Falkensee - Kapitel 2



Der nächste Morgen ist klar und kühl. Kian steht vor dem modernen Glasgebäude, das im Sonnenlicht glitzert wie ein frisch geputzter Bildschirm.
Über dem Eingang prangt ein schlichtes, elegantes Logo:


„TechSphere Solutions“

 

Er lächelt. Der Name passt – modern, offen, ein bisschen ehrgeizig. Genau das, was er gesucht hat. Drinnen riecht es nach Kaffee, Elektronik und frisch gedrucktem Papier. Ein Empfangsbereich mit hellen Wänden, Pflanzen in Metalltöpfen und einem Bildschirm, auf dem das Firmenmotto leuchtet:


„We connect what matters.“

 

„Kian Sterling?“


Die Stimme kommt von einer jungen Frau mit kurzem, kupferfarbenem Haar und einem breiten Lächeln.


„Ja, genau. Erster Tag,“ sagt er, und sie streckt ihm die Hand entgegen.


„Ich bin Nora. Personalabteilung, Kaffeeliebhaberin und inoffizielle Lebensretterin aller Neuen hier.“

 

Er lacht. „Dann bin ich in besten Händen.“


„Na, das will ich hoffen. Komm, ich zeig dir alles.“

 

Sie führt ihn durch die offenen Büroräume. Überall Laptops, Whiteboards voller Notizen, Kabelsalat und das gleichmäßige Tippen von Tastaturen.


„Das hier ist das Entwickler-Team. Da hinten die UX-Abteilung. Und das ist dein Bereich – IT-Support und Netzwerksicherheit. Die meisten sind nett. Ein paar sind … eigen. Aber du wirkst, als würdest du das aushalten.“

 

Kian schmunzelt. „Ich hab in Start-ups gearbeitet, ich kenn Schlimmeres.“

 

An seinem Schreibtisch wartet schon jemand – ein breitschultriger Mann mit Drei-Tage-Bart, der gerade Chips isst und auf zwei Bildschirme gleichzeitig starrt.


„Hey, du bist der Neue?“


„Kian, ja.“


„Ben. Ich mach hier die Serverpflege. Und manchmal Kaffee. Aber der Kaffee ist gefährlicher.“

 

Kian lacht. „Ich merk schon, du bist der mit den wichtigen Aufgaben.“


„Genau. Und du bist jetzt offiziell der Typ, der das WLAN repariert, wenn’s wieder alle hassen.“

 

Sie grinsen.

 

Im Hintergrund läuft leise Musik, jemand lacht, und plötzlich fühlt sich alles überraschend leicht an. Fremd – aber nicht falsch.

 

Als Kian sich setzt, spürt er dieses vertraute Kribbeln: Neuanfang. Keine Vergangenheit, kein Ballast. Nur ein Monitor, ein paar Kabel – und ein Gefühl von Aufbruch.

 

Nora lehnt sich über die Schreibtischkante. „Wenn du nach Feierabend was trinken willst, ein paar von uns gehen immer ins ‚Dock 11‘ am Seeufer. Ganz entspannte Truppe.“


„Klingt gut,“ sagt Kian. „Vielleicht komm ich vorbei.“


„Vielleicht?“


Er grinst. „Okay, ich komm vorbei.“

 

Kian sitzt inzwischen an seinem neuen Schreibtisch, das Namensschild provisorisch aus Papier, daneben eine noch dampfende Kaffeetasse mit dem Firmenlogo.


Der Bildschirm ist zweigeteilt, Codezeilen auf der einen Seite, eine Netzwerkübersicht auf der anderen.

 

„Also, was genau machst du hier?“ fragt Ben und schiebt ihm eine Liste zu.


„Offiziell? Sicherheitsanalyse und Netzwerkpflege,“ antwortet Kian.

„Inoffiziell: der Typ, der alle rettet, wenn jemand das Passwort vergisst.“

 

„Ah, du bist also unser Superheld im Hoodie.“


„Nur ohne Cape.“

 

Er klickt sich konzentriert durch ein paar Systeme, prüft Firewalls, aktualisiert Zugriffsrechte. Nach wenigen Minuten murmelt er: „Kein Wunder, dass der Server gestern abgestürzt ist. Das Protokoll ist älter als mein Auto.“


Ben grinst. „Dann willkommen bei TechSphere.“

 

Zwischendurch klingelt das Telefon. Eine Stimme aus der Personalabteilung:


„Herr Sterling, mein Drucker macht Geräusche. So … klack-klack-klack.“


„Klingt nach rhythmischem Papierstau,“ sagt Kian trocken. „Ich komm gleich vorbei.“

 

Er steht auf, schnappt sich sein Werkzeug-Set und verschwindet in Richtung Flur.


Nora lehnt an der Tür. „Erster Tag und schon ein Notfall?“


„Scheint so. Wenn ich Pech hab, ruft gleich noch jemand, weil sein Monitor zu dunkel ist.“


„Dann bist du offiziell angekommen.“

 

Er repariert den Drucker, lächelt höflich, beruhigt eine panische Kollegin, die glaubt, sie hätte „aus Versehen das Internet gelöscht“, und kehrt schließlich mit einem kleinen Lächeln an seinen Platz zurück.

 

„Na, wie war’s?“ fragt Ben.


„Ich hab den Drucker wiederbelebt. Ich denke, ich verdiene einen Kaffee auf Lebenszeit.“


„Den gibt’s hier wirklich. Nur schmeckt er nach Reue.“

 

Sie lachen beide.

 

Gegen Mittag herrscht geschäftiges Treiben. Die Kollegen holen Sandwiches, irgendwo wird Musik angestellt, jemand erzählt einen schlechten Witz über Software-Updates.


Kian lehnt sich kurz zurück, sieht durch die Glasfront hinaus. Von hier oben kann er den See erkennen, ruhig und glitzernd in der Sonne. Einen Moment lang bleibt er einfach so sitzen. Er fühlt sich … angekommen.
Nicht ganz zu Hause, aber auf dem Weg dorthin. Dann klingelt wieder das Telefon, und er greift automatisch danach.


„IT, Sterling. Wie kann ich helfen?“


Ein leichtes Schmunzeln huscht über seine Lippen. Er ist wieder im Spiel.

 

Der Nachmittag zieht sich. Draußen wandert die Sonne über die Glasfassade, drinnen summen Rechner und Gespräche. Kian sitzt vertieft in einer Analyse – ein paar Server laufen instabil, und er versucht herauszufinden, warum.


Ben lehnt über seinen Schreibtisch, halb interessiert, halb gelangweilt, mit einer Hand in der Chipstüte.

 

„Wenn du da noch länger draufstarrst, hackt der Server aus Mitleid selbst die Lösung rein,“ murmelt Ben.


Kian grinst. „Oder er gibt einfach auf. Wäre effizienter.“


„Ich mag deine Denkweise.“

 

Sie beugen sich beide über den Bildschirm. Kian erklärt ruhig, woran er gerade arbeitet – Firewalls, Ports, Zugriffe.


Ben hört aufmerksam zu, nickt, stellt Fragen, und Kian merkt, dass er schon lange mit niemandem mehr so entspannt zusammengearbeitet hat. Kein Druck, kein Konkurrenzdenken – einfach ein stilles, gegenseitiges Verstehen.


Ben hat diesen trockenen Humor, der genau im richtigen Moment kommt, und Kian erwischt sich mehrmals dabei, dass er lächelt, während er tippt.

 

„Also gut,“ sagt Ben nach einer Weile, „du bist offiziell der erste Kollege, den ich nicht schon am ersten Tag mit einem LAN-Kabel würgen will.“


„Ich nehm das als Kompliment.“


„Ist eins.“

 

Sie arbeiten weiter, Hand in Hand, ohne viele Worte.
Wenn Kian etwas sagt, versteht Ben sofort, was er meint – und umgekehrt. Es ist leicht. Natürlich. Wie zwei Menschen, die denselben Rhythmus teilen, ohne ihn je abgesprochen zu haben.

 

Als der Feierabend naht, lehnt Ben sich zurück und streckt die Arme. „Ich sag’s ungern, aber ich glaub, du hast den Tag gerettet.“


„War Teamarbeit,“ meint Kian und klappt den Laptop zu.


„Wenn du das so nennst. Kommst du mit ins Dock 11?“


„Du meinst das mit dem legendär schlechten Bier?“


„Genau das. Und Pommes, die aussehen, als hätten sie Existenzkrisen.“


„Ich bin dabei.“


Das „Dock 11“ liegt direkt am See, ein gemütliches Lokal mit großen Fenstern, gedämpftem Licht und dem Geruch nach Salz, Holz und Frittieröl. Draußen schimmert das Wasser im letzten Abendlicht, und aus dem Radio tönt leise Musik.

 

Kian und Ben sitzen an einem hohen Tisch, zwei Bier vor sich, die Jacken über die Stuhllehnen geworfen.


„Nicht schlecht hier,“ sagt Kian. „Fast wie Urlaub.“


„Kommt drauf an, mit wem du Urlaub machst,“ erwidert Ben und prostet ihm zu.

 

Die Stimmung ist locker. Sie reden über Filme, Musik, alte Jobs, über Technik und über nichts.


Ben erzählt von einem Server-Crash, der ihm mal den Schlaf geraubt hat, und Kian lacht so, dass er beinahe das Bier verschüttet.

 

„Weißt du,“ sagt Ben nach einer Weile, „ich hab das Gefühl, du bist nicht hergekommen, weil du Bock auf Kleinstadt-Idylle hattest.“


Kian blickt aus dem Fenster auf den stillen See. „Sagen wir, ich hatte Lust auf Stille. Und einen Neustart.“


Ben nickt. „Verstehe. Manchmal ist es gut, den Stecker zu ziehen und einfach neu zu booten.“


„Das hast du schön gesagt,“ lacht Kian.


„Ich bin Philosoph mit IT-Hintergrund.“

 

Sie stoßen an, das Glas klirrt leise. Für einen Moment ist alles leicht. Kian lehnt sich zurück, hört das leise Murmeln der Gespräche um sie herum, das Klirren von Besteck, das gedämpfte Rauschen des Wassers draußen. Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlt er sich angekommen – nicht, weil alles perfekt ist, sondern weil etwas in ihm endlich wieder atmet.

 

Die Sonne ist längst untergegangen, und im Dock 11 wird es langsam voller. Gespräche füllen den Raum, Gläser klirren, das Licht ist warm und weich.
Kian sitzt noch immer mit Ben am Tisch, die Stimmung ist gelöst.

 

„Also,“ sagt Ben und nimmt einen Schluck Bier, „du bist offiziell aufgenommen. Keine Panikattacken, keine Ragequits. Ich glaub, das ist ’n Rekord.“


Kian lacht. „Ich geb mir Mühe. Ich will ja keinen schlechten ersten Eindruck machen.“

 

Da geht die Tür auf – und ein vertrautes Lachen schneidet durch das Stimmengewirr.


„Na, da seid ihr ja! Ich dachte schon, ihr seid wieder in eurem Technikloch verschwunden!“

 

Kian dreht sich um.


Eine Frau mit lockigen, honigblonden Haaren und strahlenden Augen kommt herein – voller Energie, als würde sie Licht mitbringen.


Ben steht auf, grinst breit. „Kian, das ist Hannah. Meine bessere Hälfte und mein einziger Grund, halbwegs pünktlich zu Feierabend zu gehen.“

 

Kian blinzelt überrascht, dann lächelt er. „Ah, die sagenumwobene Hannah. Ich hab schon Geschichten gehört.“


„Hoffentlich gute,“ sagt sie und reicht ihm die Hand.


„Das kommt drauf an, wen man fragt,“ erwidert Kian grinsend.


„Oh, charmant UND vorsichtig. Gefällt mir.“

 

Sie setzt sich zu ihnen, bestellt sich ein Glas Weißwein und mustert Kian offen – freundlich, aber mit dieser Art von Neugier, die nichts übersieht.


„Also, du bist der Neue, der am See wohnt, richtig?“


Kian nickt. „Stimmt. Frisch eingezogen. Noch zwischen Kartons und Chaos.“


„Ich liebe Chaos. Es zeigt, dass was passiert.“


„Dann bist du bei mir genau richtig.“


„Ben hat gesagt, du kommst nicht von hier?“


„Nee, ich hab vorher in Berlin gearbeitet. Jetzt wollt ich’s mal ruhiger angehen.“


„Berlin gegen Falkensee eintauschen?“ Sie lacht. „Mutig. Oder verrückt.“


„Vielleicht beides,“ sagt Kian und nimmt einen Schluck Bier.

 

Hannah lacht herzlich, und Ben legt den Arm um sie.


„Sie stellt immer so viele Fragen,“ sagt er halb entschuldigend.


„Ich nenne das soziales Interesse,“ kontert sie. „Außerdem – wenn jemand Neues in meiner Stadt wohnt, will ich wissen, ob er gefährlich, langweilig oder charmant ist.“


„Und? Dein Urteil?“ fragt Kian amüsiert.


„Noch unentschieden,“ sagt sie mit einem schelmischen Blick. „Aber du hast Potenzial.“

 

Ben lacht, schüttelt den Kopf. „So hat sie auch bei mir angefangen.“


„Und siehst du, was daraus geworden ist?“


„Ja,“ murmelt Kian. „Ein Powerduo. Ich glaub, ich bin beeindruckt.“

 

Sie trinken, lachen, erzählen. Hannah redet viel, aber nie zu viel – sie zieht Menschen mit, ohne sie zu überrollen.


Kian merkt, dass er sich entspannt, dass die Leere der letzten Monate kleiner wird. Als er später kurz nach draußen tritt, um frische Luft zu schnappen, sieht er den See still unter dem Sternenlicht liegen. Das Wasser glitzert, als hätte es Geheimnisse, die nur darauf warten, entdeckt zu werden.

 

Drinnen ruft Hannah: „Kian, komm, du musst noch erzählen, warum du aus Berlin geflohen bist!“


Er dreht sich um, lächelt und denkt, dass er vielleicht endlich am richtigen Ort angekommen ist.

 

Das Dock 11 ist inzwischen voll. An der Theke lacht jemand laut, Musik dröhnt leise aus den Lautsprechern, und das Licht schimmert bernsteinfarben über die Gesichter der Gäste.


Kian sitzt wieder am Tisch, Ben hat sich kurz verabschiedet, um an der Bar Nachschub zu holen.

 

Hannah stützt das Kinn in die Hand, sieht ihn neugierig an. „Also, erzähl mal – was bringt einen wie dich aus der Stadt hierher? Sehnsucht nach Entschleunigung? Burnout? Oder eine Frau?“

 

Kian lacht leise. „Ganz schön direkt.“


„Ich bin ehrlich, das spart Zeit.“


Er überlegt einen Moment. „Sagen wir … ich brauchte Abstand. Ein Neuanfang. Berlin war irgendwann zu laut.“


„Zu laut kann ich verstehen,“ murmelt sie und rührt in ihrem Glas. „Manchmal ist die Stille aber schlimmer.“

 

Kian sieht sie an. Ihre Stimme klingt plötzlich weicher, ernster.


„Meinst du das allgemein, oder redest du von jemandem?“


Hannah seufzt. „Ich rede von jemandem.“

 

Sie lächelt, aber diesmal ohne Witz.


„Meine beste Freundin. Sie war immer das Gegenteil von mir – elegant, ruhig, kontrolliert. Und jetzt … wirkt sie einfach müde. So, als hätte jemand ihr Licht runtergedreht. Ich mach mir Sorgen.“


Kian nickt verständnisvoll. „Klingt, als steckt sie fest.“


„Genau das. Sie steckt fest in einem Leben, das glänzt, aber kalt ist. Ich sag ihr ständig, sie soll rauskommen, aber … na ja.“


„Manchmal braucht es den richtigen Moment,“ sagt Kian leise. „Oder den richtigen Menschen.“

 

Hannah sieht ihn prüfend an.


„Glaubst du, so jemand kann wirklich was ändern?“


„Vielleicht nicht alles,“ antwortet er, „aber manchmal reicht ein einziger Mensch, um zu erinnern, dass man noch lebt.“

 

Sie lächelt. „Das klingt fast philosophisch.“


„Oder einfach ehrlich.“

 

Einen Moment lang schweigen sie beide. Nur das Lachen der anderen Gäste füllt die Luft.


Dann kommt Ben mit drei Gläsern zurück, stellt sie ab und fragt: „Hab ich was verpasst?“


„Nichts,“ sagt Hannah schnell und lächelt wieder. „Nur ein bisschen Seelenarbeit zwischen den Getränken.“


Ben zieht die Augenbraue hoch. „Dann trink lieber was, bevor du anfängst, über Sternzeichen zu reden.“

 

Kian lacht, und die Stimmung hellt sich wieder auf.


Doch während sie weiterreden, bleibt Hannahs Blick für einen Moment gedankenverloren.


Sie denkt an Elysia – an ihr blasses Gesicht, die müden Augen, das leise Lächeln beim letzten Abschied. Und während sie auf Kian sieht, fragt sie sich unwillkürlich, ob es vielleicht genau dieser Fremde ist, der eines Tages ein wenig Farbe in das Leben ihrer Freundin bringen könnte.


Die Luft im Wohnzimmer ist zum Schneiden.
Valerian steht vor dem Kamin, die Hände in den Taschen seines Anzugs, das Gesicht hart, die Augen dunkel vor Wut.


Elysia steht ein paar Schritte entfernt, barfuß auf dem kalten Marmorboden, die Schultern angespannt, die Finger ineinander verschränkt.

 

„Ich verstehe einfach nicht, was in dich gefahren ist,“ sagt er, leise, gefährlich ruhig.


„Ich war mit Hannah einen Kaffee trinken,“ erwidert sie. Ihre Stimme klingt brüchig, aber sie bemüht sich, ruhig zu bleiben.


„Und ich komme nach Hause, ohne Vorwarnung, und du bist einfach weg. Kein Zettel, keine Nachricht. Nichts.“

 

„Ich bin nicht deine Angestellte, Valerian.“


„Nein,“ sagt er scharf, „du bist meine Frau. Und genau deshalb erwarte ich ein gewisses Maß an… Respekt.“

 

Elysia hebt den Kopf. „Respekt? Du meinst Kontrolle.“


„Nenn es, wie du willst. Aber solange du in diesem Haus lebst, wirst du dich angemessen verhalten. Ich dulde keine spontanen Ausflüge und keine ständigen Einflüsse deiner Freundin, dieser...“


„Sag es ruhig,“ unterbricht sie leise. „Dieser unpassenden, einfachen Frau?“


Sein Blick wird kalt. „Ich sage nur, dass du in letzter Zeit… abdriftest.

Unkonzentriert wirkst. Müde. Du bist nicht mehr die Elysia, die ich geheiratet habe.“

 

Sie lacht bitter. „Vielleicht war die Elysia, die du geheiratet hast, nur das, was du wolltest. Nicht das, was ich war.“

 

Einen Moment herrscht Stille. Dann knallt Valerian mit der flachen Hand gegen den Kaminsims.


„Du hast keine Ahnung, was ich für dich tue. Was ich für uns tue! Ich arbeite Tag und Nacht, damit du dieses Leben führen kannst, und du dankst es mir mit Trotz und Launen!“

 

Elysia zuckt zusammen, aber sie weicht nicht zurück.


„Ein Leben, das du ausgesucht hast. Nicht ich.“


„Oh, bitte!“ Er lacht hart. „Als würdest du lieber wieder zwischen Pillenflaschen und Kittel herumlaufen! Du wärst ohne mich längst vergessen. Du brauchst mich, Elysia.“

 

Etwas in ihr bricht.


„Nein,“ flüstert sie, kaum hörbar. „Ich brauche Luft.“

 

Für einen Moment sieht Valerian sie an, als würde er sie nicht verstehen. Dann atmet er scharf aus, greift nach seinem Sakko.


„Mach, was du willst,“ sagt er kalt. „Aber ab morgen hast du dich wieder unter Kontrolle. Ich will keine Gerüchte, kein Gerede. Du weißt, wie schnell das hier alles kaputtgehen kann.“

 

Er dreht sich um und verlässt den Raum.

 

Elysia bleibt zurück. Ihr Herz hämmert, ihre Hände zittern. Sie sieht in den Spiegel über dem Kamin – ihr Gesicht ist blass, die Augen glänzen feucht.

Sie sinkt auf das Sofa, vergräbt das Gesicht in den Händen. In ihrem Kopf rauschen seine Worte nach. Du brauchst mich.

 

Draußen schlägt Regen gegen die Scheiben, als würde der Himmel selbst widersprechen wollen. Und in diesem Moment weiß sie:


Wenn sie bleibt, wird sie langsam verschwinden. Nicht mit einem Schrei, sondern leise. Tropfen für Tropfen.

 

Das Haus ist still. Nur das leise Ticken der Uhr im Flur und das entfernte Rauschen des Regens sind zu hören.

 

Elysia sitzt lange da, bewegungslos, bis die Stille unerträglich wird.
Dann steht sie auf, greift nach der Decke auf dem Sofa und geht hinaus auf die Terrasse. Die Luft ist kühl, der Steinboden feucht vom Regen.
Über dem See hängt Nebel, und die Laternen am Ufer werfen flackerndes Licht auf das dunkle Wasser.


Sie zieht die Decke enger um sich, atmet tief ein. Es riecht nach nasser Erde und Frühling. Nach etwas, das neu beginnt – selbst wenn sie selbst sich noch gefangen fühlt. Ihr Herz schlägt noch immer zu schnell. Sie denkt an Valerian, an seine Worte, an das Leben, das sie führt: die makellosen Räume, das teure Lächeln, die ewige Fassade. Und sie spürt zum ersten Mal, dass sie nicht nur traurig ist – sondern wütend.


Wütend auf ihn. Auf sich. Auf die Jahre, die sie sich selbst abgewöhnt hat. Langsam lässt sie sich auf den Terrassenstuhl sinken. Das Wasser spiegelt das Licht der Veranda, und sie sieht ihr eigenes Spiegelbild darin – verzerrt, weichgezeichnet durch Tropfen.

 

„Ich brauche Luft,“ flüstert sie noch einmal, diesmal lauter.


Und es fühlt sich an, als würde der Satz irgendwo zwischen Himmel und See hängen bleiben. Ein Windstoß weht ihr durchs Haar. Für einen kurzen Moment legt sich Ruhe über sie – echte, ehrliche Ruhe. Keine, die man spielen muss.

 

Sie denkt an Hannahs Lachen im Café, an den Duft von Kaffee und Apfelkuchen, an das Gefühl, wieder gesehen worden zu sein. Und tief in ihr regt sich dieser kleine Gedanke, zart wie ein Faden: Vielleicht ist es noch nicht zu spät.

 

Elysia bleibt sitzen, bis der Regen nur noch feinen Nebel über den See streut. Dann steht sie auf, legt die Decke ab und sieht zum Himmel hinauf.

 

„Irgendwann,“ flüstert sie, „geh ich einfach los.“

 

Sie weiß noch nicht wann. Aber sie weiß, dass sie es wird.

 

Der Morgen erwacht still. Ein milchiger Nebel hängt über dem See, und die Sonne kämpft sich in blassen Streifen durch die Wolken. Kian steht barfuß auf seiner Terrasse, eine dampfende Kaffeetasse in der Hand, das Haar noch zerzaust. Der Tag ist kühl, aber klar. Die Luft riecht nach Frühling und Neubeginn.

 

Er lehnt sich an das Geländer und sieht auf das Wasser. Es ist ruhig, beinahe spiegelglatt – nur hin und wieder kräuseln sich kleine Ringe, wenn ein Tropfen vom Dach fällt. Am anderen Ufer liegt ein großes Haus mit heller Fassade. Er hat es schon ein paar Mal gesehen, wenn der Nebel sich lichtet. Elegant, fast zu perfekt – wie ein Stück einer anderen Welt.

 

„Sicher die Villa eines reichen Unternehmers,“ murmelt er und nimmt einen Schluck Kaffee.


Er ahnt nicht, dass dort eine Frau sitzt, die zur selben Zeit ebenfalls in den Morgen blickt – müde, aber wach in einem anderen Sinn. Kian atmet tief ein, schließt kurz die Augen. Der erste Arbeitstag steckt ihm noch ein bisschen in den Knochen, aber es fühlt sich gut an – neu, lebendig. Ben hatte ihm gestern beim Abschied noch auf die Schulter geklopft: „Ich glaub, du passt hierher, Mann. Irgendwie tickst du wie Falkensee – ruhig, aber mit Ecken.“


Kian musste lachen, aber je länger er drüber nachdenkt, desto mehr glaubt er, dass Ben recht hat.

 

Er sieht wieder über den See. In der Ferne gehen Lichter hinter den Fenstern der großen Villa an – kaum wahrnehmbar, nur ein kleiner Lichtschein. Für einen Moment bleibt sein Blick dort hängen.

 

Dann lächelt er, schüttelt leicht den Kopf. „Neugierig, Sterling. Das fängt ja gut an.“

 

Er leert die Tasse, geht hinein, zieht sich an. Jeans, helles Hemd, Jacke – lässig, aber ordentlich. Dann schnappt er sich die Autoschlüssel und verlässt das Haus. Als er auf die Straße fährt, fällt das Sonnenlicht durch den Nebel und taucht Falkensee in einen goldenen Schimmer. Der Tag fühlt sich wie ein Versprechen an.