Lyra & Fenris - Moonbound Kapitel 16
Was mit Blut gebunden ist
Rosevil ist nicht länger nur eine Stadt aus Nebel und Schweigen - sie ist ein Vorhof der Verdammnis.
Als Lyra nach einer blutigen Nacht in ihr Haus zurückkehrt, erkennt sie, dass die Wächterin die Grenze überschritten hat. Runen aus Blut, eine verbrannte Mondblume und eine Vision von Verrat reißen alte Gewissheiten auf und stellen alles infrage, was Lyra über Liebe, Schicksal und sich selbst zu wissen glaubte.
Zwischen düsteren Prophezeiungen, einer flammenden Quelle und der wachsenden Wildheit in ihrem eigenen Inneren wird klar: Der Kampf um Fenris findet nicht nur im Wald statt - er tobt in Lyras Blut.
Gejagt von Schatten, verfolgt von einer fremden Bestie und getrieben von einer Liebe, die zugleich Erlösung und Untergang verspricht, muss sie eine Entscheidung treffen, die keine Rückkehr erlaubt.
Die Stadt Rosevil liegt unter einer bleiernen Glocke aus grauem Nebel, als Lyra die ersten gepflasterten Straßen erreicht. Es ist die gespenstische Stille eines Ortes, der seine Seele längst an die Schatten verloren hat. Die wenigen Gestalten, die über den Asphalt huschen, wirken wie traurige Statisten in einem Albtraum - die Köpfe tief in die Kragen gezogen, die Blicke starr auf den Boden gerichtet, als fürchteten sie, der Himmel könnte über ihnen einstürzen. Niemand sieht sie an. Niemand bemerkt die Frau im blutgetränkten, überdimensionalen Gehrock, deren Haut unter dem schweren Stoff vor unterdrückter Wildheit bebt.
Lyra fühlt sich wie eine Fremde in ihrer eigenen Welt. In ihr brennt noch immer die Hitze der türkisfarbenen Quelle, während diese Menschen hier nur noch aus Staub und Resignation zu bestehen scheinen.
Ihre Schritte hallen hohl wider, als sie die Stufen zu ihrem Haus hinaufsteigt. Ihr Körper verlangt nach Erlösung, nach der reinigenden Flut heißer Duschen, die das Metall des Blutes von ihren Poren waschen. Mit zitternden Fingern greift sie in die Tasche des Gehrocks und zieht ihren Schlüsselbund hervor. Das kalte Metall klirrt leise - ein normales Geräusch in einer völlig unnormalen Welt.
Doch als sie den Schlüssel zum Schloss führen will, erstarrt sie.
Ein eiskalter Schauer jagt über ihren Rücken, und die feinen Härchen an ihren Armen stellen sich auf. Die schwere Eingangstür ist nicht verschlossen. Sie steht einen winzigen Spalt breit offen, gerade weit genug, um eine gähnende Schwärze im Inneren des Flurs preiszugeben.
Lyra hält den Atem an. Ihr Herz, das eben noch im Rhythmus des Waldes schlug, hämmert nun schmerzhaft gegen ihre Rippen. Sie weiß ganz genau, dass sie die Tür gestern ins Schloss geworfen hat, als sie gegangen ist.
Ein leichter Luftzug weht aus dem Inneren des Hauses nach draußen. Er trägt nicht den vertrauten Geruch von altem Holz und Lavendel, den sie so liebt. Stattdessen strömt ihr ein Geruch entgegen, der ihre Eingeweide zusammenkrampfen lässt: der süßliche, modrige Gestank von verwelkten Blumen und der kalte Hauch von Weihrauch, wie er nur in Gruften vorkommt.
Ist Samuel hier? Oder hat die Wächterin den Kampf in ihr privates Heiligtum getragen?
Lyra legt die Hand flach gegen das Holz. Ihre Knöchel sind noch immer schmutzig vom Waldboden und Blut. Sie spürt eine dunkle Vibration, die von der Tür ausgeht, ein hämisches Flüstern, das nur in ihrem Verstand existiert. Sie ist fast nackt unter dem Mantel ihres Geliebten, erschöpft und verletzlich, doch die Wut, die sie im Wald gerettet hat, flammt wieder auf.
Mit einem entschlossenen Stoß drückt sie die Tür ganz auf. Die Angeln quietschen wie ein gequälter Schrei.
„Samuel?“, ruft sie heiser, doch nur die Stille antwortet ihr.
Lyra tritt über die Schwelle, und die vertraute Geborgenheit ihres Hauses fühlt sich plötzlich wie eine Falle an. Die Luft ist schwer, fast ölig, und das Licht des Vormittags dringt nur zögerlich durch die Fenster, als würde es sich vor dem fürchten, was im Inneren lauert. Ihr Herzschlag ist ein wildes Trommeln in ihren Ohren, während sie den Gehrock enger um ihre fast nackte Brust zieht. Das Blut an ihren Händen ist längst getrocknet, doch die Dunkelheit, die sie aus dem Wald mitgebracht hat, scheint hier drinnen nach ihr zu greifen.
Ihre Schritte führen sie wie von Geisterhand geleitet in Richtung des großen Flurspiegels - ein antikes Stück mit einem schweren, goldenen Rahmen, das normalerweise ihr eigenes, erschöpftes Ebenbild reflektieren sollte.
Doch was sie sieht, lässt das Blut in ihren Adern gefrieren.
Das Glas ist nicht mehr klar. Es ist besudelt mit einer dicken, dunklen Flüssigkeit, die in langsamen, zähen Bahnen am Spiegel herabläuft. Es ist Blut, noch frisch genug, um metallisch zu glänzen, aber bereits von einem unnatürlichen Schwarz durchsetzt. Es wurde nicht wahllos verdeckt; jemand - oder etwas - hat mit manischer Präzision Symbole auf das Glas gemalt.
Es sind uralte Runen des Verfalls, Zeichen, die Lyra nicht lesen kann, deren Bedeutung sie aber in Mark und Bein spürt. Sie krümmen sich wie schwarze Nattern über die glatte Oberfläche und scheinen in der schwachen Beleuchtung zu pulsieren. In der Mitte des Spiegels, dort, wo eigentlich ihr Gesicht sein sollte, ist ein Kreis gezeichnet, durchbrochen von einer Linie, die wie eine klaffende Wunde wirkt - das Siegel der Wächterin.
Ein würgender Ekel steigt in ihr auf. Sie sieht ihr Spiegelbild hinter den blutigen Chiffren: eine Frau, halb nackt, gezeichnet von Schlamm und der Sünde einer verbotenen Liebe, gefangen in einem Rahmen aus Gewalt. Die Symbole scheinen ihr etwas zuzuraunen, ein giftiges Versprechen, das besagt, dass sie Fenris niemals ganz besitzen wird, ohne selbst zu zerbrechen.
Unter dem Kreis am Spiegel stehen Worte, hastig hingeschmiert, als hätte das Blut selbst sie aus dem Glas geschwitzt:
„Was du mit Blut gebunden hast, wird durch Blut vergehen. Das Licht der Quelle ist nur ein Aufschub für das Grab.“
Lyra starrt auf die Schrift, und die erotische Hitze, die sie im Wald noch erfüllte, schlägt um in eine eiskalte, schneidende Wut. Die Wächterin war hier. Sie ist in Lyras intimsten Raum eingedrungen, hat ihre Zuflucht geschändet, um sie daran zu erinnern, dass es kein Entkommen gibt.
Die nackte Haut ihrer Schultern bebt, während sie die Faust ballt. Sie spürt den Geruch von Fenris am Stoff des Mantels, seinen wilden Moschus, der ihr Kraft gibt. Sie wird diesen Spiegel nicht zerschlagen; sie wird ihn anstarren, bis sie die Angst in ihrem Blick besiegt hat.
„Du hast keine Macht hier“, flüstert sie dem blutigen Glas entgegen, und ihr Atem beschlägt die Symbole. „Du hast im Wald verloren, und du wirst auch hier verlieren.“
Doch während sie dort steht, bemerkt sie am unteren Rand des Spiegels einen weiteren Gegenstand, der dort platziert wurde - ein kleiner, vertrockneter Rest einer Mondblume, die schwarz und verkohlt auf der Kommode liegt.
Lyra starrt auf das kleine, verkohlte Etwas, das dort auf der Kommode liegt wie ein Leichengift. Es ist der hinfällige Rest einer Mondblume, einst ein Kelch aus silbernem Licht, nun nur noch eine spröde, schwarze Skelettform, die den Tod atmet. Ein rationaler Teil ihres Verstandes schreit sie an, zurückzuweichen, doch eine dunkle, fast masochistische Neugier zwingt ihre Hand nach vorn.
Ihre Fingerspitzen, noch immer gezeichnet vom getrockneten Türkis der Quelle und Fenris’ Blut, berühren die aschfahlen Blätter.
In dem Moment, als Haut auf das verbrannte Gewebe trifft, explodiert die Welt um sie herum.
Ein gellender, lautloser Schrei zerreißt ihr Bewusstsein. Lyras Körper verkrampft sich, ihr Kopf fliegt nach hinten, und der schwere Gehrock rutscht von ihren Schultern, bis er nur noch in ihren Armbeugen hängt und ihre nackte, schweißnasse Brust dem kalten Flurlicht preisgibt. Doch sie spürt die Kälte nicht mehr. Sie ist gefangen in einer Vision aus Feuer und Eis.
Sie sieht sich selbst. Aber es ist nicht die Lyra von heute. Sie sieht eine Frau, deren Augen so hell leuchten wie die von Fenris, deren Haut mit feinen, schwarzen Adern durchzogen ist - das Zeichen einer Korruption, die tiefer geht als jeder Fluch. Sie sieht sich in den Armen eines Mannes, der Fenris ist, aber seine menschliche Gestalt ist nur noch eine brüchige Maske. Seine Berührungen sind schmerzhaft, eine Mischung aus unendlicher Lust und mörderischem Hunger.
Die Vision peitscht sie weiter. Sie sieht die Stadt Rosevil in Flammen stehen, während die Wächterin hoch über den brennenden Dächern thront und lacht. Und dann der schrecklichste Teil: Sie sieht, wie sie selbst ein Messer aus obsidianfarbenem Glas hält und es Fenris direkt ins Herz stößt, während sie ihn küsst. Das Blut, das aus seiner Wunde quillt, ist nicht rot, sondern ein fressendes, dunkles Violett, das alles verschlingt, was sie jemals füreinander empfunden haben.
„Die Liebe ist der Dolch, den ich dir geschmiedet habe“, flüstert die Stimme der Wächterin direkt in ihrem Gehirn, heiß wie geschmolzenes Blei.
Der Schmerz in Lyras Schläfen wird unerträglich. Es ist eine physische Agonie, die sich wie glühende Drähte durch ihre Nervenbahnen zieht. Sie spürt den Geschmack von Asche auf der Zunge und das Gefühl von Fenris' sterbendem Atem an ihrem Hals. Die Vision ist so real, dass sie das Gewicht des Messers in ihrer Hand zu spüren glaubt.
Mit einem erstickten Keuchen reißt sie die Hand von der Blume weg.
Lyra taumelt zurück, ihre Knie geben nach, und sie schlägt hart gegen die gegenüberliegende Wand. Sie keucht, ihr Herz rast in einem mörderischen Tempo, und kalter Schweiß rinnt zwischen ihren Brüsten herab. Die verkohlte Blume zerfällt unter ihrer Berührung zu feinem, schwarzem Staub, der wie böser Zauber auf die Kommode niedersinkt.
Sie starrt auf ihre Handfläche. Dort, wo sie die Blume berührt hat, ist die Haut gerötet, als hätte sie glühendes Eisen angefasst. Die Vision brennt noch immer hinter ihren Augenlidern - dieses Bild von Verrat und Untergang.
War das die Zukunft? Oder nur eine weitere Lüge der Hexe, um den Keil des Zweifels zwischen sie und ihre Bestie zu treiben?
Lyra presst die Zitternden Hände gegen ihr Gesicht. Sie weiß jetzt, dass der Kampf um Fenris nicht mehr nur im Wald stattfindet. Er findet in ihrem Blut statt, in jedem Kuss, den sie ihm gibt, und in jedem Atemzug, den sie in diesem verfluchten Haus tut.
Die Vision brennt noch wie flüssiges Pech hinter ihren Lidern, während Lyra durch den Flur stolpert. Die Luft im Haus ist vergiftet, jeder Atemzug schmeckt nach dem aschigen Verrat der Wächterin. Sie flieht nicht vor der Angst, sie flieht vor der Unausweichlichkeit dessen, was sie gesehen hat.
Sie stürzt ins Schlafzimmer. Die Stille hier ist drückend, beinahe hämisch. Mit zitternden Händen reißt sie die Schranktüren auf, dass das Holz gefährlich ächzt. Sie zerrt die alte, speckige Reisetasche aus dem obersten Fach und wirft sie aufs Bett. Ohne Sinn für Ordnung rafft sie ihre Kleider zusammen - dicke Pullover, Jeans, Stoffe, die nach ihrem alten Leben riechen - und stopft sie hinein.
Dann erstarrt sie vor der Schrankseite, die Fenris gehört.
Ein stechender Schmerz durchfährt ihre Brust, als sie seine Hemden sieht, die ordentlich aufgehängt sind. Sie verströmen noch immer seinen Duft: eine Mischung aus teurem Leder und jener tiefen, waldigen Note, die sie um den Verstand bringt. Mit einer fast gewaltsamen Geste reißt sie mehrere seiner schweren Hemden und Hosen von den Bügeln. Sie braucht seinen Geruch, sie braucht die Erinnerung an den Mann, um die Bestie zu retten. Alles wandert in die Tasche, ein wirres Durcheinander aus Seide, Wolle und Verzweiflung.
Hektisch greift sie nach ihrem Handy, das auf dem Nachttisch liegt, und rafft die schweren Goldmünzen zusammen, die sie für den äußersten Notfall in einer kleinen Schatulle aufbewahrt haben. Das Metall klirrt hart und fremd in der Stille - eine archaische Währung für eine Flucht in die Dunkelheit.
Sie wirft sich den schweren Gehrock wieder über die nackten Schultern, krallt sich den Schlüsselbund und rennt los. Sie lässt die Wohnungstür weit offen stehen, ein schwarzes Loch in der Wand ihres bisherigen Lebens. Es ist ihr egal. Sollen die Schatten das Haus holen, solange sie den Mann rettet, der ihr Herz in seinen Krallen hält.
Draußen peitscht ihr der kalte Wind von Rosevil entgegen. Sie rennt über den brüchigen Asphalt zum alten Käfer, der wie ein treues Tier am Straßenrand wartet. Ihre Finger zittern so sehr, dass sie den Schlüssel kaum ins Schloss bekommt. Endlich gibt der Mechanismus mit einem metallischen Klick nach. Sie reißt die Tür auf, schleudert die schwere Reisetasche auf den Beifahrersitz und lässt sich auf den Fahrersitz fallen.
Der Innenraum des Wagens ist eiskalt. Lyra starrt einen Moment auf ihre Hände, die noch immer den Schmutz des Waldes und den Ruß der verbrannten Blume tragen. Sie dreht den Zündschlüssel. Der Motor des Käfers hustet, weigert sich kurz gegen die Kälte, doch dann erwacht er mit einem vertrauten, tiefen Knattern zum Leben.
Sie legt den Gang ein, die Reifen quietschen auf dem feuchten Untergrund. Sie sieht nicht mehr zurück. Die Stadt hinter ihr verschwimmt im Rückspiegel zu einer grauen Fratze der Vergangenheit. Sie hat nur ein Ziel: den Wald. Den Wald und das Blut, das sie beide bindet.
Das Quietschen der Reifen zerreißt die gespenstische Stille der Vorstadt, als Lyra mit beiden Füßen auf die Bremse tritt. Der Käfer schlingert, kommt quer auf der Fahrbahn zum Stehen, und die schwere Reisetasche rutscht mit einem dumpfen Aufprall in den Fußraum.
Lyra klammert sich an das Lenkrad, ihre Knöchel weiß, ihr Atem geht stoßweise und bildet kleine Wolken in der kalten Luft des Wagens. Die Panik hat sie fast blind gemacht, doch nun schlägt die Logik des Überlebens mit der Wucht einer Faust zurück.
Fleisch.
Das Wort hämmert in ihrem Kopf wie ein ritueller Trommelschlag. Sie kann nicht mit leeren Händen zu ihm zurückkehren. Er ist kein Mann, der Trost braucht; er ist ein Raubtier, dessen Zellen nach Nahrung schreien, um das magische Gift der Wächterin auszubrennen. Wenn sie ihn retten will, muss sie ihn füttern. Sie muss zur Jägerin für ihn werden, in dieser zivilisierten, sterbenden Welt.
Und Samuel. Ein flaues Gefühl der Übelkeit steigt in ihr auf, wenn sie an die blutigen Runen am Spiegel denkt. Die Wächterin war in ihrem Haus, sie hat ihre Privatsphäre geschändet - wer sagt ihr, dass der Priester in seinem Pfarrhaus sicher ist? Er ist der Einzige, der die Sprache der alten Flüche versteht. Wenn die Wächterin beginnt, die Spielregeln zu ändern, braucht sie sein Wissen, bevor die nächste Nacht hereinbricht.
„Denk nach, Lyra“, presst sie hervor, ihre Stimme rau und zittrig. „Nicht kopflos werden. Das ist es, was sie will.“
Mit einer entschlossenen, fast gewaltsamen Bewegung reißt sie den Schalthebel in den Rückwärtsgang. Der Käfer jault auf, als sie ihn auf der engen Straße wendet. Sie tritt das Gaspedal durch, und der Wagen schießt zurück in Richtung Stadtzentrum, dorthin, wo die Schatten am dichtesten sind.
Zuerst zu Samuel. Sie muss ihm von der türkisfarbenen Quelle berichten, von der Heilung, die fast wie ein Wunder wirkte, und von der grausamen Vision, die die verbrannte Blume in ihr ausgelöst hat. Sie braucht Gewissheit, ob das Bild, in dem sie Fenris das Messer ins Herz stößt, eine Warnung oder ein unumgängliches Schicksal war.
Während sie durch die nebligen Gassen rast, rutscht der Gehrock ein Stück von ihrer Schulter. Die kühle Luft streift ihre nackte Haut, eine ständige Erinnerung an ihre eigene Verletzlichkeit und die animalische Verbindung zu dem Mann im Wald. Sie fühlt sich schmutzig, gezeichnet und doch seltsam lebendig - als hätte das Blut an ihren Händen eine Barriere in ihrem Inneren niedergerissen, die sie nie wieder aufbauen kann.
Die Kirchturmspitze des Pfarrhauses taucht wie ein drohender Finger aus dem Grau auf. Lyra bremst scharf vor den schweren Toren, springt aus dem Wagen und rennt auf den Eingang zu, die Goldmünzen in ihrer Tasche klirren bei jedem Schritt wie das Echo einer alten Schuld.
Lyra reißt die schwere, beschlagene Eichentür des Pfarrhauses auf, ohne zu klopfen. Die Luft im Inneren ist so dick und heiß, dass sie ihr fast den Atem raubt - eine drückende Atmosphäre aus geschmolzenem Wachs, altem Pergament und dem scharfen, elektrischen Geruch von Ozon.
Sie findet Samuel im Arbeitszimmer. Es ist ein Bild des Wahnsinns und der heiligen Besessenheit. Überall brennen Kerzen, ihre Flammen zucken unruhig im Luftzug der offenen Tür und werfen lange, grotesk tanzende Schatten an die Wände, die bis zur Decke mit Regalen voller verbotenem Wissen gefüllt sind. Samuel kniet auf dem Boden, umgeben von einem Meer aus aufgeschlagenen Folianten, deren vergilbte Seiten mit hastig hingekritzelten Notizen und blutroten Unterstreichungen übersät sind.
Er blickt nicht einmal auf, als sie eintritt. Seine Hände zittern, während er mit einem Zeigefinger über eine verblasste Illustration in einem Buch aus Menschenhaut fährt. Seine Augen liegen tief in den Höhlen, umrandet von dunklen Schatten der Schlaflosigkeit.
„Die Symbole, Lyra...“, krächzt er, seine Stimme klingt wie das Reiben von trockenem Laub. „Sie verändern sich. Der Fluch ist kein statisches Gefängnis mehr, er ist ein lebendiges, fressendes Etwas. Die Wächterin hat die alte Ordnung geopfert, um dich zu vernichten.“
Lyra tritt in den Kreis der Kerzen, der Gehrock rutscht ihr bei jeder Bewegung tiefer von den Schultern, und ihre nackte, von Schmutz und Schweiß gezeichnete Haut schimmert im unsteten Licht wie Gold. „Samuel, hör mir zu“, presst sie hervor und sinkt neben ihm auf die Knie, ihre Hand krallt sich in seinen Ärmel. „Ich war im Wald. Ich habe eine Quelle gefunden. Das Wasser... es war Türkis. Es hat geleuchtet. Fenris hat davon getrunken und seine Wunden haben sich geschlossen, als hätte die Zeit selbst rückwärts gedreht.“
Samuel erstarrt. Er wendet den Kopf so ruckartig, dass seine Gelenke knacken. Sein Blick gleitet über Lyras aufgelöste Gestalt, über die dunklen Striemen an ihrem Dekolleté und die wilde Entschlossenheit in ihren Augen. Eine Mischung aus Ehrfurcht und nacktem Entsetzen tritt in sein Gesicht.
„Das Wasser der Urquelle?“, flüstert er ungläubig. „Das ist das Blut der Erde, Lyra. Es ist älter als die Wächterin, älter als Rosevil. Wenn er davon getrunken hat, hast du eine Macht entfesselt, die wir nicht kontrollieren können.“ Er packt ihre Handgelenke, seine Finger sind eiskalt. „Aber es gibt einen Preis. Die Visionen... hast du sie schon gesehen? Die Blume, die Symbole am Spiegel?“
Lyra zittert. „Ja. Ich habe gesehen, wie ich ihn töte. Ich habe gesehen, wie ich zur Bestie werde.“
Samuel blickt zurück auf die Bücher, seine Verzweiflung ist nun fast physisch greifbar. „Sie will nicht mehr nur seinen Körper. Sie will deine Seele als Gefäß für seinen Untergang. Wenn du ihn fütterst, wenn du ihm Fleisch bringst, festigst du die Verbindung zwischen seinem Tier und deinem Hunger. Es ist eine dunkle, erotische Symbiose, Lyra. Je mehr du ihn rettest, desto tiefer ziehst du dich selbst in den Abgrund.“
Er deutet auf eine Passage in dem Buch vor ihm, wo ein Mann und eine Bestie in einer blutigen Umarmung verschmelzen. „Wir müssen den Fluch brechen, bevor die Verwandlung dich ganz verschlingt. Aber um das zu tun, brauchst du ein Opfer, das über das Blut hinausgeht.“
Samuel lässt die schweren Pergamentseiten los und greift nach ihren Händen. Seine Finger graben sich beinahe schmerzhaft in ihr Fleisch, während er sie zwingt, ihm direkt in die fiebrig glänzenden Augen zu sehen. In diesem Moment wirkt er weniger wie ein Priester der Kirche als wie ein Ketzer, der die tiefsten Geheimnisse der Schöpfung verrät.
„Hör mir genau zu, Lyra“, flüstert er, und sein Atem riecht nach altem Papier und bitterem Weihrauch. „Die Wächterin hat ihre Macht auf Hass, Kontrolle und die Kälte des Grabes gebaut. Doch was zwischen dir und Fenris existiert… diese dunkle, alles verzehrende Leidenschaft, dieses Verlangen, das über die Grenzen von Mensch und Tier hinausgeht… das ist eine Macht, die sie nicht versteht. Sie ist eine Architektin der Qual, aber sie ist blind für die ekstatische Hingabe.“
Er rückt näher, sein Gesicht ist nur Zentimeter von ihrem entfernt. „Solange ihr euch einander hingebt, solange ihr diese Liebe nicht nur fühlt, sondern sie mit jeder Faser eures Seins zeigt, bleibt sie machtlos. Jede Berührung, jeder Kuss, jedes Mal, wenn eure Körper in dieser sündigen, heiligen Vereinigung verschmelzen, erschafft ihr eine Barriere aus Licht, die ihr schwarzer Stab nicht durchbrechen kann. Du musst zu ihm. Du musst ihm zeigen, dass er kein Monster ist, sondern der einzige Mann, den deine Seele begehrt.“
Seine Stimme wird tiefer, vibrierend vor einer fast unheiligen Intensität. „Eure Liebe ist die einzige Waffe, die den Fluch von innen heraus sprengen kann. Die Wächterin will, dass du dich vor ihm fürchtest, dass du dich vor deinem eigenen Begehren ekelst. Enttäusch sie. Werde zur Bestie seiner Lust, und er wird durch dich seine Menschlichkeit wiederfinden.“
Samuel greift mit einer feierlichen Bewegung hinter sich auf den Altar, der einst Gott geweiht war und nun nur noch als Tisch für verbotene Reliquien dient. Er holt ein kleines Fläschchen hervor, das aus geschliffenem Amethyst gefertigt zu sein scheint. Darin schwappt eine Flüssigkeit, die so tiefviolett ist, dass sie fast schwarz wirkt, durchsetzt mit silbernen Schlieren, die wie kleine Blitze im Glas zucken.
„Das hier ist Ritualwasser, geweiht in den Tränen derer, die vor euch liebten und litten“, sagt er und legt es ihr sanft in die Handfläche. „Es wird seine Sinne schärfen und die Verbindung zwischen euren Seelen festigen. Wenn die Dunkelheit der Wächterin nach euch greift, benetze deine Haut damit. Lass ihn das Opfer deiner Hingabe schmecken.“
Lyra schließt die Finger um das kühle Glas. Die Hitze, die von dem Elixier ausgeht, schießt augenblicklich durch ihren Arm bis in ihren Schoß, ein elektrisierendes Versprechen auf das, was kommen wird.
„Fahr jetzt“, befiehlt Samuel und seine Züge wirken für einen Moment seltsam friedlich. „Bring ihm das Fleisch, das er braucht, um zu überleben, und dann bring ihm dich selbst, um ihn zu erlösen. Die Nacht gehört euch, solange ihr den Mut habt, euch in ihr zu verlieren.“
Lyra starrt auf das Amethystfläschchen in ihrer Hand. Das tiefviolette Elixier scheint darin zu atmen, ein gefangener Sturm aus Sehnsucht und Gefahr. In ihrem Innersten zieht sich alles schmerzhaft zusammen; ein flirrendes Beben beginnt in ihrer Magengrube und breitet sich wie flüssiges Feuer bis in ihre Fingerspitzen aus.
Sie liebt Fenris. Sie liebt den Mann mit der rauen Stimme und den traurigen Augen ebenso sehr wie sie die Bestie liebt, deren Hitze sie in der Nacht vor dem Erfrieren bewahrt hat. Doch Samuel spricht von einer Hingabe, die jenseits aller Vorstellungskraft liegt. Sich einem Wesen zu schenken, das aus Zähnen, Krallen und ungebändigtem Hunger besteht - der Gedanke allein lässt ihr Blut sieden und ihr Herz wie einen gefangenen Vogel gegen die Rippen schlagen. Es ist eine Mischung aus nacktem Entsetzen und einer dunklen, sündigen Neugier, die sie fast um den Verstand bringt.
Sie beißt sich so fest auf die Unterlippe, dass sie fast das Metall ihres eigenen Blutes schmeckt. Ihr Blick wandert langsam zu Samuel hoch, die Augen weit und dunkel, ein stummes Flehen um eine andere Wahrheit. Sie sagt kein Wort, doch die Luft zwischen ihnen ist so geladen mit ihrer Angst und ihrem verbotenen Begehren, dass jedes gesprochene Wort ein Sakrileg wäre.
Samuel erwidert ihren Blick mit einer Sanftheit, die fast schmerzt. Er erkennt das Zittern ihrer Lippen, das schnelle Heben ihrer nackten Brust unter dem schweren Gehrock und das Chaos in ihrer Seele.
„Es reicht, wenn Ihr diesen Gedanken zulasst, Lyra“, sagt er leise, und seine Stimme ist nur noch ein Hauch, der die Flammen der Kerzen erzittern lässt. „Ihr müsst nicht kämpfen. Die Wächterin nährt sich von Eurem Widerstand. Wenn Ihr den Gedanken an ihn - an das, was er ist - in Euch zulasst, ohne Scham, ohne Reue… dann erschafft Ihr bereits eine Welt, in der sie keinen Platz hat.“
Er tritt einen Schritt zurück, lässt sie gewähren. „Man muss die Haut nicht berühren, um eins zu sein. Es reicht, wenn Ihr diesen Gedanken in Euch auslebt. Wenn Ihr ihn zulasst, bis er Euer gesamtes Sein erfüllt. Ohne jegliche körperliche Berührung wird Euer Geist ihn rufen, und er wird antworten. Die Lust der Seele ist oft mächtiger als die des Fleisches, und sie ist das Einzige, was die Ketten des Fluches schmelzen kann.“
Lyra schließt die Augen. In der Dunkelheit hinter ihren Lidern sieht sie Fenris’ smaragdgrünen Augen. Sie spürt die animalische Anziehungskraft, die von ihm ausgeht, ein Sog, dem sie sich nicht mehr entziehen kann. Sie akzeptiert es. Sie akzeptiert die Bestie in ihm und die aufkeimende Wildheit in sich selbst.
Mit einer entschlossenen Bewegung steckt sie das Fläschchen in die Tasche des Mantels. Die Entscheidung ist gefallen. Sie wird die Jägerin sein, die Heilerin - und die Geliebte, die keine Grenzen mehr kennt.
Lyra nickt Samuel ein letztes Mal zu, ein stummes Einverständnis zwischen zwei Geächteten, die am Rande des Wahnsinns operieren. Er legt ihr die Hand auf die Schulter, ein Gewicht aus Segen und Fluch zugleich. „Viel Glück, Lyra“, wispert er, und seine Stimme klingt wie das Verhallen einer Totenglocke. „Vergiss nicht: Du bist sein Anker. Lass dich nicht von den Schatten wegziehen.“
Sie flieht aus der drückenden Hitze des Pfarrhauses in die klamme Kälte der Stadt. Der alte Käfer wartet am Bordstein wie ein treuer, rostiger Wächter. Lyra lässt sich auf den Fahrersitz fallen, und das Quietschen der Federn mischt sich mit ihrem eigenen, erschöpften Seufzen. Bevor sie den Zündschlüssel dreht, hält sie inne. Es ist, als würde die Stille des Wagens sie dazu zwingen, sich selbst zu konfrontieren.
Sie hebt den Blick und sieht in den Rückspiegel.
Das Bild, das ihr daraus entgegenstarrt, ist das einer Fremden, einer Frau, die die Schwelle zur Unterwelt überschritten hat. Ihr Gesicht ist bleich wie das Wachs von Samuels Kerzen, und der schwarze Kajal ist durch Tränen, Schweiß und den Regen des Waldes hoffnungslos verlaufen - er rahmt ihre Augen wie dunkle, schmerzhafte Abgründe ein. Doch es ist nicht die Schminke, die sie erschauern lässt.
An ihrer Wange und entlang ihres Kiefers klebt noch immer Fenris’ Blut. Es ist zu einer dunklen, schorfigen Kruste getrocknet, ein unheiliges Mal ihrer Verbundenheit. In den feinen Falten ihrer Haut hat sich das Rot der Bestie festgesetzt, als wollte es nie wieder weichen.
Ein brennendes Verlangen nach Reinigung flammt in ihr auf. Sie braucht das Wasser, sie braucht das Gefühl von heißem Dampf, der die Schichten aus Gewalt, Magie und fremdem Blut von ihren Poren löst. Sie fühlt sich schmutzig, gezeichnet von einer Nacht, die ihre Seele entblößt hat, und doch schwingt in dieser Unsauberkeit eine rohe, erotische Aufladung mit. Jede Spur von Blut auf ihrer Haut ist eine Erinnerung an seine Hitze, an sein Leiden und an die Art, wie sie ihn gehalten hat.
„Nur eine Dusche“, murmelt sie heiser, während sie den Zündschlüssel dreht. „Nur ein Moment, um wieder ich selbst zu werden, bevor ich ganz zu ihm gehöre.“
Sie weiß, dass sie nicht viel Zeit hat. Der Hunger der Bestie wird wachsen, und das Fleisch, das sie besorgen muss, wartet nicht. Doch sie kann ihm nicht als dieses Wrack gegenübertreten; sie muss die Frau sein, die er begehrt, nicht nur die Heilerin, die ihn bemitleidet. Sie legt den Gang ein und steuert den Wagen durch die geisterhaften Straßen in Richtung ihres Zuhauses, während das Blut an ihrer Wange bei jeder Bewegung spannt - eine stumme Aufforderung der Wildnis, die sie nicht länger ignorieren kann.
Das Bild der blutbespudelten Runen an ihrem eigenen Spiegel brennt sich wie glühendes Eisen in Lyras Gedächtnis. Nein, sie wird nicht zurückkehren. Ihr Heim ist geschändet, eine Falle aus Glas und Drohungen. Dass sie dort schutzlos unter dem Wasser stehen würde, während die Wächterin vielleicht aus den Schatten zusieht - dieser Gedanke ist unerträglich. Sie wird den Dreck, das Blut und den verlaufenen Kajal wie eine Kriegsbemalung tragen müssen.
Sie lenkt den Käfer mit einer fast brutalen Entschlossenheit durch die nebelverhangenen Gassen, weg von der alten Kirche, hin zum Marktplatz, wo die alte Metzgerei wie eine dunkle Grotte zwischen den Fachwerkhäusern kauert.
Als sie den Laden betritt, schlägt ihr der Geruch von kaltem Eisen und rohem Fleisch entgegen. Es ist ein archaischer Ort, der in dieser sterbenden Stadt seltsam zeitlos wirkt. Hinter der Theke steht der Metzger, ein massiger Mann mit einer Schürze, die so rot ist, dass man nicht sagen kann, wo die Flecken enden und der Stoff beginnt. Er sieht auf, und seine Augen verengen sich, als er Lyra betrachtet - diese halb nackte Frau im schweren Gehrock eines Priesters, das Gesicht beschmiert mit dem Blut einer Bestie.
„Ich brauche Fleisch“, sagt sie, und ihre Stimme klingt in der Stille des Ladens wie das Brechen von Eis. „Das Beste, was Sie haben. Rohes Rind. Viel davon. Und lassen Sie das Blut daran.“
Der Metzger zögert, ein Schatten von Misstrauen huscht über sein grobes Gesicht, doch als Lyra eine der Goldmünzen aus der Tasche zieht und sie hart auf den Glastresen knallt, verstummt jede Frage. Das Metall glänzt verführerisch im schimmernden Neonlicht. Wortlos greift er nach einem gewaltigen Stück Fleisch, so rot und marmoriert, dass es fast lebendig wirkt. Er schlägt es in grobes Papier ein, doch das Blut beginnt bereits durch die Fasern zu sickern.
Lyra nimmt das schwere Paket entgegen. Die Kälte des Fleisches dringt durch das Papier an ihre Finger, und ein seltsamer, dunkler Hunger erwacht in ihr. Sie spürt die telepathische Verbindung zu Fenris; sie fühlt sein Verlangen, sein Knurren, das tief in ihrem eigenen Unterleib widerhallt. Sie ist jetzt die Versorgerin, die Wölfin, die die Beute zum Rudel bringt.
Sie stürmt zurück zum Käfer, das blutende Paket fest an ihre Brust gepresst, als wäre es ein kostbares Relikt. Der Motor des Wagens heult auf, während sie Rosevil endgültig hinter sich lässt. Die Stadt verschwindet im Rückspiegel, eine sterbende Erinnerung, während vor ihr die schwarzen Arme des Waldes warten.
Sie fährt schneller als je zuvor, die Nadel des Tachos zittert. Ihr Körper schreit nach der Dusche, die sie sich verweigert hat, doch die erotische Spannung, die zwischen ihr und dem Wald vibriert, ist stärker als jeder Wunsch nach Reinheit. Sie will nicht sauber sein. Sie will, dass Fenris riecht, was sie für ihn getan hat. Sie will, dass er das Blut an ihrer Wange schmeckt, während sie ihn füttert.
Als sie den Waldrand erreicht und der Asphalt unter den Reifen in holperigen Waldboden übergeht, schaltet sie das Licht aus. Sie braucht keine künstliche Helligkeit mehr. Sie vertraut dem Leuchten in ihrem Inneren, das sie zielsicher zu der Lichtung führt, wo ihr geliebtes Monster auf sie wartet.
Lyra tritt hinaus in die feindselige Kälte des Waldrandes. Mit einer heftigen Bewegung reißt sie die Beifahrertür auf und krallt sich die schwere Reisetasche, deren Henkel tief in ihre Handfläche einschneiden. In der anderen Hand hält sie das Paket vom Metzger; das Blut des Tieres ist bereits durch die Papierschichten gesickert und benetzt ihre Finger mit einer kalten, klebrigen Feuchtigkeit. Ein kurzes, metallisches Klack - sie verschließt den Käfer und lässt die Welt der Zivilisation, des Asphalts und der sterbenden Stadt endgültig hinter sich.
Sie taucht ein in das schwarze Dickicht. Der Wald empfängt sie mit einer drückenden Stille, die sich wie ein Leichentuch über ihre Sinne legt. Lyra bewegt sich mit einer Wachsamkeit, die sie selbst erschreckt; jeder Muskel in ihrem fast nackten Körper unter dem Gehrock ist gespannt wie eine Bogensehne. Das Rascheln ihrer eigenen Schritte auf dem modrigen Laub klingt in ihren Ohren wie Donnerschläge.
Plötzlich erstarrt sie.
Von irgendwo rechts, tief im Farn, kommt ein Geräusch - ein trockenes Knacken, als würde ein schwerer Fuß auf einen Ast treten. Lyra hält den Atem an. Ihr Herz hämmert so heftig gegen ihre Rippen, dass sie fürchtet, es könnte die Stille zerreißen. Sie wirbelt herum, das Blutpaket fest an sich gepresst, die Augen weit geöffnet, um in der Finsternis zwischen den Baumstämmen einen Umriss zu finden. Doch da ist nichts. Nur das zähe Fließen des Nebels zwischen den schwarzen Säulen der Tannen.
Sie geht weiter, schneller nun, doch das Gefühl der Bedrohung lässt nicht nach. Es ist kein Einzelschmerz, kein zufälliges Tier, das flieht. Es ist eine Präsenz. Eine kalte, berechnende Beobachtung, die wie eine eisige Berührung auf ihrem Nacken lastet. Jedes Mal, wenn sie den Kopf wendet, scheint das Flüstern des Waldes zu verstummen, als würde jemand - oder etwas - gleichzeitig mit ihr innehalten.
Es ist, als würde ein Schatten an einem unsichtbaren Faden hinter ihr hergezogen. Ist es eine der Krähen der Wächterin? Oder ist es etwas Älteres, das durch das vergossene Blut und die Magie der Quelle angelockt wurde?
Ein leises Keuchen entfährt ihren Lippen. Die erotische Aufladung, die sie noch im Auto gespürt hat, mischt sich nun mit dem nackten Instinkt der Beute. Sie fühlt sich beobachtet in ihrer Verletzlichkeit, in ihrer Unsauberkeit, während das Blut an ihrer Wange spannt und der Geruch des rohen Fleisches in ihren Armen Raubtiere anlocken muss. Sie ist die Braut der Bestie, beladen mit dem Opfermahl, und der Wald scheint hungrig darauf zu warten, ob sie die Lichtung erreicht oder vorher im Schatten verschlungen wird.
„Ich bin fast da“, flüstert sie, eher um sich selbst zu beruhigen als den Wald. Sie krallt ihre Finger tiefer in das Fleischpaket. Sie darf nicht rennen. Wenn sie rennt, wird die Jagd beginnen.
Ein markerschütterndes Knacken, laut wie ein Schuss aus einer Pistole, zerreißt das bedrückende Schweigen des Unterholzes. Es ist kein Zufall mehr, kein spielerischer Windhauch im Geäst. Dort, im dichten, schwarzen Farn, lauert eine physische Bedrohung. Lyra spürt, wie das Adrenalin wie flüssiges Eis durch ihre Adern schießt, ihre Sinne bis zum Zerreißen schärft und das Zittern ihrer Glieder in eine gefährliche, vibrierende Spannung verwandelt.
Sie beschleunigt ihren Schritt, die schwere Reisetasche schlägt hart gegen ihre Hüfte, und das blutdurchtränkte Fleischpaket presst sie fest gegen ihre Brust, als wollte sie verhindern, dass der metallische Geruch noch mehr von der Finsternis anlockt.
Ihr Blick jagt zur Seite, dorthin, wo das Geräusch das Dickicht zerrissen hat. Zwischen zwei massiven, moosbewachsenen Stämmen blitzen sie auf: Zwei bernsteinfarbene Lichter.
Ihr Herz setzt für einen mörderischen Moment aus. Ein Schrei stirbt in ihrer Kehle, bevor er geboren werden kann. Das ist nicht Fenris. Sie kennt jedes Funkeln in seinen Augen, jedes flackernde Gold, das in seinem Blick tanzt, wenn er sie ansieht - seine Augen sind ein tiefes, unheimliches Grün, ein Smaragdfeuer, das aus der Seele des Waldes gespeist wird. Diese Lichter hier sind anders. Sie sind kalt, raubtierhaft und leuchten in einem bösartigen, schwefelgelben Ton.
Ein zweiter Wolf.
Ein eisiges Grauen kriecht ihren Rücken hinauf. Das Fleisch in ihren Armen, das für ihren geliebten Jäger bestimmt war, ist nun ein Köder für ein Monster, das sie nicht kennt. Sie hört das leise, nasse Schnappen von Kiefern und ein kehliges Knurren, das so tief ist, dass es den Waldboden unter ihren Füßen erzittern lässt. Die Bestie im Schatten ist nicht hier, um sie zu beschützen. Sie ist hier, um sich zu holen, was Lyra bringt - und vielleicht die Jägerin gleich mit dazu.
„Nicht jetzt...“, presst sie durch zusammengepresste Zähne hervor. Sie beschleunigt den Schritt noch mehr, ihre Füße stolpern über verborgene Wurzeln, während der schwere Gehrock hinter ihr wie ein schwarzer Umhang im Wind flattert. Ihre nackte Haut brennt unter der Kälte, und der verlaufene Kajal macht ihren Blick zu dem einer Wahnsinnigen.
Sie rennt nicht kopflos, doch jeder Schritt ist ein verzweifelter Kampf gegen die Distanz. Das Rascheln hinter ihr wird schneller, rhythmischer. Der andere Wolf hat die Jagd aufgenommen. Er bewegt sich mit einer erschreckenden Leichtigkeit durch das unwegsame Gelände, immer am Rande ihres Sichtfeldes, ein Schatten, der nur darauf wartet, dass sie langsamer wird oder den Halt verliert.
Die erotische Gefahr, die Fenris ausstrahlt, ist hier einem reinem, animalischen Terror gewichen. Lyra weiß, dass dieser Wald Dinge beherbergt, die von der Wächterin korrumpiert wurden, Kreaturen, die nichts als Hunger kennen. Sie muss die Lichtung erreichen. Sie muss zu Fenris. Nur er kann sie vor dem schützen, was nun gierig nach ihren Fersen schnappt.
In der Ferne schimmert das matte Licht der Lichtung durch die Stämme. „Fenris!“, schreit sie im Geist, während ihre Lungen vor Kälte brennen.
Das Keuchen in Lyras Lungen brennt wie glühende Kohlen, und das Blutpaket in ihren Armen fühlt sich an wie ein schlagendes Herz. Sie spürt den heißen Atem des Verfolgers fast im Nacken, ein raubtierhafter Dunst, der nach Tod und Verwesung riecht. Doch sie weigert sich, die Beute loszulassen. Jeder Tropfen Blut in diesem Papier ist ein Versprechen an Fenris, und sie würde sich eher die Kehle zerreißen lassen, als mit leeren Händen vor ihn zu treten.
Ihre Stiefel versinken im tiefer werdenden Schlamm, die schwere Reisetasche zerrt an ihrer Schulter, doch das matte Silberlicht der Lichtung bricht nun wie eine Verheißung durch die letzten schwarzen Tannen.
Mit einem letzten, verzweifelten Kraftakt stößt sie sich vom Waldboden ab. Ihre nackte Haut peitscht gegen die nadelbewehrten Zweige, die wie Krallen nach ihr schlagen, und dann - mit einem erstickten Aufschrei - setzt sie den ersten Fuß auf den weichen, moosigen Boden der Lichtung.
In demselben Augenblick geschieht es.
Das gierige Knurren hinter ihr bricht abrupt ab. Das nasse Rascheln der Pfoten erstirbt in einer unnatürlichen Stille. Lyra wirbelt herum, den Gehrock fest um sich gekrallt, das Fleischpaket wie ein Schild vor die Brust gepresst.
Nur Zentimeter hinter dem unsichtbaren Saum der Lichtung bleibt die Bestie mit den bernsteinfarbenen Augen stehen. Der Wolf ist eine monströse Erscheinung, sein Fell ist struppig und mit dem Schorf alter Wunden bedeckt, seine Lefzen sind hochgezogen und entblößen gelbliche, triefende Fänge. Doch er wagt es nicht, den nächsten Schritt zu tun.
Es ist, als gäbe es hier eine magische Grenze, eine unantastbare Barriere aus Licht oder purer Autorität, die den Wald vom Heiligtum der Lichtung trennt. Der fremde Wolf tänzelt unruhig am Rand hin und her, stößt ein frustriertes, heiseres Jaulen aus und fixiert Lyra mit einem Blick voll hasserfüllter Gier. Doch die Barriere hält. Das türkisfarbene Licht der Quelle, das Lyra vorhin hier vergossen hat, scheint einen schützenden Wall errichtet zu haben, den die Diener der Wächterin nicht zu durchbrechen vermögen.
Lyra zittert am ganzen Körper, Schweiß und Regen vermischen sich mit dem verlaufenen Schwarz um ihre Augen. Sie sieht zu, wie die Bestie sich langsam rückwärts in die Schatten zurückzieht, die bernsteinfarbenen Lichter verlöschen im Dunkel, bis nur noch das Rauschen des Windes übrig bleibt.
Sie ist in Sicherheit. Zumindest vor dem Wald.
Langsam dreht sie sich um und blickt über die Lichtung. Dort, im Zentrum der Stille, liegt Fenris. Das smaragdgrüne Leuchten seiner Augen brennt durch den aufsteigenden Nebel wie zwei Leuchtfeuer in der Nacht. Er hat alles miterlebt. Er hat gewartet, gespannt wie eine tödliche Falle, bereit, jeden in Stücke zu reißen, der es wagt, seine Schwelle zu überschreiten.
„Ich habe es geschafft“, flüstert Lyra heiser, und die Entspannung nach dem Terror lässt ihre Knie weich werden. „Ich habe dir gebracht, was du brauchst.“
Mit einem dumpfen Aufschlag gleitet die schwere Reisetasche von Lyras Schulter und sinkt tief in das nasse, nach Ozon duftende Moos. Die Last der Zivilisation, die sie in Form von Kleidern und Goldmünzen mitgeschleppt hat, bedeutet hier nichts mehr. Nur noch das Fleisch in ihren Händen und das Leben der Bestie vor ihr zählen.
Sie nähert sich Fenris mit langsamen, ehrfürchtigen Schritten. Er liegt dort wie ein gefallener Gott der Wildnis, das smaragdgrüne Leuchten seiner Augen ist ein wenig matter geworden, getrübt von der Erschöpfung des Überlebenskampfes. Als sie ihre Hand ausstreckt und sanft über sein raues, dickes Fell an der Stirn streicht, spürt sie das Zittern, das durch seinen massiven Körper läuft. Er ist schwach, sein Atem geht schwer, und doch fixiert er sie mit einer Intensität, die ihre Seele nackt auszieht.
„Ich bin hier“, flüstert sie, während sie sich direkt vor ihm in den Dreck kniet. Sie achtet nicht darauf, dass die Feuchtigkeit des Bodens durch ihre Jeans sickert oder dass der Gehrock sich im Schlamm bauscht.
Mit zitternden Fingern beginnt sie, das Fleisch aus dem blutgetränkten Papier zu wickeln. Der metallische Geruch des rohen Rindfleisches vermischt sich mit dem Duft von nasser Erde und Fenris’ eigenem, maskulinem Moschus. Es ist ein archaischer Moment, von einer grausamen, dunklen Erotik durchdrungen: die bleiche Frau, deren Gesicht mit dem Blut der Bestie gezeichnet ist, und das Monster, das aus ihren Händen das Leben empfängt.
Sie reißt ein Stück des weichen Fleisches ab und hält es ihm an die Lefzen. Fenris nimmt es mit einer Sanftheit entgegen, die im Kontrast zu seinen mörderischen Fängen steht, seine Zunge streift dabei kurz ihre Fingerspitzen - eine Berührung, die wie ein elektrischer Schlag durch ihren Unterleib fährt.
„Ich konnte nicht in das Haus zurück, Fenris“, beginnt sie leise zu erzählen, während sie ihm das nächste Stück reicht. Ihre Stimme bricht fast, als sie an den Spiegel denkt. „Sie war dort. Die Wächterin. Sie hat den Flur mit Blut und Runen geschändet. Sie hat mir eine Vision geschickt… sie will, dass ich mich vor dir fürchte. Sie will, dass ich glaube, unser Verlangen sei der Dolch, der dich am Ende tötet.“
Fenris kaut langsam, sein Blick weicht nicht von ihrem Gesicht. Er scheint jedes ihrer Worte in sich aufzusaugen, die Wut in seinem Inneren glimmt wie glühende Kohle auf.
„Aber Samuel… er glaubt nicht an ihre Lügen“, fährt sie fort, und ihre Finger tasten nach dem Amethystfläschchen in der Tasche des Mantels. „Er sagt, solange wir uns einander hingeben, solange wir diese Liebe zulassen, ist sie machtlos. Er hat mir ein Ritualwasser gegeben. Er sagt, es reicht, wenn ich den Gedanken an dich zulasse, ohne Scham, ohne Reue… dass wir eins sind, auch wenn keine Haut die andere berührt.“
Sie streicht ihm wieder über den Kopf, ihre Hand ist jetzt klebrig vom Blut des Fleisches und dem Türkis der Quelle. „Ich habe keine Angst mehr vor dem, was wir sind, Fenris. Ich habe den anderen Wolf im Wald gesehen, den Schatten der Hexe - und er hat mich nur noch enger zu dir getrieben.“
Fenris stößt ein tiefes, vibrierendes Knurren aus, das tief in ihrem Schoß widerhallt. Er hat genug gefressen, um die erste Welle der Erschöpfung zu besiegen, und durch das magische Wasser und das Blut beginnt sich die Luft auf der Lichtung erneut aufzuladen.
Fenris richtet sich mühsam auf. Seine Bewegungen sind nicht mehr das flüssige Gleiten eines Raubtieres, sondern gezeichnet von einer bleiernen Schwere, die von den Kämpfen der letzten Stunden erzählt. Doch als er schließlich sitzt, die gewaltigen Schultern bebend vor Anstrengung, überragt er Lyra noch immer. Er ist ein Monument aus dunklem Fell und unterdrücktem Schmerz. Das smaragdgrüne Glühen seiner Augen hat an Tiefe gewonnen; es ist nicht mehr das wilde Flackern des Todes, sondern ein klarer, bewusster Fokus, der sich wie ein physisches Gewicht auf Lyras Seele legt.
Obwohl er keine menschlichen Worte formen kann, vibriert sein Geist in einer Frequenz, die Lyra direkt in ihrem Mark spürt. Seine Gedanken sind wie dunkle Wellen, die gegen das Ufer ihres Bewusstseins schlagen. Er sieht sie an - sieht die bleiche Haut ihrer Schultern, die unter dem schweren, klammen Gehrock zittert, sieht den verlaufenen Kajal und die Spuren von Blut und Dreck, die ihre Schönheit beinahe grausam unterstreichen.
Das ist kein Leben für dich, hallt es in ihrem Verstand wider, ein raues Echo seiner Stimme, das aus der Ferne seiner Menschlichkeit zu kommen scheint.
Sein Blick wandert über die Lichtung, wo der Frost bereits die Ränder der Farne weiß färbt. Der Winter steht vor der Tür, ein unerbittlicher Henker, der diesen Wald in ein Grab aus Eis verwandeln wird. Er spürt die Kälte, die durch Lyras dünne Kleidung dringt, und die Sorge um sie brennt heißer in seinem Inneren als seine eigenen Wunden. Er ist eine Bestie, geschaffen für die Wildnis, verflucht, im Schatten zu existieren - aber sie? Sie ist Licht, sie ist Wärme, sie ist die Frau, die er in seinen menschlichen Träumen an einem Kaminfeuer sah, nicht in einer blutgetränkten Schlammkuhle.
Er will sie wegstoßen, will sie zurück in die Sicherheit der Stadt treiben, weg von seinem Verderben. Doch während diese Gedanken in ihm toben, begegnet Lyra seinem Blick mit einer Unbeugsamkeit, die ihn erschüttern lässt.
Sie wendet den Kopf nicht ab. Sie hält seinem starren, animalischen Blick stand, und in ihren Augen spiegelt sich eine dunkle, erotische Entschlossenheit wider. Sie sieht nicht das Monster, das sie gefährdet; sie sieht den Mann, dessen Seele mit der ihren verschmolzen ist. Ihr Blick ist ein Versprechen, eine Kampfansage an seine Selbstlosigkeit. Sie zeigt ihm, dass sie lieber mit ihm in der Kälte verglüht, als in der Einsamkeit Rosevils zu erfrieren.
Die Spannung zwischen ihnen wird unerträglich. Es ist das Schweigen zweier Liebender, die am Abgrund stehen und sich weigern, die Hand des anderen loszulassen. Lyra greift unbewusst nach dem Revers des Gehrocks und zieht ihn ein Stück enger zusammen, doch ihre Augen lassen ihn nicht frei.
„Du denkst, ich gehe“, flüstert sie, und ihre Stimme bricht die Stille der Lichtung wie kostbares Glas. „Du denkst, ich lasse dich allein, weil die Welt dort draußen bequemer ist. Aber du verstehst es immer noch nicht, Fenris. Es gibt kein Zurück mehr. Mein Herz schlägt nicht mehr im Takt der Stadt. Es schlägt hier, bei dir.“
Fenris gibt ein tiefes, schmerzvoltes Grollen von sich, das wie eine Vibration durch den Boden in ihre Knie fährt. Er kämpft gegen den Drang an, sie zu sich zu ziehen, sie unter seinem massiven Körper zu verbergen und sie nie wieder freizugeben.
In diesem einen, gedehnten Augenblick zwischen zwei Atemzügen schmilzt die Kälte des herannahenden Winters dahin. Lyra liest in dem smaragdgrünen Lodern seiner Augen eine Wahrheit, die keine Worte braucht: Er verzehrt sich nach ihr. Hinter dem Schutzinstinkt des Tieres und der Melancholie des Mannes brodelt ein Verlangen, das so alt ist wie die Erde selbst - der verzweifelte, fast schmerzhafte Wunsch, sie festzuhalten, sie in sich aufzunehmen und nie wieder an die Grausamkeit der Welt zu verlieren.
Sie wartet nicht auf seine Erlaubnis. Mit einer fließenden, instinktiven Bewegung rutscht sie über das feuchte Moos näher an seinen massiven Körper heran. Die Hitze, die von ihm ausgeht, schlägt ihr entgegen wie die Glut eines sterbenden Sterns.
Zitternd hebt sie ihre Hand und legt die Fingerspitzen an die Seite seines gewaltigen Halses. Dort, wo das dichte, schwarze Fell in die kräftigen Muskeln übergeht, spürt sie das heftige, unregelmäßige Pochen seiner Halsschlagader. Es ist ein Rhythmus aus roher Gewalt und tiefer Verletzlichkeit. Sie streichelt ihn mit einer Sanftheit, die den Atem der Nacht anzuhalten scheint, fährt mit dem Daumen über die Narben, die nun unter der Macht des Quellwassers zu verblassen beginnen.
Fenris erstarrt zuerst unter ihrer Berührung, ein leises, beinahe lautloses Vibrieren dringt aus seiner Brust - ein Schnurren, das in ein Grollen übergeht und schließlich in ein tiefes Seufzen der Ergebung mündet. Er schiebt sich näher, Millimeter für Millimeter, mit einer Vorsicht, die fast zerbrechlich wirkt. Er hat Angst vor seiner eigenen Kraft, Angst, dass die Bestie die Frau verletzen könnte, die seine einzige Verbindung zum Licht ist.
Doch Lyra kennt keine Angst mehr.
Mit einer entschlossenen, sehnsuchtsvollen Bewegung schlingt sie ihre Arme langsam um seinen massiven Nacken. Sie krallt ihre Finger in sein Fell, zieht ihn zu sich herab, bis sein schweres Haupt auf ihrer Schulter ruht. Sie presst ihr Gesicht in die dichte Mähne an seinem Hals, atmet den berauschenden Duft von Regen, wildem Moschus und der metallischen Note seines Blutes ein.
Der schwere Gehrock rutscht dabei fast gänzlich von ihren Schultern und gibt ihre nackte Haut der Berührung seines Fells preis. Es ist eine unheilige, erotische Union: das weiche, bleiche Fleisch der Frau, das sich an die dunkle, raue Wildheit der Bestie schmiegt. Lyra spürt sein heißes Keuchen an ihrem Ohr, eine Vibration, die tief in ihren Unterleib fährt und dort ein Feuer entfacht, das heller brennt als jede Kerze in Samuels Pfarrhaus.
„Ich habe dich“, wispert sie gegen seine Haut, während sie ihn so fest umschlingt, als könnte sie ihn damit zurück in seine menschliche Gestalt zwingen. „Lass mich nicht los, Fenris. Kämpfe nicht gegen mich an. Gib dich mir hin, so wie ich mich dir hingebe.“
Fenris drückt seine Schnauze fest gegen ihre Halsbeuge, ein tiefer, besitzergreifender Kontakt, der Lyra erzittern lässt. In diesem Moment der absoluten Nähe gibt es keine Wächterin, keinen Fluch und keine Kälte mehr. Es gibt nur noch zwei verlorene Seelen, die sich im Auge des Sturms gefunden haben.
Mit einem zitternden Atemzug löst sich Lyra aus der beinahe erstickenden, rauen Umklammerung. Die Kälte des Waldes peitscht sofort wieder gegen ihre erhitzte Haut, dort, wo eben noch Fenris’ animalische Wärme gebrannt hat. Ihre Blicke bleiben ineinander verhakt, ein smaragdgrünes Feuer, das in die Abgründe ihrer dunklen Sehnsucht starrt.
Mit Fingern, die vor Erschöpfung und unterdrückter Erregung beben, greift sie in die weite Tasche des schweren Gehrocks. Sie spürt das kühle, geschliffene Glas des Amethystfläschchens, das Samuel ihr anvertraut hat. Als sie es hervorzieht, scheint das violette Elixier im Inneren ein eigenes, unheiliges Licht auszustrahlen, das die Schatten der Lichtung für einen Moment zurückdrängt.
„Samuel sagte, es würde uns binden“, flüstert sie, ihre Stimme kaum mehr als ein heiseres Verlangen. „Dass es die Mauern zwischen uns niederreißt.“
Sie entkorkt das Fläschchen mit den Zähnen. Ein Duft, so schwer und berauschend wie verwelkende Lilien und elektrischer Sturm, ergießt sich in die Luft. Lyra neigt den Kopf nach hinten, entblößt die weiche Linie ihrer Kehle, und lässt einige Tropfen der dunkelvioletten Flüssigkeit auf ihre Haut fallen. Wo das Elixier auf ihr Dekolleté trifft, hinterlässt es keine Kälte, sondern ein stechendes, süßes Brennen, das sofort in ihre Blutbahn übergeht.
Fenris beobachtet jede ihrer Bewegungen mit einer fast schmerzhaften Intensität. Seine Nüstern beben, als er den fremdartigen, magischen Geruch wahrnimmt.
Lyra tritt noch näher, bis ihr nackter Bauch sein dichtes Fell berührt. Sie benetzt ihre Fingerspitzen mit dem restlichen Ritualwasser und streicht damit über Fenris’ Lefzen und die empfindliche Haut hinter seinen Ohren. Die Wirkung tritt augenblicklich ein. Ein elektrischer Schlag scheint durch sie beide zu fahren, eine unsichtbare Kette aus Licht und Schatten, die ihre Nervensysteme miteinander vernetzt.
Plötzlich ist es, als würden die Grenzen ihres Ichs verschwimmen. Lyra spürt seinen Hunger, sein animalisches Drängen und den tiefen, menschlichen Schmerz, der in seinem Inneren schreit. Und Fenris… er spürt die sündige Hingabe in ihr, das brennende Verlangen, sich in seiner Wildheit zu verlieren, ohne Angst, ohne Reue.
Das violette Leuchten des Wassers breitet sich auf ihrer Haut aus, zeichnet glühende Pfade über ihre Kurven und sein dunkles Fell. Die Lichtung um sie herum versinkt in vollkommener Schwärze, bis nur noch sie beide existieren - ein Leuchtfeuer aus verbotener Lust und uralter Magie. Das Ritualwasser hat die Schleusen geöffnet; die Zivilisation ist nur noch eine ferne Lüge, während die Bestie in ihm und die Frau in ihr zu einer einzigen, pulsierenden Einheit verschmelzen.
Es gibt kein Halten mehr. Das Wasser ist das Versprechen, und sie sind bereit, den Preis mit ihrer Seele zu zahlen.