen sie sich in den schwarzen Schlund des Waldes. Das Licht von Samuels starker Halogenlampe schneidet wie ein Skalpell durch die dichte, modrige Finsternis, während Lyra voraus eilt, getrieben von einem Instinkt, der sie zielsicher durch das Dickicht führt.
Die Äste peitschen gegen ihre Schultern, dorniges Gestrüpp reißt an dem Stoff des Mantels, doch sie spürt keinen Schmerz. Ihr gesamtes Universum ist auf diesen einen Punkt im Unterholz geschrumpft.
Sie erreichen die Lichtung. Der Geruch von Eisen und feuchter Erde ist hier so intensiv, dass er Lyra fast den Atem raubt. Im fahlen Lichtkegel der Lampe erscheint er: ein gewaltiger, dunkler Hügel inmitten des zertrampelten Farns.
Fenris liegt noch genau dort, wo sie ihn zurückgelassen hat. Er wirkt kleiner, zerbrechlicher unter der Last der Nacht. Als das Geräusch der herannahenden Schritte die Totenstille zerreißt, erzittern seine Ohren. Mühsam, als wiege jedes Lid eine Tonne, schlägt er die Augen auf. Das grüne Leuchten ist nur noch ein schwaches Glimmen, ein letztes Aufbäumen gegen das herannahende Vergessen. Er rührt sich nicht; er hat keine Kraft mehr für ein Knurren, keine Kraft mehr für die Flucht. Er wartet nur noch auf das Ende - oder auf sie.
„Fenris!“, bricht es aus Lyra hervor.
Sie stürmt auf ihn zu, ihre Knie schlagen hart auf dem blutgetränkten Boden auf. Sie achtet nicht auf Samuel, der im Hintergrund stehen bleibt und seine Tasche öffnet. Sie sieht nur ihn. Sofort bemerkt sie die Veränderung: Seine Atmung ist flach, ein rasselndes, unregelmäßiges Heben und Senken der Flanken, das jeden Moment auszusetzen droht. Die Kälte hat begonnen, von seinem Körper Besitz zu ergreifen.
„Ich bin hier... ich bin wieder bei dir“, flüstert sie mit erstickter Stimme.
Sie kniet sich tief in den Schlamm, beugt sich über ihn und legt ihre zitternden Hände an seinen massiven Kopf. Mit einer unendlichen Sanftheit streichelt sie über das raue Fell seiner Stirn, fährt mit den Fingerspitzen über die empfindlichen Stellen hinter seinen Ohren, genau so, wie sie es getan hätte, wenn er als Mann vor ihr läge.
„Hilfe ist da“, wispert sie dicht an seinem Ohr, ihr heißer Atem vermischt sich mit der eisigen Waldluft. „Hörst du mich? Samuel ist hier. Wir lassen dich nicht gehen. Halte durch, mein geliebter Jäger. Kämpfe für mich, so wie ich für dich gekämpft habe.“
Fenris gibt ein kaum wahrnehmbares, kehliges Geräusch von sich, ein letztes Zeichen seines Bewusstseins. Sein Blick fixiert sie, klammert sich an ihre Präsenz wie ein Ertrinkender an einen Felsen. Lyra spürt die dunkle, erotische Ladung, die trotz des nahen Todes noch immer zwischen ihnen schwirrt - eine Bindung, die tiefer geht als Fleisch und Knochen. Sie presst ihre Stirn gegen seine feuchte Schnauze, während hinter ihr Samuel herantritt, die Instrumente in der Hand, bereit, den Kampf gegen den Fluch und den Tod aufzunehmen.
Samuel kniet im Schlamm nieder, seine Bewegungen sind präzise, fast rituell. Er öffnet die Ledertasche, und das fahle Licht der Halogenlampe spiegelt sich auf dem kalten Stahl medizinischer Instrumente - Skalpelle, Klemmen und silberne Nadeln, die aus einer anderen Ära zu stammen scheinen. Der Geruch von Desinfektionsmittel mischt sich mit dem schweren Brodem von Blut und moderndem Laub.
„Lyra, hören Sie mir zu“, sagt Samuel, und seine Stimme ist jetzt so schneidend wie die Instrumente in seinen Händen. „Das ist kein gewöhnliches Sterben. Die Wächterin hat ihre Krallen in seine Essenz geschlagen. Wenn wir die Wunden nicht sofort schließen und die Fragmente ihrer Magie herausschneiden, wird sein Herz in den nächsten Minuten aufhören zu schlagen.“
Er reicht ihr ein Paar Latexhandschuhe und eine schwere Klemme. Lyra zögert keine Sekunde. Sie streift die Handschuhe über ihre zitternden, blutigen Finger. Unter dem Gehrock ist sie fast nackt, die Kälte beißt in ihre Haut, doch die Hitze, die von Fenris’ fiebrigem Körper ausgeht, ist wie ein brennender Altar.
„Halten Sie die Wundränder auseinander“, befiehlt Samuel. „Ganz fest. Egal, wie sehr er zuckt, egal, wie sehr er leidet. Wenn Sie loslassen, ist er verloren.“
Lyra beugt sich über die aufgerissene Flanke der Bestie. Mit beiden Händen greift sie in das zerfetzte Fell, ihre Finger dringen tief in das warme, klebrige Fleisch ein. Sie spürt das rasselnde Beben seiner Rippen, das unregelmäßige Pochen seines Lebenswillens. Als Samuel das Skalpell ansetzt, um das vergiftete, schwarz verfärbte Gewebe zu entfernen, stößt Fenris ein unterdrücktes, markerschütterndes Jaulen aus. Sein gesamter Körper bäumt sich auf, ein gewaltiger Muskelkrampf, der Lyra fast von den Füßen reißt.
„Halten Sie ihn!“, schreit Samuel gegen den aufkommenden Wind an.
Lyra wirft ihr gesamtes Gewicht auf ihn. Sie presst ihre nackte Brust, nur durch den dünnen Stoff des BHs und den offenen Mantel geschützt, gegen seine bebende Seite. Sie spürt sein Blut an ihrer Haut, heiß und pulsierend. „Ich hab dich, Fenris!“, keucht sie, ihre Stimme eine Mischung aus Kommando und Flehen. „Ich lass nicht los! Kämpfe mit mir!“
Es ist ein blutiges, archaisches Ballett. Während Samuel mit chirurgischer Grausamkeit Fragmente dunkler Energie aus den Wunden schneidet - rauchige, kristalline Splitter, die zischend im Licht verglühen -, wird Lyra zum Anker seiner Seele. Sie ist in Scharlachrot getränkt, ihre Hände sind bis zu den Handgelenken in seinem Innersten, und doch empfindet sie in diesem Moment eine perverse, tiefe Intimität. Es ist eine Vereinigung jenseits aller körperlichen Lust, ein Austausch von Schmerz und Leben.
Jedes Mal, wenn das Metall in seinem Fleisch schneidet, flüstert sie ihm Worte der Begierde und des Trostes ins Ohr, ihre Lippen streifen dabei fast sein zuckendes Fell. Sie ist die Brücke zwischen seinem tierischen Leid und der menschlichen Erlösung.
„Fast geschafft“, presst Samuel hervor, während er beginnt, mit einer silbernen Nadel und einem Faden, der im Licht violett schimmert, die tiefsten Risse zu nähen. Das Fleisch schließt sich unter seinen Händen mit unnatürlicher Geschwindigkeit, als würde Lyras bloße Nähe den Heilungsprozess erzwingen.
Endlich sinkt Fenris tiefer in den Boden, das panische Flattern seiner Augenlider beruhigt sich. Der Kampf ist noch nicht gewonnen, aber der Sturz in den Abgrund wurde aufgehalten.
Die Luft auf der Lichtung ist dick von der Schwüle des Blutes und dem scharfen, beißenden Geruch der antiseptischen Tinkturen, die Samuel nun verwendet. Der schlimmste Teil des chirurgischen Martyriums ist vorbei, doch das Schlachtfeld auf Fenris’ Körper ist noch immer ein Bild des Schreckens. Samuel arbeitet mit einer unterkühlten, fast mechanischen Präzision weiter; er reinigt die unzähligen kleineren Schnitte, die wie die Streiche einer Peitsche über die Flanken und Läufe der Bestie verteilt sind. Es ist eine mühsame, blutige Detailarbeit, das Nähen und Kleben von Fleisch, das sich unter der Berührung des Menschen schmerzhaft windet.
Lyra rührt sich nicht von seiner Seite. Sie ist eine Vision der Hingabe und der Verdammnis. Ihr nackter Oberkörper unter dem Gehrock ist mit Schweißperlen und roten Schlieren bedeckt, ihre Hände sind gezeichnet von der Arbeit an seinem offenen Wunden. Doch sie spürt keine Erschöpfung mehr, nur noch diese alles verzehrende Fixierung auf das Wesen unter ihr.
Sie legt ihre Hand flach auf seine Stirn, dort, wo das Fell weich ist und der Schädelknochen die Hitze seines Gehirns bewahrt. Mit langsamen, rhythmischen Bewegungen streichelt sie ihn, als wollte sie den Schmerz mit der bloßen Kraft ihrer Finger aus seinem Körper streichen. Ihr Blick ruht auf ihm, schwer und dunkel vor einer besessenen Zärtlichkeit.
„Schlaf jetzt, mein dunkler Prinz“, wispert sie, und ihre Stimme ist ein tiefes, vibrierendes Gurren, das nur für seine Ohren bestimmt ist.
Fenris hat die Augen geschlossen. Die langen, dunklen Wimpern zittern auf seinem Pelz, und seine Schnauze zuckt gelegentlich, als würde er in einem Fiebertraum noch immer gegen die Schatten der Wächterin kämpfen. Doch seine Atmung hat sich verändert. Das rasselnde, todgeweihte Keuchen ist einem schweren, unruhigen Heben und Senken gewichen - ein Kampf um Luft, ja, aber kein vergeblicher mehr. Er lebt. Das Leben pulsiert wieder durch seine gewaltigen Adern, genährt von Samuels Kunst und Lyras schierem Willen.
Jedes Mal, wenn Samuel eine Nadel setzt oder eine Wunde säubert, spürt Lyra das Echo dieses Schmerzes in ihrem eigenen Fleisch, eine Resonanz, die ihre Sinne schärft. Sie beobachtet, wie das Blut langsam gerinnt, wie die Bestie sich tiefer in das Moos drückt, als fände sie dort, in der Nähe von Lyras Schoß, den einzigen sicheren Hafen in dieser verfluchten Nacht.
Samuel hält inne, wischt sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn und betrachtet das Werk seiner Hände. Er sieht die Frau, die halb nackt über dem Monster wacht, und er erkennt, dass hier eine Macht am Werk ist, die weit über seine Medizin hinausgeht.
„Er ist stabil, Lyra“, sagt er leise, und in seiner Stimme schwingt eine tiefe Erschöpfung mit. „Aber er ist noch immer der Wolf. Der Fluch ist durch den Schmerz und das Blut nur noch tiefer in ihn hineingefressen. Er wird Kraft brauchen, um die Schwelle zurück zu uns zu finden.“
Lyra nickt, ohne den Blick von Fenris abzuwenden. Sie weiß, was Samuel meint. Die chirurgische Heilung war für den Körper; die Heilung seiner Seele, die Rückkehr des Mannes, den sie so verzweifelt begehrt, liegt allein in ihren Händen.
Samuel schließt die Schnallen seiner Tasche mit einem endgültigen, metallischen Klicken. Die Stille des Waldes kehrt zurück, schwer und erwartungsvoll. Er richtet sich auf, seine Glieder wirken nach der blutigen Arbeit hölzern und alt. Das Licht der Halogenlampe zittert ein letztes Mal über die Szenerie, bevor er es dämpft.
„Es ist vorbei für heute Nacht, Lyra“, sagt er, und seine Stimme ist belegt von der Kälte und dem Grauen. „Wir müssen gehen. Die Wächterin mag vertrieben sein, aber dieser Wald ist kein Ort für eine sterbliche Frau in einer Nacht wie dieser. Er braucht Ruhe, und Sie brauchen Schutz. Kommen Sie.“
Doch Lyra rührt sich nicht. Sie sitzt noch immer im Schlamm, die Knie tief im blutigen Moos, den Blick unnachgiebig auf die schwarze Gestalt zu ihren Füßen geheftet. In diesem Moment ist sie keine Frau mehr, die Schutz sucht - sie ist die Gefährtin, die über ihr Territorium wacht.
„Ich gehe nicht, Samuel“, erwidert sie, und die Ruhe in ihrer Stimme ist erschütternder als jeder Schrei. „Ich lasse ihn nicht hier liegen wie ein verletztes Tier, das man vergisst. Ich bleibe bei ihm. Bis zum Morgen. Bis er weiß, dass er nicht allein ist.“
Samuel betrachtet sie lange. Er sieht die Spuren von Blut auf ihrer Haut, die wilde Entschlossenheit in ihren Augen und die Art, wie sie den schweren Gehrock wie eine Rüstung trägt. Er erkennt, dass jedes Argument an der Mauer ihres Verlangens zerschellen würde. Er seufzt tief, bückt sich noch einmal und holt eine kleine Flasche mit einer dunklen Essenz sowie saubere Leinenzutaten aus seiner Tasche.
„Verwenden Sie das morgen früh für die Nähte“, weist er sie an und stellt die Dinge auf eine trockene Wurzel. „Es wird das Fieber senken und die Heilung beschleunigen.“ Er zögert, legt ihr kurz eine Hand auf die Schulter - eine seltene Geste der Empathie - und wendet sich dann ab. „Passen Sie auf sich auf, Lyra. Das Band, das Sie geknüpft haben, ist nun das Einzige, was ihn hält.“
Seine Schritte verhallen im Unterholz, bis das ferne Aufheulen seines Motors die letzte Verbindung zur Zivilisation kappt.
Nun ist sie allein mit ihm.
Lyra zieht den massiven Gehrock fester um sich, spürt das raue Futter auf ihrer nackten, fröstelnden Haut. Dann lässt sie sich langsam zu Boden gleiten. Sie legt sich direkt neben Fenris, in den Dreck und das Blut, ohne Rücksicht auf die Zerstörung ihrer Kleidung oder ihrer Würde.
Sie schmiegt ihren Körper an seinen massiven Rücken, spürt die enorme Hitze, die von seinem Fell ausgeht, und die Kraft, die trotz der Verletzungen in seinen Muskeln ruht. Sie stützt sich auf einen Ellbogen und sieht ihn an. Sein Kopf liegt schwer auf den Vorderpfoten, die Augen sind geschlossen, die Lefzen zucken kaum merklich im Schlaf.
Sie streichelt mit den Fingerspitzen über die weiche Stelle zwischen seinen Ohren, ihre Hand wandert hinunter zu seinem Hals, wo sie den langsamen, aber stetigen Schlag seiner Halsschlagader spürt. Es ist ein heiliger Moment der Isolation. Hier, in der Tiefe der Nacht, gibt es keine Hexe, keinen Fluch und keine Moral - nur das Tier und die Frau, die es gezähmt hat, indem sie selbst wild wurde.
Sie schließt die Augen und legt ihr Ohr an seine Flanke. Sie lauscht seinem Atem - diesem schweren, erdigen Rhythmus, der nun ihr eigener Herzschlag geworden ist.
Die Kälte des Waldbodens sickert langsam in Lyras Knochen, während sie, erschöpft von dem blutigen Martyrium und der schieren Wucht ihrer Gefühle, in einen tiefen, bleiernen Schlaf sinkt. Ihr Kopf ruht auf Fenris’ flackernder Flanke, sein schwerer Atem ist das Wiegenlied, das sie in die Abgründe ihres Unterbewusstseins gleitet lässt.
Doch dort, in der schattenhaften Zwischenwelt der Träume, wartet die Wächterin.
Plötzlich ist der Wald verschwunden. Lyra findet sich in einer endlosen, spiegelglatten Schwärze wieder. Der Geruch von Fenris ist fort, ersetzt durch den beißenden Gestank von Verwesung und kaltem Staub. Vor ihr materialisiert sich die Gestalt der Antiquitätenhändlerin, doch sie wirkt nun gigantisch, ihre Züge verzerren sich zu einer Fratze aus uraltem Spott.
„Du glaubst, du hättest gewonnen, kleine Närrin?“, hallt die Stimme der Wächterin durch Lyras Verstand, ein bösartiges Echo, das an ihren Gedanken reißt. „Du liegst im Dreck neben einer Bestie und nennst es Liebe. Aber sieh genau hin. Sieh, was du wirklich begehrst.“
Bilder fluten Lyras Geist, projiziert von der dunklen Magie der Hexe. Sie sieht Fenris, wie er sie zerfleischt, seine Zähne an ihrer Kehle, seine Augen leer und hungrig. Sie sieht sich selbst, wie sie zu einem Schatten ihrer selbst verkommt, eine Sklavin seiner wilden Natur, einsam und verflucht in diesem Wald verrottend.
„Gib ihn auf“, flüstert die Erscheinung und tritt näher, kalte Finger aus Nebel streifen Lyras Wange. „Lass ihn verbluten. Kehr zurück in dein sicheres, kleines Leben. Wenn du bleibst, wirst du selbst zur Bestie. Du wirst den Geschmack von rohem Fleisch lieben lernen, du wirst die Kälte der Einsamkeit als deinen einzigen Gott akzeptieren. Deine Leidenschaft ist kein Segen - sie ist der Strick, an dem ich dich aufhängen werde.“
Die Wächterin versucht, Lyras Geist mit Zweifel und Ekel zu füllen. Sie zeigt ihr die hässliche Fratze des Todes, das Unnatürliche ihrer Verbindung. Sie will, dass Lyra sich vor dem Monster neben ihr ekelt, dass sie das Blut an ihren Händen als Schande empfindet.
Doch Lyra steht in ihrem Traum unerschütterlich fest. Trotz der Dunkelheit, die nach ihr greift, spürt sie noch immer die physische Realität von Fenris’ Körper an ihrer Seite.
„Du verstehst es nicht“, antwortet Lyra, und ihre Stimme im Traum klingt wie das Läuten einer silbernen Glocke, die die Schwärze zerreißt. „Du kennst nur die Macht der Unterdrückung. Du weißt nichts von der Macht der Hingabe. Er ist kein Monster für mich - er ist der Spiegel meiner eigenen ungezähmten Seele.“
Wut flammt in Lyra auf, eine brennende, goldene Kraft, die aus ihrem Herzen gespeist wird. Sie lässt die Bilder der Zerstörung nicht zu. Stattdessen ruft sie sich das Gefühl seiner Haut in Erinnerung, die Besessenheit in seinem Blick, die erotische Spannung, die sie beide über den Abgrund trägt.
„Verschwinde aus meinem Kopf!“, befiehlt sie mit einer Autorität, die den Traum erzittern lässt. „Du kannst mein Fleisch verletzen, aber mein Verlangen gehört mir. Ich wähle die Dunkelheit an seiner Seite tausendmal eher als dein kaltes Licht.“
Mit einem machtvollen Willensakt stößt Lyra die Vision von sich weg. Das gesichtslose Oval der Wächterin verzerrt sich zu einem lautlosen Schrei des Entsetzens, als Lyras inneres Feuer die Schatten wegbrennt. Die schwarze Spiegelwelt zerbricht wie Glas.
Keuchend schreckt Lyra in der realen Welt auf. Der Morgen dämmert grau und neblig durch die Kronen der Bäume. Ihr Herz rast, aber als sie nach unten blickt, liegt Fenris noch immer da. Seine Wunden sind ruhig, sein Atem ist tiefer geworden.
Sie hat die Schlacht in ihrem Geist gewonnen.
Das fahle Licht des Morgengrauens sickert wie flüssiges Blei durch das dichte Blätterdach und taucht die Lichtung in ein geisterhaftes Silber. Lyra rührt sich nicht. Sie liegt noch immer eng an Fenris’ massige Flanke geschmiegt, den schweren Gehrock wie eine gemeinsame Haut über sie beide gebreitet. Die Kälte der Nacht klammert sich noch an die Farne, doch die Hitze, die von dem gewaltigen Körper des Wolfes ausgeht, ist wie ein glühender Ofen, der sie vor dem Erfrieren bewahrt.
Sie schließt für einen Moment die Augen und konzentriert sich ganz auf das Geräusch seines Atems. Er ist jetzt gleichmäßig, ein tiefes, beruhigendes Grollen in seiner Brust, das nicht mehr nach Tod und Verfall klingt, sondern nach der rohen, regenerativen Kraft eines Raubtieres. Dieses rhythmische Heben und Senken unter ihrer Wange nimmt ihr die lähmende Sorge, die ihr Herz die ganze Nacht wie eine eiserne Faust umklammert hat. Er lebt. Die chirurgische Grausamkeit Samuels und ihre eigene, opferbereite Nähe haben den Abgrund vorerst geschlossen.
Doch mit der schwindenden Todesgefahr kehrt die harte Realität des Überlebens zurück. Lyra spürt das Zittern in seinen Muskeln - es ist nicht mehr nur der Schmerz, es ist die totale Erschöpfung. Ein Körper, der so viel Blut verloren und gegen eine solch finstere Magie gekämpft hat, braucht Nahrung. Er braucht die Essenz des Lebens, um die Zellen zu schließen, die Samuel mühsam zusammengefügt hat.
Er muss trinken, denkt sie fieberhaft. Er braucht Wasser, um das Fieber der Wächterin auszuwaschen, und er braucht Fleisch, um wieder zu Kräften zu kommen.
Sie hebt den Kopf und sieht sich mit brennenden Augen um. Ihre Lippen sind trocken, ihr eigener Körper verlangt nach Erholung, doch ihr Geist arbeitet bereits wie der einer Jägerin. Irgendwo in der Nähe muss ein Bach fließen; sie erinnert sich an das ferne Gurgeln, das sie auf ihrem rasanten Weg in den Wald wahrgenommen hat. Aber wie soll sie das Wasser zu ihm bringen? Sie hat kein Gefäß, nichts als ihre hohlen Hände.
Und das Fressen... Ein Schauer läuft über ihren Rücken, der nichts mit der Kälte zu tun hat. Sie blickt auf die kräftigen Kiefer der Bestie, die nun friedlich auf dem Moos ruhen. Sie weiß, dass er in dieser Gestalt kein Brot und keinen Wein annimmt. Er braucht das Blut, die Proteine, die vitale Energie. Die Vorstellung, für ihn zu jagen, für ihn das zu beschaffen, was die Natur von einem Fleischfresser verlangt, löst in ihr eine seltsame, dunkle Erregung aus. Es ist der ultimative Akt der Fürsorge - die Gefährtin, die für ihren verletzten Alpha sorgt.
Sie streichelt noch einmal über die weiche Stelle hinter seinen Ohren, ihre Finger gleiten durch das nun trocknende Fell. „Ich verlasse dich nur für einen Moment“, flüstert sie, und ihre Stimme ist rau vor Müdigkeit und Entschlossenheit. „Ich sorge für dich, Fenris. Ich bringe dir, was du brauchst.“
Sie weiß, dass sie die Zivilisation hinter sich gelassen hat. Hier im Wald gibt es keine Supermärkte, keine Regeln der modernen Welt. Wenn sie will, dass er überlebt, muss sie die Wege der Wildnis akzeptieren.
Lyra erhebt sich langsam, ihre Glieder sind steif von der unnachgiebigen Kälte und der feuchten Erde. Sie schlingt den Gehrock enger um ihren Körper, spürt das raue Tuch auf ihrer bloßen Haut - ein letztes Relikt seiner Welt, das sie vor der Wildnis schützt. Ihr Blick gleitet noch einmal über Fenris, der wie ein schwarzer Fels im dämmrigen Grau liegt, bevor sie sich abwendet.
„Ich bin gleich zurück“, wispert sie dem Wind zu.
Sie tritt in das tiefere Dickicht. Der Wald um sie herum scheint sich mit jedem Meter zu verändern, als würde die Natur selbst gegen ihr Eindringen rebellieren. Die Stämme der uralten Buchen rücken enger zusammen, ihre knorrigen Äste verflechten sich zu einem undurchdringlichen Baldachin, der das spärliche Morgenlicht verschluckt. Es herrscht eine unnatürliche, fast sakrale Stille, die nur vom Knacken kleiner Zweige unter ihren Füßen unterbrochen wird.
Dann hört sie es: Das helle, kristalline Lachen fließenden Wassers. Ein Bach.
Lyra beschleunigt ihre Schritte. Das Rauschen wird lauter, ein verlockendes Versprechen von Reinheit und Leben. Sie schmeckt die kühle Feuchtigkeit bereits in der Luft. Doch als sie ein dichtes Farngebüsch beiseite schiebt, wo das Geräusch am stärksten ist, starrt sie nur auf nasses, schwarzes Laub.
Stille.
Sie hält den Atem an, das Herz klopft ihr bis zum Hals. Einen Moment später ertönt das Plätschern erneut, diesmal von links, hinter einer Gruppe moosbewachsener Felsen. Sie eilt dorthin, die Hoffnung treibt sie an, doch wieder findet sie nichts als dichte Schatten und modrige Erde.
Es ist, als würde der Wald mit ihr spielen. Ein grausames, Versteckspiel, bei dem die Witterung der Erlösung immer wieder kurz vor ihren Fingern zerfließt. Jedes Mal, wenn sie glaubt, das Ufer erreicht zu haben, verstummt das Rauschen abrupt, nur um an einer anderen Stelle, tiefer im Dunkel, wieder aufzuerstehen. Es ist, als würde eine unsichtbare Hand - vielleicht das Echo der Wächterin, vielleicht der boshafte Geist dieses Ortes - sie tiefer in die Irre führen wollen.
„Hör auf damit!“, ruft sie in die Leere, und ihre Stimme zittert vor einer Mischung aus Wut und Verzweiflung.
Sie fühlt sich beobachtet. Die Luft beginnt elektrisch zu knistern, ein vertrautes Prickeln auf ihrer Haut, das sie an die dunkle Magie der vergangenen Nacht erinnert. Der Wald scheint sie prüfen zu wollen: Ist sie stark genug, das Elixier für ihren Geliebten zu finden, oder wird sie im Labyrinth der Sinnestäuschungen verloren gehen?
Ein erneutes Gurgeln, diesmal fast direkt vor ihren Füßen. Lyra verharrt regungslos. Sie schließt die Augen und verlässt sich nicht mehr auf ihr Gehör, sondern auf jene animalische Intuition, die sie durch Fenris' Blut in sich aufgenommen hat.
Lyra verharrt vollkommen regungslos. Sie hört auf, gegen den Wald anzukämpfen, und lässt das hektische Jagen ihrer Sinne ersterben. Die tückischen Lockrufe des fernen Rauschens ignoriert sie; sie weiß nun, dass das Gehör eine Lüge ist, gewebt aus dem hämischen Willen der Wächterin. Sie schließt die Augen und lässt die Stille in sich hinein, bis sie den Schlag ihres eigenen Herzens und das ferne, schwere Echo von Fenris’ Puls spürt.
Und dann findet sie sie: Eine Stille innerhalb der Stille. Ein Ort, an dem der Wind nicht wagt, durch die Blätter zu fahren.
Sie öffnet die Augen und blickt nicht mehr in die Ferne, sondern direkt zu ihren Füßen. Dort, unter dem gewaltigen, knorrigen Wurzelwerk einer uralten Eiche, deren Rinde wie versteinerte Haut wirkt, schimmert etwas. Lyra kniet sich nieder, die Knie im kalten Schlamm, und schiebt mit zitternden Fingern eine dichte Schicht aus schwerem, schwarzem Moos beiseite.
Dahinter offenbart sich ein kleines, tiefes Becken, verborgen im Schoß der Erde.
Lyra stockt der Atem. Das Wasser ist kein gewöhnliches Waldwasser. Es leuchtet in einem unnatürlichen, pulsierenden Türkis - eine Farbe, so intensiv und fremdartig, dass sie fast die Dunkelheit unter den Wurzeln erhellt. Es ist exakt dieselbe leuchtende Essenz, die sie auf der geheimen Lichtung gesehen hat, dort, wo die Mondblume unter dem Einfluss des Fluches blüht. Es ist flüssiges Sternenlicht, vermischt mit der uralten Magie dieses Bodens.
Ein schwerer, süßlicher Duft nach Ozon und gefrorenen Blumen steigt aus der Quelle auf. Lyra spürt ein Prickeln auf ihren Lippen, eine erotische Elektrizität, die durch ihre Fingerspitzen schießt, als sie die Oberfläche berührt. Das Wasser ist nicht kalt; es ist geladen mit einer vibrierenden Hitze, die direkt in ihr Blut übergeht.
Sie weiß instinktiv, dass dies kein Zufall ist. Der Wald hat ihr dieses Geschenk erst offenbart, als sie ihre eigene Angst besiegt hat. Dies ist das Blut der Erde, die einzige Medizin, die stark genug ist, um das Gift der Krähen aus Fenris’ Körper zu waschen.
Vorsichtig formt sie ihre Hände zu einer Schale. Das türkisfarbene Wasser schimmert in ihren Handflächen wie flüssige Edelsteine, und das Licht spiegelt sich auf ihrer bleichen Haut unter dem offenen Gehrock. Sie führt die Hände an ihre Lippen, kostet nur einen Tropfen - und spürt, wie eine Welle aus purer, wilder Energie durch ihren Körper rollt, ihre Sinne schärft und ihr Verlangen nach dem Mann, dem Wolf, dem sie gehört, ins Unermessliche steigert.
„Das wird dich zurückbringen“, flüstert sie, und ihre Augen glühen nun im selben unheimlichen Türkis wie die Quelle.
Doch wie soll sie dieses kostbare Licht über die Distanz zu ihm bringen, ohne dass es durch ihre Finger rinnt?
Lyra starrt auf das pulsierende Türkis in ihren Händen und trifft eine Entscheidung, die von purer Notwendigkeit und einem Hauch von Wahnsinn getrieben ist. Sie kann dieses flüssige Licht nicht in ihren Händen halten, und jeder Tropfen, der im Erdreich versickert, wäre ein Verrat an Fenris’ Leben.
Mit einer entschlossenen Bewegung streift sie den schweren Gehrock von ihren Schultern. Zum ersten Mal steht sie vollkommen schutzlos im fahlen Licht des Morgens, die kühle Waldluft peitscht gegen ihre nackte Haut, lässt ihre Brustwarzen unter dem schwarzen Spitzen-BH hart werden und schickt Schauer über ihren Rücken. Doch die Scham ist längst der Besessenheit gewichen.
Sie breitet den Mantel vor der Quelle aus. Der Stoff ist dicht gewebt, ein Erbstück aus einer Zeit, in der Kleidung noch wie eine Rüstung gegen das Schicksal fungierte. Sie formt aus dem schweren Material eine tiefe Mulde, ein improvisiertes Gefäß aus Wolle und dunkler Geschichte.
Vorsichtig, fast ehrfürchtig, beginnt sie, das leuchtende Wasser mit ihren hohlen Händen in den Stoff zu schöpfen. Sobald das türkisfarbene Elixier das dunkle Futter des Gehrocks berührt, geschieht etwas Unheimliches. Der Stoff saugt die Flüssigkeit nicht einfach auf; er beginnt zu reagieren. Wo das Wasser auf die Wolle trifft, fangen die Fasern an zu glühen, als würde die Magie des Mantels - getränkt mit Fenris’ eigenem Geruch und seiner Essenz - mit der Reinheit der Quelle verschmelzen.
Ein tiefes Violett mischt sich in das Türkis, kleine Funken sprühen an den Rändern der Stoffmulde auf. Es riecht nach verbranntem Zimt und schwerem Moschus. Lyra spürt die Hitze durch den Stoff in ihre Handflächen dringen, ein pulsierendes Pochen, das sich wie ein zweiter Herzschlag anfühlt. Der Gehrock wird schwer, schwerer als er sein dürfte, geladen mit einer Macht, die weit über die Physik hinausgeht.
„Halte durch“, murmelt sie, während sie die Enden des Mantels fest zusammenrafft, um einen ausbruchssicheren Beutel zu formen. Das Leuchten schimmert durch die groben Poren des Stoffes, wirft tanzende, unheimliche Schatten auf ihren nackten Bauch.
Sie sieht aus wie eine gefallene Priesterin des Waldes, die einen heiligen Schatz birgt. Mit vorsichtigen, aber kraftvollen Schritten beginnt sie den Rückweg. Jede Bewegung ist eine Qual für ihre erschöpften Muskeln, und das Gewicht des wassergefüllten Mantels zerrt an ihren Armen, doch die Vorstellung, Fenris dieses Elixier zu bringen, peitscht sie voran.
Als sie die Lichtung erreicht, bricht das erste echte Sonnenlicht durch das Blätterdach und trifft auf das glühende Bündel in ihren Armen. Fenris hebt schwach den Kopf, seine Nüstern beben. Er wittert nicht nur das Wasser, er wittert die Magie, die Lyra für ihn gebändigt hat.
Lyra kniet sich zu ihm, das leuchtende Bündel zwischen ihnen auf dem Boden. „Ich habe es“, keucht sie, während Schweißperlen an ihren Schläfen herunterlaufen. „Trink. Trink das Licht.“
Sie kniet im feuchten Moos, eine schutzlose Gestalt aus bleicher Haut und lodernder Entschlossenheit. Die Morgenkälte beißt in ihre nackten Schultern, doch sie spürt nur die vibrierende Hitze des Bündels in ihren Armen. Mit fast ritueller Vorsicht beginnt sie, die zusammengepressten Enden des Gehrocks zu lockern.
Sobald sich der schwere Stoff öffnet, ergießt sich ein irisierendes, türkisfarbenes Licht über die Lichtung. Das Wasser im Inneren des Mantels ist nicht mehr bloß eine Flüssigkeit; es ist eine pulsierende, lebendige Essenz, die wie flüssiger Opal in der dunklen Wolle schimmert. Ein dichter, süßlicher Dampf steigt auf und hüllt sie beide in einen berauschenden Nebel aus Ozon und wilden Blumen.
Fenris hebt mühsam das Haupt. Seine Augen, die eben noch trüb vor Schmerz waren, weiten sich, als das Leuchten seine Netzhaut trifft. Ein tiefes, heiseres Grollen entrinnt seiner Kehle - kein Ausdruck von Aggression, sondern ein rasselndes Verlangen. Er riecht die uralte Magie der Quelle, die Reinheit, die seinen geschundenen Körper von innen heraus heilen kann.
„Hier...“, flüstert Lyra, ihre Stimme ist brüchig vor Ehrfurcht. Sie hält den Mantel wie einen heiligen Kelch vor seine Schnauze. „Trink, Fenris. Nimm dir, was du brauchst.“
Die Bestie beugt sich vor. Seine raue, dunkle Zunge taucht in das leuchtende Elixier. Mit jedem Schluck, den er gierig aufnimmt, scheint ein elektrischer Schlag durch seinen massiven Körper zu fahren. Lyra beobachtet mit angehaltenem Atem, wie das Türkis der Flüssigkeit auf seine Lefzen übergeht und seine gesamte Erscheinung zu illuminieren beginnt.
Es ist ein Anblick von roher, archaischer Erotik. Lyra sieht zu, wie die kraftvollen Muskeln seines Halses unter dem schwarzen Fell arbeiten, während sie das Gewicht des nassen Mantels hält. Das Wasser, das durch den Stoff gesickert ist, benetzt ihre eigenen Oberschenkel und ihren Bauch, hinterlässt glühende Spuren auf ihrer Haut. Sie ist dem Tod und dem Leben zugleich so nah, dass die Grenzen verschwimmen. Sie spürt seine Dankbarkeit in der Luft, eine telepathische Welle aus Hitze und Erleichterung, die sie tiefer berührt als jede menschliche Berührung.
Während er trinkt, beginnen die tiefen Wunden an seinen Flanken zu reagieren. Das Fleisch unter den Nähten, die Samuel so mühsam gesetzt hat, fängt an zu zucken. Ein silbriger Glanz legt sich über die Risse, als würde das Wasser das Gift der Wächterin wie Schmutz einfach hinwegspülen.
Fenris hält inne, sein Atem geht nun tiefer, kräftiger. Er hebt den Kopf und sieht Lyra direkt in die Augen. Das Leuchten des Wassers spiegelt sich in seinem Smaragdblick wider, und für einen Moment sieht sie nicht mehr nur das Tier, sondern den Mann, der in dieser Hülle gefangen ist - dankbar, hungrig und unendlich gebunden an die Frau, die für ihn in die Dunkelheit gegangen ist.
„Mehr?“, fragt sie sanft, während ihr ein Tropfen des magischen Wassers über das Dekolleté rinnt.
Fenris stößt ein tiefes, sanftes Schnauben aus und senkt den Kopf, eine Geste der Sättigung und des tiefsten Vertrauens. Er braucht nicht mehr zu trinken; das Feuer in seinem Inneren ist entfacht. Lyra versteht seine wortlose Antwort sofort. Mit einer fast andächtigen Langsamkeit taucht sie ihre bloßen Hände in das restliche, glühende Türkis, das sich in den Falten des Gehrocks gesammelt hat.
Sie beginnt, das Wasser über seine zerfetzten Flanken zu gießen. Wo die leuchtende Flüssigkeit das verkrustete Blut und die tiefen Risse berührt, zischt es leise, als würde das Licht gegen die Dunkelheit kämpfen. Lyra streicht mit ihren Handflächen über sein Fell, wäscht die Spuren der Qual fort, während der Dampf des Elixiers ihre nackte Haut umschmeichelt.
„Samuel und ich... wir haben etwas begriffen, Fenris“, flüstert sie, und ihre Stimme ist ein warmes Band in der kühlen Morgenluft. Sie beugt sich so tief über ihn, dass ihre lockigen Haare seine Schnauze streifen. „Die Wächterin... sie ist nicht unbesiegbar. Ihr Stab, diese uralte Bosheit - er hat versagt, weil er auf etwas gestoßen ist, das er nicht berechnen konnte.“
Sie hält inne und presst ihre nassen, glühenden Handflächen auf eine besonders tiefe Naht an seiner Schulter. Ein Schauer läuft über seinen Körper, und er schließt die Augen, während er ihrer Beichte lauscht.
„Sie nährt sich von deiner Unterwerfung, von deinem Schmerz und meiner Angst“, fährt sie fort, und ein gefährliches, stolzes Lächeln umspielt ihre Lippen. „Aber gestern Nacht, als ich vor dir stand... da gab es keine Angst mehr. Da war nur noch dieses brennende Verlangen, dich zu halten, dich zu besitzen, dich zu retten. Samuel sagt, unsere Verbindung - diese dunkle, unkontrollierbare Leidenschaft - hat eine Frequenz erzeugt, die ihren Fluch gestört hat. Du bist nicht mehr allein in deinem Käfig, Fenris. Ich bin mit hineingestiegen.“
Sie führt ihre feuchten Finger zu ihrem eigenen Dekolleté und verstreicht die Reste des türkisfarbenen Wassers auf ihrer Haut, direkt über ihrem klopfenden Herzen. „Sie nennt dich ein Monster, aber für mich bist du die einzige Wahrheit in dieser verlogenen Stadt. Dass ihr Stab zerbrochen ist... das war kein Zufall. Es war das Zeichen, dass wir die Regeln umschreiben können.“
Fenris öffnet die Augen. Das Grün seiner Iris leuchtet nun so intensiv wie nie zuvor, durchtränkt von der Magie der Quelle und der Kraft ihrer Worte. Er fixiert sie mit einem Blick, der so voller roher, Intensität ist, dass Lyra den Atem anhält. Er versteht jetzt. Die Wächterin hat nicht nur einen Feind, sie hat ein Gegenüber gefunden, das bereit ist, die gesamte Welt für diese sündige Liebe in Brand zu stecken.
Lyra streicht ein letztes Mal über ihre Wange, ihre Haut brennt dort, wo das Wasser getrocknet ist. „Wir werden einen Weg finden, dich ganz zurückzuholen. Nicht als das Opfer eines Fluches, sondern als den Mann, der diese Wildnis beherrscht.“
Lyra verharrt noch einen Moment in der hockenden Position, die Fingerspitzen tief im dichten Fell seines Nackens vergraben. Die Stille der Lichtung ist trügerisch friedlich, doch das Türkis in seinen Adern arbeitet bereits. Sie spürt das Pochen seiner Vitalität, ein Rhythmus, der nun wieder kraftvoll gegen ihre Handflächen schlägt. Sie muss gehen, so sehr es ihr Herz auch in tausend Scherben reißt, ihn hier schutzlos zurückzulassen.
Sie blickt an sich herab. Sie ist eine Vision des Grauens und der Ekstase zugleich: Ihre Haut ist verkrustet mit getrocknetem Blut und Schlamm, ihre Haare ein Nest aus Zweigen, und unter dem nassen, schwer gewordenen Gehrock trägt sie kaum mehr als die Erinnerung an Zivilisation. Sie braucht die Reinigung des Wassers, die heiße Dusche, die den Geruch des Todes von ihr wäscht, aber vor allem braucht sie Substanz für ihn. Ein Wolf seines Kalibers kann nicht von magischem Wasser allein genesen; er braucht Fleisch, rohe Energie, um die chirurgischen Wunden von innen heraus zu schließen.
Vorsichtig hebt sie sein schweres Haupt und blickt ihm tief in die glühenden Augen. „Ich muss dich verlassen, nur für ein paar Stunden“, flüstert sie, und ihre Stimme zittert vor der unterdrückten Angst, dass die Schatten zurückkehren könnten, sobald sie den Waldrand erreicht. „Ich hole dir Nahrung. Und ich muss Samuel finden. Er muss wissen, dass die Erde selbst begonnen hat, dich zu heilen. Die Quelle... sie ist der Schlüssel.“
Fenris gibt ein leises, kehliges Brummen von sich, ein Geräusch, das tief in ihrem Schoß vibriert und ihr eine Gänsehaut über den Rücken jagt. Er scheint zu verstehen, dass sie als seine Jägerin in die Stadt zurückkehren muss, um seine Existenz zu sichern. Er leckt ihr einmal über die Handfläche - eine raue, warme Geste der Zustimmung und des Besitzanspruches.
Lyra erhebt sich mühsam. Sie zieht den nassen, schweren Gehrock wieder über ihre Schultern. Er ist klamm und duftet nach dem türkisfarbenen Wasser und Fenris’ wildem Moschus, eine berauschende Mischung, die sie wie ein unsichtbares Band an diesen Ort fesselt. Sie tritt ein paar Schritte zurück, den Blick fest auf ihn gerichtet, als wollte sie seine Gestalt mit ihrer bloßen Willenskraft beschützen.
„Rühr dich nicht weg. Versteck dich im Farn, wenn die Sonne höher steigt“, beschwört sie ihn.
Sie dreht sich um und beginnt zu laufen, erst langsam, dann immer schneller, während das Adrenalin sie erneut peitscht. Der Wald scheint sie diesmal bereitwilliger freizugeben, als hätte er ihren Dienst an der Bestie akzeptiert. Doch im Hinterkopf hämmert bereits die nächste Sorge: Wie wird Samuel reagieren, wenn er erfährt, dass die alte Magie der Mondblumen-Lichtung nun durch Lyras Hände direkt in Fenris’ Blut geflossen ist?