Falkensee - Kapitel 39



Ein Polizist kommt den Gang entlang. Schlüssel klirren. Türen öffnen und schließen sich.

 

Valerian richtet sich auf. Die Schultern entspannt. Die Hände ruhig.

Dieser Moment ist kein Zufall für ihn. Es ist ein Werkzeug. Ein Schritt in seinem neuen Plan.

 

Und als die Uhr über der Tür auf 12:01 Uhr springt…

…lächelt Valerian zum ersten Mal seit vierzehn Stunden.

 

Ein dünnes, kaltes, vollkommen gefühlloses Lächeln.

 

Das Telefon in der Kanzlei von Dr. Albrecht Reimers klingelt exakt um 12:05 Uhr. Die Nummer des Polizeigewahrsams erscheint auf dem Display.

 

Der Anwalt hebt sofort ab. „Reimers.“

 

Eine kurze Stille, dann: „Albrecht.“

 

Valerians Stimme, ruhig, kontrolliert – zu kontrolliert.

 

Der Anwalt lehnt sich zurück, öffnet den obersten Knopf seiner Weste.

 

„Valerian. Was kann ich für dich tun?“

 

Ein weiches Räuspern, dann setzt Valerian an.

 

„Missverständnisse“, beginnt Valerian, beinahe lässig.

 

Reimers schließt für einen Moment die Augen. Das wird kompliziert, denkt er.

 

Valerian spricht weiter, die Worte wohlüberlegt: „Ich wollte lediglich mit meiner Frau reden. Sie hat sich in den letzten Wochen… beeinflussen lassen. Dieser Mann, er hält sie von mir fern. Er verdreht ihr den Kopf. Ich wollte nur helfen. Nur sprechen.“

 

Reimers tippt mit einem Stift lautlos auf den Tisch. „Die Polizei sagt, du hätten sich aggressiv verhalten.“

 

Valerian lacht leise. Ein Laut, der keine Freude kennt. „Emotional, vielleicht. Aber gewalttätig? Nein. Du kennen mich.“

 

Der Anwalt sagt nichts dazu. Valerian setzt nach: „Man muss verstehen, Albrecht: Ich hatte Angst um sie. Sie ist in einer… verwirrten Phase. Und dieser Mann nutzt das schamlos aus. Ich wollte sie schützen. Nichts weiter.“

 

„Ich sitze jetzt hier fest“, sagt Valerian, „und das bringt niemandem etwas. Ich brauche dich, um mich da rauszuholen. Geld spielt keine Rolle.“

 

Reimers atmet tief ein. „Ich werde prüfen, was rechtlich möglich ist. Die Vorwürfe sind nicht gering.“

 

„Ich habe volles Vertrauen in dich.“ Valerians Ton wird weicher – gefährlich weich. „Sie wissen ja, dass meine Frau mir sehr am Herzen liegt. Ich muss nach draußen. Sie braucht mich.“

 

Der Anwalt legt den Stift zur Seite. „Gibt es noch etwas, das ich wissen sollte?“, fragt er vorsichtig.

 

Eine lange, bedeutungsschwere Pause.

 

Dann sagt Valerian leise: „Morgentau.“

 

Reimers hält unwillkürlich die Luft an. Das Wort fällt selten. Fast nie. Und nur dann, wenn Valerian eine Grenze überschreiten will, die weit über die juristische Arbeit hinausgeht.

 

„Verstehe“, sagt Reimers mit gedämpfter Stimme. Er wirkt äußerlich professionell – doch innerlich richtet er sich auf.

 

Morgentau. Ein Signal. Eine Instruktion. Eine Entscheidung, für die nur ein bestimmter Kreis eingeweiht ist.

 

Reimers rückt seine Brille zurecht. „Ich werde mich sofort darum kümmern.“

 

Auf der anderen Seite lächelt Valerian. Man hört es an der Art, wie seine Stimme sich entspannt. „Das wusste ich.“

 

„Ich melde mich, sobald ich Neuigkeiten habe.“

 

„Ich warte.“

 

Valerian legt mit einem Grinsen im Gesicht auf und verlässt den kleinen Raum.

 

Reimers sitzt eine Weile still da, das Handy noch in der Hand. Er blickt auf die Wand vor sich, sein Gesicht ausdruckslos.

 

Dann legt er das Telefon ab, zieht eine Schublade auf und holt ein kleines, unscheinbares Notizbuch hervor – eines, das er nur für einen einzigen Mandanten besitzt.

 

Er schlägt eine bestimmte Seite auf. Ein Name. Eine Nummer. Mehr nicht.

 

Er seufzt leise. „Morgentau also“, murmelt er, fast resigniert.

 

Dann nimmt er das Telefon wieder in die Hand.

 

„Dann wollen wir mal beginnen.“ 

 

Dr. Albrecht Reimers sitzt noch immer stocksteif an seinem Schreibtisch. Sein Blick ruht auf der geöffneten Seite des kleinen, unscheinbaren Notizbuchs. Ein einziges Wort steht dort über der Nummer: Kontakt.

 

Er weiß, dass dieser Eintrag nicht offiziell existiert. Er weiß, dass er ihn eigentlich nie nutzen wollte. Doch Morgentau ist ein Befehl – Valerians Befehl. Und Reimers ist zu tief involviert, um sich jetzt herausziehen zu können. Er räuspert sich, richtet seine Brille, und wählt die Nummer.

 

Es klingelt nicht einmal vollständig durch. Klick.

 

Eine Stimme meldet sich. Tief. Dunkel. Gebrochen. Kalt. Eine Stimme, die allein durchs Hören eine Gänsehaut auslösen kann.

 

„Ja.“ Mehr nicht. Keine Begrüßung.

 

Reimers räuspert sich. „Hier spricht Reimers. Valerian Auberon… hat signalisiert, dass...“

 

„Ich weiß.“ Der Mann unterbricht ihn sofort. Langsam. Mit einer Stimme, die klingt, als hätte sie zu oft geschwiegen und zu selten Gutes gesehen.

 

„Wo steckt er?“

 

Reimers schluckt. „In Brunnental. Polizeigewahrsam. Provisorische Verwahrung.“

 

Eine kurze Pause. Kein Atmen am anderen Ende. Nur Stille – eine viel zu schwere Stille.

 

„…Gefängnis?“, fragt der Mann schließlich. Nicht überrascht. Eher berechnend.

 

„Noch nicht“, korrigiert Reimers schnell. „Nur vorübergehender Gewahrsam. Die Anhörung folgt.“

 

„Genug.“ Die Stimme klingt, als wäre das alles, was er wissen musste.

 

Reimers zieht eine Augenbraue hoch. Ein ungutes Gefühl kriecht ihm die Wirbelsäule hinauf. „Sie wissen, was zu tun ist?“

 

„Natürlich.“

 

Keine Erklärung. Keine Nachfrage. Keine Emotion. Dann legt der Mann auf. Ein hartes, endgültiges Klick.

 

Reimers lässt das Handy langsam sinken. Sein Gesicht ist bleich, die Lippen angespannt.

 

Er schließt das Notizbuch, schiebt es tief in die Schublade zurück – ganz nach hinten, unter Akten, die niemand anfassen wird.

 

Dann lässt er sich in seinen Stuhl fallen und reibt sich über die Augen.

 

„Was tust du, Valerian…?“, murmelt er.

 

Er legt sein Handy zur Seite. Nicht aus Vorsicht. Aus Angst, erneut angerufen zu werden.


Der Morgen ist blass und still, als Elysia und Kian die Wohnung verlassen. Elysia hält Kians Hand fest, als würde sie sonst den Halt verlieren.

 

Ihr Blick huscht ein letztes Mal durch das Treppenhaus – sie sieht die Stellen, an denen die Nachbarn standen, die Schatten der Nacht, die sich wie kalte Erinnerungen in den Wänden festgesetzt haben. Sie sagt nichts. Sie kann nichts sagen.

 

Draußen atmet sie tief ein. Die Luft riecht nach nassem Asphalt und einem Hauch Winter. Doch für sie riecht sie nur nach Flucht.

 

Kian legt ihr eine Hand an den Rücken und führt sie zu seinem Wagen. „Ich bin bei dir“, sagt er leise.

 

Sie nickt, steigt ein, und mit einem letzten Blick zurück auf das Wohnhaus, das einmal Heim gewesen war, schließen sie die Tür.

 

Der Motor startet. Die Straßen Brunnentals gleiten an ihnen vorbei, grau, still, unbeteiligt.

 

Elysia sieht aus dem Fenster, aber ihre Gedanken hängen fest. Nach einigen Minuten bricht sie das Schweigen. „Ich kann nicht hierbleiben, Kian.“ Ihre Stimme ist brüchig, aber klar. „Nicht nach allem. Nicht, wenn er…“ Sie schluckt. „Nicht, wenn ich immer wieder denken muss, dass er zurückkommt.“

 

Kian nickt, die Augen auf die Straße gerichtet. „Ich weiß“, sagt er ruhig. „Ich wollte gestern Abend nichts sagen, weil alles zu viel war. Aber… ich sehe das genauso.“

 

Elysia dreht den Kopf zu ihm. Seine Ernsthaftigkeit gibt ihr das Gefühl, wieder festen Boden unter den Füßen zu bekommen.

 

„Brunnental…“, beginnt sie, „hat sich für mich wie ein Anfang angefühlt. Ein Neuanfang nach der Ehe. Aber es ist vorbei. Ich kann hier nicht leben. Und…“ Sie zögert. „…ich kann auch nicht nach Falkensee. Nicht so, als würde ich ihm entgegenfahren.“

 

Kian atmet tief aus, legt kurz eine Hand auf ihren Oberschenkel, warm, beruhigend. „Ich will dich zu nichts drängen. Gar nichts. Aber egal, wo du hinwillst – ich komme mit.“

 

Ein kleines, schwaches Lächeln stiehlt sich auf Elysias Lippen. „Auch wenn es irgendwo ist, wo du niemanden kennst? Und ganz neu anfangen müsstest?“

 

„Wenn du dort bist“, antwortet Kian ohne zu zögern, „kenne ich jemanden.“

 

Elysia schließt die Augen für einen Moment – weil die Wärme seiner Worte stärker ist als die Angst, die noch immer in ihrem Brustkorb sitzt.

 

„Hast du eine Idee?“, fragt er nach einer Weile.

 

Elysia überlegt. Nicht fluchtartig, nicht panisch. Zum ersten Mal seit der letzten Nacht wirklich bewusst.

 

„Eine kleine Stadt“, sagt sie langsam. „Nicht zu groß. Nicht zu nah an Falkensee. Irgendwo, wo man uns nicht kennt. Wo wir wirklich neu anfangen können.“

 

Kian nickt. „Vielleicht irgendwo südlich? Richtung Berge? Oder Richtung Küste?“

 

Elysia lächelt schwach. „Ich war noch nie im Süden. Vielleicht… ja. Vielleicht dort.“

 

Kian überlegt laut: „Wir könnten übers Wochenende suchen. Wohnungen anschauen. Oder erstmal ein Airbnb nehmen und schauen, wie es sich anfühlt.“

 

Elysia nippt an ihrer Unterlippe – ein alter, vertrauter Nervositätsreflex. „Mit dir… traue ich mich das irgendwie.“

 

„Gut“, sagt Kian, und dieses eine Wort ist voll von Versprechen.

 

Sie fahren eine Weile schweigend weiter. Kian wirft ab und zu mal einen Blick zu Elysia. Sie blickt gedankenverloren aus dem Fenster, die Stirn an die Scheibe gelehnt.

 

Als sie in die Straße einbiegen, in der Hannah und Ben wohnen, fühlt sich alles noch unwirklich an.

 

Doch in dem Moment, als die Haustür aufgeht und Hannah bereits mit verweinten Augen im Türrahmen steht, wird Elysia bewusst: Sie ist nicht allein. Nicht mehr.

 

Sie steigt aus, und Hannah rennt bereits auf sie zu, schließt sie fest in die Arme. Elysia hält sich an ihr fest, als würde sie sonst auseinanderfallen.

 

Kian und Ben tauschen einen ernsten Blick aus – ein Blick, der mehr sagt als Worte.

 

Eine Ära ist beendet. Eine neue beginnt.

 

Und irgendwo weit entfernt sitzt ein Mann, dessen Welt ebenfalls neu in Bewegung geraten ist.

 

Doch für diesen Moment zählt nur eines: Elysia und Kian haben beschlossen, gemeinsam in eine neue Richtung zu gehen.

 

Und das ist der erste Schritt in ihr neues Leben. 

 

Die Wohnung von Hannah und Ben ist warm, hell und riecht nach frisch aufgebrühtem Tee und dem Apfelkuchen, den Hannah immer zu viel backt, wenn sie nervös ist.

 

Elysia sitzt auf dem Sofa, eingekuschelt in eine weiche Decke. Hannah sitzt dicht neben ihr, eine Hand über ihre gelegt, als könne sie so verhindern, dass Elysia noch einmal zerbricht.

 

Kian und Ben sitzen gegenüber. Tee dampft in den Tassen. Niemand sagt zuerst etwas. Es ist die Art von Stille, in der jeder einen Moment realisiert, dass die letzten Stunden Wirklichkeit waren.

 

Erst nach einer Weile räuspert sich Hannah. „Ich… ich bin einfach nur froh, dass es euch gut geht.“ Ihre Stimme bricht leicht. „Ich hab solche Angst gehabt.“

 

Elysia drückt ihre Hand. „Danke, dass ihr da seid“, flüstert sie.

 

Ben nickt. „Immer. Egal was passiert.“

 

Kian sieht zu ihr – zu der Frau, die sich an die Decke klammert, aber trotzdem versucht, ein kleines, warmes Lächeln hervorzubringen.

 

Er räuspert sich und erzählt dann von der Fahrt, von der Entscheidung, die sie getroffen haben.

 

„Wir müssen weg…“

 

„Wir haben heute Morgen lange geredet“, beginnt Kian. „Elysia kann nicht zurück nach Brunnental. Und Falkensee… kommt auch nicht in Frage.“

 

Hannah nickt sofort. „Natürlich nicht.“

 

Elysia schaut kurz zu ihr, dankbar für das Verständnis.

 

Kian fährt fort: „Wir wollen einen Neuanfang. Irgendwo, wo uns niemand kennt. Wo niemand fragen kann. Wo niemand weiß, wohin wir gehören.“

 

Elysia schlingt ihre Hände ineinander, ihre Stimme ist leise: „Wir wissen noch nicht wo. Vielleicht im Süden. Vielleicht irgendwo in der Mitte, eine kleine Stadt oder ein Dorf. Aber weit genug weg.“

 

Ben lehnt sich zurück, atmet tief ein. „Das heißt…“, sagt er vorsichtig, „ihr könnt uns nicht sagen, wo ihr wohnt.“

 

Elysia senkt traurig den Blick. „Nicht am Anfang. Nicht, bis wir sicher sind. Nicht, solange Valerian…“ Sie bricht ab.

 

Hannah nimmt sie sofort in den Arm. „Das ist okay. Wirklich. Das Wichtigste ist, dass du sicher bist.“

 

Ben nickt langsam. Auch wenn seine Augen etwas anderes verraten: Sorge. Verlust. Und trotzdem Verständnis.

 

„Wir werden euch nicht bedrängen“, sagt er ernst. „Ihr macht das Richtige.“

 

Eine Weile sitzt die Gruppe schweigend da – aber es ist diesmal keine schwere Stille. Eher eine, in der man verarbeitet, akzeptiert, einatmet.

 

„Ich hab einen Vorschlag“, sagt Ben schließlich und lehnt sich nach vorn. Alle sehen ihn an. „Holt euch neue Handynummern. Beide. Und zwar sofort. Keine Übergänge. Keine alte Nummer behalten. Wenn Valerian Kontakte hat, jemanden, der etwas rausfinden kann… dann ist das das Erste, was er versucht.“

 

Kian nickt. „Ich hab das auch schon überlegt.“

 

Elysia atmet tief durch. „Dann machen wir das. Heute noch.“

 

Hannah wischt sich eine Träne weg und versucht zu lächeln. „Und wenn ihr uns erst später sagen könnt, wie die neuen Nummern sind, dann ist das okay. Wir warten auf euch. Egal, wie lange.“

 

Elysia rutscht zu ihr, legt die Arme um sie. „Ich will nicht weg von euch…“ Ihre Stimme zittert.

 

„Du gehst nicht weg“, sagt Hannah und drückt sie fest. „Du gehst nur woanders hin. Und wenn die Zeit reif ist, finden wir euch. Versprochen.“

 

Ben lächelt Kian an. „Pass auf sie auf.“

 

Kian nickt ernst. „Mit meinem Leben.“

 

Hannah schaut die beiden liebevoll an – mit diesem Blick, der gleichzeitig stolz und gebrochen ist, wie nur der einer Freundin, die jemanden gehen lassen muss, um ihn zu schützen.

 

„Ihr schafft das“, sagt sie leise.

 

Und in diesem Moment spüren sie alle: Dieser Nachmittag ist ein Abschied.

 

Nicht für immer. Aber für eine Weile.

 

Und ein Anfang. Ein stiller, vorsichtiger, aber entschlossener Anfang in eine neue Richtung.


Brunnental wirkt an diesem Nachmittag grau und nass – der Schnee ist endgültig geschmolzen und hat Pfützen und Matsch zurückgelassen.

 

Die kleinen Häuser am Rand der Stadt sehen friedlich aus, fast schläfrig.

Doch dieser Frieden bricht, als ein schwarzer Wagen langsam in die Straße rollt, die zur Konditorei führt. Die Motorhaube glänzt noch feucht vom Regen.

 

Die Reifen knirschen über den Matsch. Und die Menschen, die draußen unterwegs sind, spüren es sofort: Dieser Mann gehört nicht hierher.

 

Die Tür öffnet sich. Ein Stiefel setzt auf den Asphalt.

 

Dann der Mann selbst: Ganz in Schwarz. Schwere Stiefel. Ein dunkler, dichter Vollbart. Lange, dunkle Haare, nach hinten gestrichen. Ein Gesicht, das wirkt, als hätte es mehr Nächte draußen als drinnen verbracht.

 

Er zündet sich eine Zigarette an. Die Flamme leuchtet kurz in seinen Augen auf. Eiskalt. Unruhig. Berechnend. Rauch steigt auf, während er die Straße mustert.

 

Eine ältere Dame, die gerade den Gehweg fegt, hält inne. Ihr Blick bleibt an ihm hängen – nicht neugierig, sondern alarmiert. Sie nickt ihm nicht zu. Sie lächelt nicht. Sie zieht einfach ihren Besen näher an sich, als könne der ein Schutzschild sein.

 

Der Mann schenkt ihr keine Beachtung. Er zieht an seiner Zigarette und geht langsam die Straße entlang, als würde er den Ort ausmessen. Vor der Konditorei bleibt er stehen. Eine junge Mutter mit Kinderwagen kommt gerade heraus – als sie ihn sieht, macht sie instinktiv einen kleinen Bogen um ihn. Der Mann bemerkt es. Sein Mundwinkel hebt sich ein wenig. Nicht freundlich.

 

Die ersten Fragen

 

Er tritt an den Eingang der Konditorei. Die Türglocke klingelt leise, als er eintritt. Drinnen verstummt für einen Moment das leise Murmeln. Ein paar Köpfe drehen sich. Er ignoriert die Blicke. Sein Gang ist ruhig, schwer, und jeder Schritt scheint ein Stück Spannung mitzubringen.

 

Phelia steht hinter der Theke. Ihre Augen verengen sich instinktiv. Sie richtet sich auf – eine Mischung aus professioneller Haltung und unterschwelliger Vorsicht.

 

„Kann ich Ihnen helfen?“, fragt sie höflich, aber wachsam.

 

Der Mann sieht sie direkt an. Seine Stimme ist tief, rau, als würde er ständig flüstern und rauchen zugleich. „Ich suche jemanden.“

 

Phelia blinzelt. „Wen denn?“

 

„Eine Frau. Brunnental ist klein. Ich denke, viele kennen sie.“ Er zieht eine kurze Pause. „Elysia Auberon.“

 

Die Luft im Raum friert ein. Phelia spannt die Schultern an – aber sie zeigt keine Reaktion, die zu viel verraten würde. Sie hat ein Gefühl. Ein sehr schlechtes.

 

„Tut mir leid“, sagt sie ruhig, „aber wir geben hier keine Informationen über Kunden oder Bewohner weiter.“

 

Der Mann senkt den Kopf leicht, betrachtet Phelia wie ein Tier, das überlegt, ob sein Gegenüber Beute ist oder nicht. „Interessant“, murmelt er. „Ich habe nicht gefragt, wo sie wohnt.“

 

Phelias Herz schlägt schneller. „Und ich habe Ihnen trotzdem nichts zu sagen.“

 

Der Mann lächelt – ein dünnes, gefährliches Lächeln, das kein bisschen die Augen erreicht. „Ich frage dann weiter.“

 

Er dreht sich um, verlässt die Konditorei. Die Türglocke klingelt. Der Raum atmet wieder.

 

Er bleibt kurz stehen, zündet sich erneut eine  Zigarette an. Zwei Teenager, die vorbeigehen, sehen ihn misstrauisch an.

 

„Nie gesehen…“, flüstert der eine.

 

„Der sieht aus wie Ärger“, sagt der andere.

 

Der Mann hört es. Er lächelt erneut, diesmal breiter – aber nicht weniger erschreckend.

 

Er geht weiter die Straße hinunter. Langsam. Wie jemand, der weiß, dass der Ort ihm nichts entgegenzusetzen hat.

 

Brunnental ist zu klein. Zu offen. Zu leicht auszulesen.

Und er ist geduldig.

 

Kaum ist die Tür der Konditorei hinter dem fremden Mann ins Schloss gefallen, greift Phelia nach ihrem Handy. Ihre Hände zittern leicht – nicht aus Angst, sondern aus einem tiefen Unbehagen.

 

Sie wartet, bis der Mann außer Sichtweite ist, dann wählt sie Elysias Nummer.

Es klingelt nur einmal.

 

„Phelia?“, Elysias Stimme klingt überrascht, aber warm. „Alles okay?“

 

Phelia atmet hörbar ein. „Nein. Also… ja. Ich bin okay. Aber Elysia, hier war gerade jemand.“

 

Elysias Herz stolpert. „Jemand?“

 

„Ein Kerl. Groß. Dunkle Haare. Vollbart. Komplett in Schwarz. Und…“ Phelia sucht nach dem richtigen Wort. „Er hatte eine Ausstrahlung, da kriegt man Frostbeulen.“

 

Elysia setzt sich automatisch auf, obwohl sie gerade mit Kian und Hannah im Wohnzimmer sitzt. Ihre Finger krallen sich in die Sofakante. „Was wollte er?“

 

„Er hat nach dir gefragt.“

 

Ein kurzer Moment Schweigen.

 

Dann spricht Elysia, leise und tonlos: „Natürlich hat er das.“

 

„Elysia…“, Phelias Stimme wird weich, vorsichtig. „Ich hatte so ein schlechtes Gefühl. Der Mann war nicht einfach neugierig. Der… der wusste, dass du wichtig bist.“

 

Elysia schließt die Augen. Sie spürt, wie Kian neben ihr aufmerksam wird. Er hört ihren Ton – er merkt sofort, dass etwas nicht stimmt.

 

„Phelia… ich muss dir etwas sagen.“

 

Phelia hält unbewusst den Atem an.

 

Elysia beginnt zu erzählen. Leise. Bruchstückhaft. Von letzter Nacht. Von Valerians Raserei. Dem Klopfen. Den Nachbarn. Der Waffe. Dem Moment, in dem sie dachte, sie sterbe gleich. Und wie die Polizei ihn abgeführt hat.

 

Am anderen Ende der Leitung gibt Phelia nur noch kleine, erstickte Geräusche von sich. „Elysia… mein Gott…“, flüstert sie endlich. „Das… das ist ja… ich weiß gar nicht…“

 

Elysia versucht zu lächeln. „Es ist vorbei. Zumindest das gestern.“

 

Phelia widerspricht sofort: „Aber nicht wirklich, oder? Sonst hätte so ein Typ heute nicht nach dir gefragt.“

 

Elysia schluckt. „Nein. Nicht wirklich.“

 

„Phelia… ich wollte dir eigentlich erst später schreiben, aber vielleicht ist jetzt der richtige Moment.“ Elysias Stimme ist traurig, aber entschlossen. „Kian und ich… wir gehen weg. Für eine Weile. Wir wissen noch nicht wohin, aber weit weg.“

 

Es herrscht Stille. Eine lange. Schmerzvolle.

 

Phelia klingt, als würde sie sich zusammenreißen, um nicht loszuweinen. „Du gehst wirklich…? Ganz weg?“

 

„Ja“, sagt Elysia sanft. „Ich muss. Es ist nicht mehr sicher hier. Nicht für mich. Nicht für Kian. Vielleicht irgendwann… komme ich zurück. Oder besuche dich. Aber jetzt… jetzt muss ich weg.“

 

Phelias Atmung wird unruhig. „Ich verstehe es. Ich verstehe es wirklich. Aber es tut weh. Du bist meine beste Freundin.“

 

Elysia lächelt, obwohl ihre Augen brennen. „Du bist meine. Und nur weil ich gehe, heißt das nicht, dass wir uns verlieren.“

 

Phelia schnauft traurig. „Aber ich darf nicht wissen, wohin?“

 

„Nicht am Anfang“, murmelt Elysia. „Nur, bis wir sicher sind.“

 

„Okay… okay, ja… ich verstehe“, sagt Phelia und wischt sich hörbar die Tränen weg. „Ich will nur, dass du lebst, verdammt.“

 

Ein Kloß bildet sich in Elysias Hals. „Ich werde leben. Und ich melde mich, sobald wir sicher sind.“

 

„Wechsel sie heute. Sofort“, drängt Phelia. „Dieser Typ heute… Elysia, der war kein Zufall. Ich hab es gespürt.“

 

Elysia nickt, obwohl Phelia es nicht sehen kann. „Ich hab dich lieb“, sagt sie leise.

 

„Ich dich auch. Und pass bitte auf dich auf. Und sag Kian… er soll gut auf dich aufpassen.“

 

Elysia sieht zu Kian, der sie mit ernster, fürsorglicher Aufmerksamkeit betrachtet.

 

„Tut er“, flüstert sie.

 

Elysia legt langsam das Handy zur Seite, als wäre es plötzlich schwer geworden. Ihr Blick ist leer – nicht weil sie nicht versteht, was passiert ist, sondern weil es zu viel ist.

 

Kian sitzt neben ihr auf der Couch, Ben und Hannah gegenüber. Alle drei beobachten sie aufmerksam.

 

„Wer war am Telefon?“, fragt Kian behutsam.

 

Elysia atmet tief ein, aber die Luft zittert in ihrer Brust. „Phelia. Sie… sie hat mir etwas erzählt.“

 

Kians Augen verengen sich sofort. „Was denn?“

 

Elysia presst die Lippen zusammen. Dann sagt sie es: „Es war ein Mann in der Konditorei. Groß, komplett in Schwarz, dunkle Haare… und er hat nach mir gefragt.“

 

Hannah hält abrupt den Atem an. Ben richtet sich im Sessel auf. Kian erstarrt.

 

„Er hat nach dir gefragt?“, wiederholt Kian langsam.

 

Elysia nickt. „Er hat meinen Namen gesagt. Einfach so. Phelia meinte… er sah aus wie jemand, dem man besser nicht begegnet.“

 

Kian streicht sich mit einer Hand über das Gesicht, als müsse er sich sortieren.

 

„Scheiße.“

 

„Das ist einer von Valerians Leuten“, sagt Elysia dann leise, und nun bricht die erste Träne. „Ich weiß es. Ich spüre es. Er hat jemanden geschickt. Vielleicht, weil er selbst gerade nicht kann. Vielleicht…“ Ihre Stimme wird dünn. „…weil er mich unbedingt finden will.“

 

Kian richtet sich sofort auf, entschlossen wie selten. „Du rufst jetzt die Polizei an.“

 

Elysia blinzelt überrascht. „Was?“

 

„Du rufst sie an und meldest das. Sofort. Wenn du es nicht machst, mache ich es.“ Sein Tonfall ist ruhig, aber fest – eine Grenze, die nicht diskutiert wird.

 

Ben hebt zustimmend eine Hand. „Kian hat recht. Das ist eine konkrete Bedrohung. Und die Polizei muss wissen, dass Valerian Kontakt nach draußen hat.“

 

Hannah nickt heftig. „Elysia, du kannst das nicht ignorieren. Der Mann ist gefährlich. Und wenn er einen weiteren schickt… oder selbst kommt…“

 

Elysia vergräbt das Gesicht in den Händen. Ihre Schultern beginnen zu zittern.

 

Kian rückt näher, legt eine Hand auf ihren Rücken. „Hey… du musst das nicht allein machen. Wir sind alle hier.“

 

Elysia hebt den Kopf, die Augen rot. „Ich… ich weiß nicht, ob ich das kann.“

 

„Dann mache ich es“, sagt Kian sofort und greift nach seinem Handy.

 

Elysia legt eine Hand auf seinen Arm. „Nein… ich mache es.“ Sie atmet tief durch. Zittrig, angestrengt, aber bestimmt. „Ich will nicht wieder weglaufen. Nicht vor allem.“

 

Kian nickt, Stolz und Sorge zugleich im Blick. „Gut. Dann wähl die Nummer.“

 

Ben und Hannah lehnen sich zurück, beobachten sie mit der angespannten Fürsorge zweier Menschen, die genau wissen: Dieser Moment ist ein Wendepunkt.

 

Elysia nimmt ihr Handy in die Hand. Ihr Daumen zittert, als sie die Ziffern eingibt.

 

„Ich rufe bei der Wache in Brunnental an“, sagt sie tonlos. „Sie sollen wissen, dass jemand nach mir sucht. Heute. Jetzt.“

 

Kian legt seine Hand über ihre – warm, ruhig, stark. „Ich bin hier. Wir alle sind hier.“

 

Und mit dieser Gewissheit drückt Elysia auf Anrufen.

 

Sie beendet das Gespräch mit der Polizei, ihre Hände zittern noch leicht, während sie das Handy sinken lässt.

 

Die Wache hat aufmerksam zugehört, viele Fragen gestellt, versprochen, Streifen durch Brunnental zu schicken und Maßnahmen zu ergreifen.

 

Doch es ändert nichts an der Entscheidung, die bereits feststeht.

 

Kian und Elysia müssen weg. Noch heute.

 

Kian steht auf, schnappt seine Jacke und sieht Ben und Hannah an. „Wir fahren jetzt“, sagt er leise. Keine Dramatik. Nur ernste Überzeugung.

 

Ben nickt – langsam, schwer. Er versteht. Er wusste, dass dieser Moment kommt.

 

Elysia sieht Hannah nur kurz an, und schon steigen ihr die Tränen in die Augen. Der Gedanke, ihre beste Freundin zurückzulassen… gerade jetzt, wo sie schwanger ist… wo sie ihr Baby bald bekommen wird… Es zerreißt ihr das Herz.

 

„Ich will nicht gehen…“, flüstert sie, die Stimme gebrochen.

 

Hannah steht sofort auf, nimmt sie in die Arme. „Ich weiß… meine Liebe, ich weiß.“

 

Und dann brechen sie beide endgültig.

 

Elysia schluchzt, klammert sich an Hannah wie jemand, der zum ersten Mal in seinem Leben in den Sturm hinaus muss. Hannah hält sie fest, eine Hand auf ihrem Rücken, die andere in ihrem Haar.

 

„Es ist nur für eine Zeit. Nur bis ihr sicher seid“, flüstert sie. Aber ihre Tränen verraten, dass dieser Satz nur halb für Elysia ist – und zur anderen Hälfte für sie selbst.

 

Während die beiden Frauen sich in den Armen halten und weinen, stehen Ben und Kian gegenüber. Lange sagen sie nichts.

 

Bis Ben schließlich leise schluckt. „Pass auf sie auf, okay?“

 

Kian sieht ihm in die Augen, ernst wie nie. „Mit allem, was ich hab.“

 

Ben legt ihm eine Hand auf die Schulter – fest, brüderlich. „Ich weiß.“

 

Und dann – ungewohnt für beide – zieht Ben ihn in eine Umarmung. Kurz, aber intensiv. Kian hält dagegen. Beide haben glänzende Augen, auch wenn keiner es je zugeben würde.

 

„Meld dich, wenn ihr angekommen seid“, murmelt Ben rau.

 

„Mach ich. Wenn wir sicher sind.“

 

Schließlich löst sich Hannah von Elysia, nur um sie erneut fest an sich zu drücken.

 

„Du wirst eine tolle Mutter sein“, sagt Elysia unter Tränen. „Ich bin nur traurig, dass ich nicht dabei bin, wenn es soweit ist.“

 

Hannah schüttelt den Kopf, wischt ihr die Tränen weg. „Du wirst es irgendwann sein. Egal wo du bist – du bist die Patentante. Und das bleibt so.“

 

Elysia lacht halb, weint halb. „Versprich mir, dass du auf dich aufpasst.“

 

„Nur, wenn du mir versprichst, dass du zurückrufst, wenn es geht.“

 

Elysia nickt heftig. „Versprochen.“

 

Kian öffnet die Wohnungstür. Der Flur wirkt plötzlich lang und leer.

 

Elysia blickt sich noch einmal um – als würde sie versuchen, sich jeden Zentimeter einzuprägen. Jeden Geruch. Jede Erinnerung. Dann nimmt sie Kians Hand.

 

Hannah steht weinend in der Tür. Ben mit einem Arm um sie gelegt.

 

„Kommt zurück, wenn ihr könnt“, sagt Hannah mit zitternder Stimme.

 

„Wir kommen zurück“, flüstert Elysia. „Irgendwann.“

 

Und dann gehen sie. Die drei Stufen der kleine Treppe zur Eingangstür. Dann den kurzen weg bis zu Kians Wagen. 

 

Kian drückt Elysias Hand, und sie steigt in den Wagen.

 

Hannah und Ben stehen im Türrahmen, Arm in Arm, weinend – zwei Menschen, die ihre Freunde gehen lassen müssen, um sie zu schützen.

 

Kian startet den Motor. Elysia hebt eine Hand zum Abschied. Hannah hebt ihre. Ben auch.

 

Dann fährt der Wagen an. Langsam. Leise. In eine neue Zukunft.

 

Und hinter ihnen bleiben zwei Freunde zurück, die wissen: Dies ist kein Abschied für immer. Aber ein Abschied, der schmerzt wie kaum ein anderer.