Falkensee - Kapitel 11
Die Sonne steht hoch über Brunnental, warm und freundlich, und die Luft riecht nach Sommer und frischem Gebäck. Die Kopfsteinpflastergassen der kleinen Stadt sind voller Menschen, doch Elysia und Phelia schlendern ohne Eile hindurch, lachend, mit Einkaufstüten an den Armen.
„Ich schwör’s dir, wenn ich noch eine Bluse sehe, die du nicht anprobierst, ist das ein Wunder,“ sagt Phelia und stupst sie in die Seite.
Elysia lacht, leicht und hell, wie sie es seit Langem nicht mehr getan hat. „Ich hab’s dir gesagt, ich hatte Nachholbedarf. Jahre lang war Einkaufen ein Pflichttermin mit ihm.“
Phelia zieht eine Augenbraue hoch. „Dem Hotel-Mogul?“
Elysia nickt, ihr Lächeln bleibt, aber ein kurzer Schatten huscht über ihr Gesicht. „Ja. Immer die gleichen Designer, immer das Gleiche. Alles sollte perfekt sein, weißt du? Keine Farbe, kein Muster – alles so… geplant.“
„Und jetzt planst du selbst,“ sagt Phelia sanft und schiebt ihr eine Strähne aus dem Gesicht. „Das steht dir besser.“
Elysia sieht sie an, dann lacht sie wieder, diesmal befreiter. „Ich glaube, du hast recht. Ich fühl mich… endlich wieder wie ich selbst.“
Sie bleiben an einem kleinen Straßencafé stehen. Auf den Tischen liegen bunte Servietten, die Sonnenschirme werfen Schatten auf das Pflaster. Phelia hebt die Einkaufstüten hoch. „Kaffee?“
„Unbedingt.“
Sie setzen sich, der Wind weht warm über ihre Gesichter, und als die Kellnerin die Tassen bringt, lehnt Elysia sich zurück und sieht sich um. Die Stadt ist klein, überschaubar, fast idyllisch – nichts erinnert sie an ihr altes Leben.
Phelia nippt an ihrem Latte, beobachtet sie einen Moment. „Du siehst glücklich aus, weißt du das?“
Elysia lächelt, spielt mit dem Löffel in ihrer Tasse. „Ich bin glücklich. Zumindest… auf einem guten Weg dahin.“
„Und dein Ex?“ fragt Phelia vorsichtig.
Elysia schüttelt den Kopf, ruhig, ohne Bitterkeit. „Der ist Teil eines Lebens, das ich nicht mehr führen will. Ich hab aufgehört, mich umzudrehen.“
Phelia nickt anerkennend. „Dann machst du alles richtig.“
Elysia lächelt und atmet tief ein. Das Leben fühlt sich endlich wieder leicht an. Keine Anrufe, keine Angst, keine Kontrolle – nur Sonne, Lachen und eine Freundin an ihrer Seite, die sie versteht, ohne zu urteilen.
„Weißt du was?“ sagt sie schließlich. „Ich glaube, ich kauf mir gleich noch ein Kleid.“
„Natürlich tust du das,“ grinst Phelia. „Und dieses Mal suchst du es aus.“
Elysia lacht wieder, ein echtes, warmes Lachen – das erste seit sehr langer Zeit.
Und während sie durch die Straßen weiterziehen, die Tüten im Arm, denkt sie nicht mehr daran, wer sie einmal war. Nur daran, wer sie jetzt ist:
Elysia von Kaltenthal. Frei, lebendig – und endlich sie selbst.
Der Himmel über Brunnental färbt sich in zartes Rosa, als Elysia und Phelia sich vor dem Restaurant verabschieden. Das Lachen der Gäste liegt noch in der Luft, leise Musik aus der Ferne, ein Hauch von Sommer und Leben.
Elysia geht langsam durch die Straßen, die Tüten in der Hand, die Absätze ihrer Sandalen klacken sanft auf dem Pflaster. Der Abendwind weht warm über ihre Arme, spielt mit einer losen Haarsträhne. In den Schaufenstern spiegeln sich die Laternen, und für einen Moment bleibt sie stehen, betrachtet ihr Spiegelbild.
Sie sieht anders aus, stellt sie fest. Leichter. Weicher. Irgendwie mehr sie selbst.
Langsam biegt sie in die Straße ein, die zum Haus ihrer Eltern führt. Es ist still hier, die Gärten riechen nach Blumen und frisch gemähtem Gras. Sie weiß, dass ihre Mutter noch in der Küche ist, ihr Vater wahrscheinlich in seinem Sessel sitzt und Zeitung liest. Und sie liebt das. Die Verlässlichkeit, die Wärme.
Aber… sie spürt auch, dass sie nicht ewig bleiben kann.
Seit Wochen lebt sie hier, teilt das Bad mit ihren Eltern, isst am gleichen Tisch wie früher, schläft in ihrem alten Zimmer mit dem weißen Himmelbett. Es war ein Zufluchtsort, als sie ihn gebraucht hat. Doch jetzt – fühlt es sich langsam an wie ein Platz, den sie zu lange besetzt.
Vielleicht ist es Zeit.
Sie bleibt stehen, sieht zum Himmell. Der Gedanke kommt ganz natürlich:
Eine eigene Wohnung.
Nicht groß, nicht perfekt – nur ein Ort, der ihr gehört. Wo sie morgens aufwacht, den Kaffee selbst kocht, das Fenster öffnet und weiß, dass niemand sie beobachtet, niemand etwas erwartet.
Sie lächelt leicht, während sie weitergeht. Vielleicht in der Nähe des Flusses. Oder am Rand der Stadt, wo die Sonne so schön über die Felder scheint. Ein kleiner Balkon, ein runder Tisch, vielleicht ein Sessel mit weicher Decke.
Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlt sich Zukunft nicht mehr bedrohlich an, sondern… möglich.
Sie sieht das Haus ihrer Eltern, das vertraute Licht in den Fenstern, und ihr Herz zieht sich kurz zusammen – warm, dankbar, aber auch mit einem Hauch Wehmut.
„Bald,“ flüstert sie leise, fast zu sich selbst. „Nur noch ein bisschen.“
Dann geht sie die Stufen hoch, öffnet leise die Tür und tritt ein. Ihre Mutter ruft aus der Küche: „Da bist du ja, Liebling! Willst du noch Tee?“
Elysia lächelt, hängt ihre Tasche an den Haken. „Gerne, Mama.“
Doch während sie den Duft von Tee und Wärme einatmet, weiß sie:
Der nächste Schritt wird kommen. Bald.
Und diesmal läuft sie nicht weg – sie geht ihren eigenen Weg.
Der Morgen bricht golden über Brunnental an. Die Sonne fällt durch die großen Schaufenster der kleinen Bäckerei in der Altstadt und taucht alles in warmes Licht. Der Duft von frischem Brot, Vanille und Kaffee hängt in der Luft, vermischt mit dem Klingen der Glocke über der Tür, wenn die ersten Kunden hereinkommen.
Hinter der Theke stehen Elysia und Phelia, beide in hellen Schürzen, die Ärmel ein Stück hochgekrempelt. Sie lachen leise, während sie Brötchen in die Auslage legen und Croissants aufreihen.
Phelia ist etwa in Elysias Alter, vielleicht ein, zwei Jahre älter. Sie hat lange, braune Haare, die sie zu einem lockeren Zopf gebunden trägt, und grüne Augen, die immer etwas Warmes in sich tragen – selbst dann, wenn der Laden voll ist und der Stress überhandnimmt.
Schlank, mittelgroß, mit dieser lässigen Ruhe, die man nur hat, wenn man liebt, was man tut. Sie arbeitet hier schon seit Jahren. Sie hat in der Bäckerei gelernt, kennt jede Sorte Brot, jede Stammkundin beim Namen.
Und obwohl die Bäckerei offiziell Herrn Lehmann gehört – einem freundlichen, aber etwas vergesslichen Bäckermeister –, ist Phelia diejenige, die hier alles zusammenhält. Sie nennt sich selbst augenzwinkernd „zweite Chefin“, und niemand widerspricht ihr.
Elysia steht neben ihr, füllt gerade eine Tüte mit Mohnbrötchen. „Ich hab gestern Abend viel nachgedacht,“ sagt sie, während sie die Tüte faltet.
Phelia hebt eine Braue. „Das klingt nach einem ernsten Anfang. Geht’s um deinen Ex?“
Elysia lacht leise. „Nein. Zum Glück nicht. Es geht um… mich. Ich glaube, ich will ausziehen.“
Phelia schaut sie überrascht an, lehnt sich leicht gegen den Tresen.
„Ausziehen? Von deinen Eltern?“
Elysia nickt, ihr Blick wandert zum Fenster, wo draußen die Sonne über den Marktplatz wandert. „Ich liebe sie, wirklich. Aber… ich hab das Gefühl, ich steh still. Ich will wieder etwas Eigenes. Einen Ort, der mir gehört.“
Phelia lächelt und wischt sich die Hände an der Schürze ab. „Das klingt nach dem richtigen Schritt. Ich erinnere mich, als ich aus dem Elternhaus raus bin – das war befreiend. Und du bist alt genug, deinen eigenen Platz zu haben.“
„Ich dachte an etwas Kleines,“ sagt Elysia nachdenklich. „Ein Zimmer mit Licht, vielleicht ein Balkon. Nicht viel – aber meins.“
„Es gibt hier in der Nähe ein paar schöne Wohnungen,“ sagt Phelia. „Wenn du willst, schau ich mit dir zusammen. Ich kenn den Makler, der die meisten vermietet. Der schuldet mir noch was, weil ich ihn zwei neue Kunden vermitelt hab.“
Elysia lacht, der Gedanke hellt ihre ganze Haltung auf. „Das klingt genau nach dir.“
„Was denn? Süß und überzeugend?“
„Eher gerissen,“ neckt Elysia.
Beide lachen, und der Duft von frischem Gebäck mischt sich mit die Leichtigkeit des Augenblicks.
Phelia sieht sie kurz an, etwas ernster, aber mit einem freundlichen Lächeln.
„Du bist wirklich anders geworden, seit du hier bist, weißt du das? Freier. Es steht dir.“
Elysia nickt, ihr Blick wird weich. „Ja. Ich glaub, ich fang an, wieder ich zu werden.“
Ein Kunde betritt die Bäckerei, die Glocke klingelt, und sie nehmen beide wieder ihre Plätze ein – lächelnd, voller Energie.
Doch zwischen den frisch gebackenen Brötchen und dem Duft nach Vanille hängt nun etwas Neues in der Luft:
Ein Plan. Ein Schritt. Ein Anfang.
Der Abend liegt warm über Falkensee, ein schwerer, goldener Sommerabend, an dem die Luft nach See und Hitze schmeckt. In einem kleinen Restaurant am Stadtrand sitzt Kian auf der Terrasse, die Sonne glitzert auf dem Wasser, das sich träge bewegt. Vor ihm steht ein Glas Wein, halb geleert, daneben Liora, die in der Abendsonne beinahe golden wirkt.
Sie redet, lacht, gestikuliert mit den Händen, doch Kian ist mit den Gedanken woanders. Seit Ben ihm erzählt hat, dass Hannah weiß, wo Elysia ist, kreisen seine Gedanken unaufhörlich. Er will das gar nicht. Will hier sitzen, will da sein – bei Liora, bei diesem Lächeln, das ihm eigentlich so gut tut.
Aber zwischen jedem Satz, zwischen jedem Atemzug taucht immer wieder dieses Gesicht auf:
Elysia.
Wie sie damals im Regen stand. Wie ihre Stimme klang, ruhig, aber voller unausgesprochener Dinge. Wie sie ihn angesehen hat.
Liora bemerkt es. Natürlich. Sie hat ein Gespür für Zwischentöne, für Pausen, die zu lang sind. Sie sieht, wie er auf den See hinausblickt, statt sie anzusehen. Wie er die Gabel in der Hand hält, aber kaum isst.
„Du bist weit weg,“ sagt sie schließlich leise.
Kian blinzelt, sieht sie an, lächelt entschuldigend. „Tut mir leid. Ich war kurz… abgelenkt.“
Sie lehnt sich zurück, betrachtet ihn aufmerksam. „Schon den ganzen Abend, wenn ich ehrlich bin.“
Er schüttelt den Kopf, versucht, ein Lächeln zu formen. „Ich glaube, es war einfach ein anstrengender Tag. Und die Hitze… na ja, du weißt schon. Die macht mich fertig.“
Liora mustert ihn, die grünen Augen ruhig, fast zu ruhig. „Hm,“ sagt sie nur, „klingt glaubwürdig.“
Aber er hört den Zweifel in ihrer Stimme. Er hebt sein Glas, nimmt einen Schluck, mehr um Zeit zu gewinnen als aus Durst.
Sie lächelt – freundlich, aber nicht blind.
„Ich will dich nicht festnageln,“ sagt sie sanft. „Aber wenn dir was auf der Seele liegt, Kian… du kannst’s mir sagen.“
Er schüttelt den Kopf, der Blick wieder auf den See gerichtet.
„Es ist wirklich nichts. Nur… ein bisschen zu viel im Kopf.“
Sie nickt langsam, akzeptiert die Antwort – vorerst.
Dann wechselt sie das Thema, erzählt ihm aus der Galerie, lacht, und er lächelt zurück, bemüht, präsent zu sein. Doch in seinem Inneren flackert der Gedanke weiter:
Elysia.
Nicht greifbar, nicht erklärbar. Nur dieses Gefühl, das sich weigert, leiser zu werden. Und während Liora von Kunst und Sommerausstellungen spricht, nickt er, hört zu – doch seine Gedanken treiben längst woanders hin, zu einer Frau mit blauen Augen, deren Kapitel in seinem Leben er längst hatte schließen wollen.
Der Abend vergeht leichter, als Kian befürchtet hat. Nach einer Weile schafft er es tatsächlich, sich zu entspannen. Liora erzählt mit funkelnden Augen von einer neuen Ausstellung in der Galerie, über einen Künstler, der Skulpturen aus alten Fahrrädern baut, und er lacht – echt, nicht gezwungen. Sie reden über Musik, übers Reisen, über die verrücktesten Kunden, die sie je getroffen haben.
Das Lachen mischt sich mit dem Summen der Gespräche um sie herum, und für eine Weile fühlt es sich einfach richtig an. Elysia rückt in den Hintergrund, wie eine Erinnerung, die man für ein paar Stunden vergisst.
Als sie schließlich das Restaurant verlassen, ist die Luft weich und lau, das Licht der Laternen glitzert auf dem Kopfsteinpflaster. Sie gehen nebeneinander, ihre Schultern berühren sich manchmal flüchtig. Kian genießt den Moment, dieses leise Gleichgewicht zwischen Nähe und Abstand.
Liora redet über ihren Tag, über die Galerie, über die Nachbarin mit dem streunenden Kater, und Kian hört zu, nickt, lächelt – bis sie schließlich vor ihrer Haustür stehen. Der Sommerduft liegt schwer in der Luft.
„Danke für den Abend,“ sagt sie, leise, aber mit diesem Blick, der kein Dank ist, sondern eine Einladung.
Kian nickt. „Ich hab’s genossen.“
„Ich auch.“
Sie tritt einen Schritt näher, die Hände an seinem Arm, hebt leicht den Kopf.
Ihr Blick ist offen, warm. Ein Augenblick, in dem die Welt stillsteht. Doch Kian zögert. Es ist nur eine Sekunde, aber sie reicht. Er zieht leicht den Kopf zurück, fast unmerklich, doch sie spürt es. Das Lächeln in ihren Augen verlischt, ersetzt durch Irritation.
„Kian,“ sagt sie leise, „was ist los mit dir?“
Er öffnet den Mund, sucht nach einer Antwort – irgendeiner, die nicht wehtut.
„Nichts,“ sagt er schließlich. „Ich… ich will einfach nichts überstürzen.“
Liora tritt einen halben Schritt zurück, verschränkt die Arme. „Das sagst du jedes Mal.“
„Ich weiß,“ antwortet er, sein Blick weich, ehrlich. „Ich mag dich wirklich, Liora. Aber… ich brauch einfach noch ein bisschen Zeit.“
Sie seufzt, die Schultern sinken leicht. „Zeit. Das sagen Männer immer, wenn sie nicht wissen, was sie wollen.“
„Ich weiß, was ich will,“ sagt Kian ruhig. „Ich will ehrlich bleiben. Zu dir – und zu mir.“
Für einen Moment ist nur Stille zwischen ihnen. Dann nickt sie langsam, auch wenn Enttäuschung in ihrem Blick liegt.
„Na gut,“ sagt sie schließlich und dreht sich zur Tür. „Dann wünsch ich dir eine gute Nacht, Kian.“
Er nickt, leise. „Dir auch.“
Die Tür fällt hinter ihr zu, das Klicken hallt leise in der warmen Abendluft nach. Kian bleibt noch einen Moment auf der Straße stehen, sieht auf die geschlossene Tür. Dann dreht er sich um, geht langsam zurück – und während seine Schritte im Pflaster verhallen, weiß er, dass Liora recht hat.
Er weiß sehr genau, was er will. Nur liegt das längst nicht mehr hier – sondern irgendwo zwischen Erinnerung und Sehnsucht, bei einer Frau mit blauen Augen,
die er einfach nicht vergessen kann.
Die Nacht ist still, als Kian die Haustür hinter sich schließt. Nur das leise Summen der Grillen dringt durch das offene Fenster. Er legt die Schlüssel auf den Tisch, zieht die Schuhe aus und geht ins Wohnzimmer - bleibt mitten im Wohnzimmer stehen.
Es ist warm im Haus, stickig fast, und doch läuft ihm ein Schauer über den Rücken. Er atmet tief durch, lässt sich auf das Sofa fallen, stützt die Ellbogen auf die Knie und vergräbt das Gesicht in den Händen.
Das Bild von Liora lässt ihn nicht los – ihr enttäuschter Blick, der Moment, in dem sie begriffen hat, dass er sich wieder entzogen hat. Er hasst sich ein wenig dafür. Sie hätte es verdient, dass er ehrlich ist. Ganz ehrlich.
Aber wie soll er ihr erklären, dass er jemand anderen nicht vergessen kann Eine Frau, die längst nicht mehr Teil seines Lebens ist. Eine Frau, die fortgegangen ist, um ihr eigenes zu leben. Er lehnt sich zurück, schließt die Augen. Und da ist sie wieder.
Elysia.
Wie sie ihn damals angesehen hat, als er sie im Regen fand.
Wie ihre Lippen gezittert haben, als sie versuchte, Haltung zu bewahren.
Wie sie in seiner Küche saß, den Tee in den Händen, die nassen Haare im Gesicht – und für einen Moment so zerbrechlich und doch so stark wirkte.
Er hatte sie kaum gekannt, aber irgendetwas an ihr hatte ihn berührt, tief drinnen. Nicht, weil sie schön war – das war sie zweifellos.
Sondern weil sie echt war.
Ehrlich.
Unverstellt.
Elysia hatte eine Stille an sich, die lauter war als alles, was er kannte. Und jetzt, Monate später, hallte genau diese Stille immer noch in ihm nach.
Kian steht auf, geht zum Fenster und öffnet es. Der Wind streicht über seine Haut, warm und weich, trägt den Duft von Sommer herein. Er blickt hinaus auf den See. Das Wasser schimmert dunkel, fast schwarz im Mondlicht.
„Was machst du gerade?“ murmelt er leise, mehr zu sich selbst als in die Nacht.
„Geht’s dir gut?“
Keine Antwort, natürlich. Nur das Rascheln der Bäume, das leise Glucksen des Wassers. Er weiß, dass sie irgendwo ihr neues Leben führt, weit weg von all dem. Und doch spürt er, dass ein Teil von ihr noch in seinem Kopf lebt – leise, unbeirrbar, wie ein Lied, das man nicht ganz vergessen kann. Er schließt das Fenster, löscht das Licht und bleibt noch einen Moment im Dunkeln stehen.
Dann sagt er leise, fast flüsternd:
„Ich hoffe, du bist glücklich, Elysia.“
Und während die Nacht ihn umhüllt, weiß Kian, dass er sich das erste Mal seit langem nichts mehr vormachen kann. Er hat versucht, weiterzugehen – aber ein Teil von ihm ist nie mitgegangen.
Der Abend liegt weich über Brunnental. Ein lauer Sommerwind bewegt die Blätter im Garten, und Grillen zirpen.
Elysia sitzt auf der kleinen Terrasse hinter dem Haus ihrer Eltern, eingehüllt in das leise Rascheln der Nacht. Vor ihr steht eine Tasse Tee, aus der der Dampf langsam aufsteigt und sich im Licht des Mondes verliert.
Sie lehnt sich im Stuhl zurück, die Decke locker über die Beine gelegt, und sieht in den Himmel. Die Sterne sind klar zu erkennen, das Dunkel ist tief, fast samtig. Es ist einer dieser Abende, an denen die Gedanken still werden – und gleichzeitig lauter als je zuvor.
Ihre Finger spielen mit dem Rand der Tasse. Sie denkt an die letzten Wochen, an die Arbeit in der Bäckerei, an Phelias Lachen und den Duft von frischem Brot am Morgen. An den Plan, eine eigene Wohnung zu finden – einen Ort, der nur ihr gehört. Der Gedanke lässt sie lächeln.
Frei zu sein.
Wirklich frei.
Sie stellt sich eine kleine Wohnung vor, mit hellen Wänden und offenen Fenstern. Vielleicht mit einem Balkon, auf dem sie sitzen und den Sonnenaufgang sehen kann. Ein Ort, der nicht nach Vergangenheit riecht.
Nicht nach Valerian. Nicht nach Pflicht. Sondern nach sich selbst.
Sie atmet tief durch, und in dieser Ruhe taucht plötzlich ein anderes Bild in ihrem Kopf auf.
Kian.
Sein Gesicht im Dämmerlicht ihres alten Lebens. Die Art, wie er sie damals im Regen gesehen hat – nicht als irgendjemandes Frau, nicht als Figur in einem goldenen Käfig, sondern einfach als Mensch.
Wie er sie aufgenommen hat, ohne Fragen, ohne Forderungen.
Wie er sie angesehen hat, als sie nicht einmal wusste, wer sie selbst noch war.
Ein stilles Lächeln breitet sich auf ihren Lippen aus. Wenn er nicht gewesen wäre…
Wenn er sie damals nicht einfach in sein Auto gesetzt hätte, ohne zu wissen, wer sie wirklich war…
Dann säße sie jetzt wohl immer noch in jenem Haus, mit den weißen Mauern und den verschlossenen Fenstern, und würde sich vormachen, glücklich zu sein. Er hat sie gerettet, denkt sie. Nicht auf dramatische Weise – sondern einfach, indem er da war.
Sie ist ihm dankbar. Auf eine Weise, die tiefer geht, als sie sich selbst eingestehen kann.
Aber Gefühle…
Nein, dafür ist es noch zu früh.
Sie spürt es genau. Da ist noch zu viel, was heilen muss. Zu viel, was sie erst verstehen muss, bevor sie wieder bereit ist, sich jemandem zu öffnen.
Sie legt den Kopf leicht in den Nacken und sieht in den Himmel, wo eine Sternschnuppe kurz über die Nacht streift. Ein stiller, flüchtiger Moment.
„Danke, Kian,“ flüstert sie leise, fast unhörbar.
„Für alles.“
Dann trinkt sie den letzten Schluck Tee, steht auf und geht hinein.
Drinnen ist es still, nur das Ticken der Uhr in der Küche. Und obwohl sie nicht weiß, wohin ihr Weg sie führen wird, spürt sie:
Sie ist zum ersten Mal auf dem richtigen.