Falkensee - Kapitel 38



Elysia krampft ihre Hände ineinander, ihr Blick voller Panik. „Das sind die Nachbarn… oh Gott… Kian, was, wenn...“

 

Kian legt vorsichtig seine Hand auf ihren Rücken. „Wir müssen weg von der Tür“, sagt er leise, eindringlich. „Jetzt, wo er abgelenkt ist.“

 

Er greift ihre Hand und zieht sie vorsichtig Richtung Schlafzimmer. Im Flur hört man den Nachbarn weiter ruhig sprechen – aber seine Stimme zittert. „Bitte… beruhigen Sie sich. Niemand will Ihnen etwas…“

 

Elysia stockt der Atem. „Er bedroht sie“, flüstert sie. „Kian… er bedroht sie…“

 

Kian nickt knapp, sein Ausdruck hart und konzentriert. „Deshalb gehen wir jetzt ins Schlafzimmer. Komm.“

 

Er schließt die Schlafzimmertür leise, ohne sie ins Schloss fallen zu lassen, und dreht sich zu ihr. „Zieh dir etwas an, okay? Schnell.“

 

Sie nickt mit zitternden Händen, greift nach Kleidung vom Stuhl. Während sie sich hastig anzieht, zieht auch Kian sich etwas über – Shirt, Pullover. Etwas, das ihn beweglich hält.

 

„Kian…“, flüstert Elysia heiser. „Wenn er...“

 

„Schssh.“ Er tritt zu ihr, berührt ihre Wange. „Ich bin hier. Und die Polizei ist unterwegs. Wir müssen nur Zeit gewinnen.“

 

Ein dumpfer, harter Ton dringt aus dem Flur. Jemand ist gegen die Wand gedrängt worden. Der ältere Nachbar keucht hörbar.

 

Elysia hält die Luft an, die Augen voller Panik.

 

Kian greift ihre Hand, fest, bestimmt. „Wir lassen ihn nicht hier reinkommen. Nicht zu dir. Die Polizei wird gleich da sein.“

 

In seinen Augen liegt Ernst. Und Liebe. Und eine beinahe unerschütterliche Entschlossenheit.

 

Draußen schreit die junge Frau plötzlich: „Hören Sie auf! Bitte! HÖREN SIE AUF!“

 

Elysia schlägt die Hand vor den Mund.

 

Kian zieht sie näher zu sich und flüstert: „Es ist nicht deine Schuld. Du bist nicht schuld an ihm. Und du bist nicht allein.“

 

Das Geräusch des eskalierenden Konflikts im Treppenhaus wird lauter.

Und irgendwo in der Ferne – ganz leise – taucht endlich das Heulen von Sirenen auf.

 

Im Treppenhaus ist die Luft zum Zerreißen gespannt. Die Nachbarn stehen nur   einige Schritte von Valerian entfernt – die junge Frau mit bleichem Gesicht, der ältere Mann mit erhobenen Händen, in beschwichtigender Haltung.

 

Von draußen dringt das erste ferne Heulen einer Sirene herein. Leise. Aber unüberhörbar.

 

Die junge Frau flüstert: „Die Polizei kommt… Gott sei Dank…“

 

Valerian fährt herum, seine Augen weit, gehetzt. „Was?“

 

Der ältere Mann versucht die Chance zu nutzen. Mit ruhiger, kontrollierter Stimme sagt er: „Es ist besser, wenn Sie hierbleiben und warten. Niemand muss...“

 

Doch Valerian hört nicht mehr zu.

 

Er wendet sich wieder der Wohnungstür zu. Seine Schritte hallen hart auf den Fliesen.

 

„ELY-SIA!!“ brüllt er, diesmal noch lauter, verzweifelter, gebrochen unter der Wut.

 

Er hämmert gegen die Tür. BAM. BAM. BAM.

 

Elysia im Schlafzimmer zuckt jedes Mal zusammen.

 

„Komm raus! Rede mit mir! Wir gehören zusammen!“ BAM!! „Du musst zu mir zurückkommen! Ich LIEBE dich!!“

 

Elysia presst beide Hände auf die Ohren. Ihre Knie geben nach, sie sinkt auf den Rand des Bettes. Tränen strömen über ihr Gesicht, heftig, unkontrollierbar.

 

„Nein… nein… ich will das nicht hören“, flüstert sie. Ihre Stimme ist gebrochen.

 

Kian geht sofort zu ihr, kniet sich vor sie, nimmt ihre Hände vorsichtig weg, damit sie ihn ansehen muss. „Elysia. Hey.“ Seine Stimme ist weich, aber konzentriert.

 

Doch sie schüttelt den Kopf, verzweifelt, atemlos. „Das ist keine Liebe, Kian… das ist es nicht!“ Sie weint stärker. „Er sagt das immer… er sagt das und gleichzeitig...“ Die Worte brechen ab, ersticken in Panik.

 

„ELY-SIA! MACH DIE TÜR AUF!!“ Die Tür vibriert unter einem weiteren Schlag.

 

Elysia krümmt sich, die Arme um ihren Körper geschlungen, als wolle sie sich selbst festhalten. „Ich kann das nicht mehr hören… ich kann das nicht… ich will das nie wieder hören…“

 

Kian zieht sie in seine Arme, hält sie fest, beschützend. „Schsch… du bist hier. Bei mir. Du bist sicher. Hör auf meine Stimme, nicht auf seine.“

 

Doch der Lärm draußen ist ohrenbetäubend. BAM! BAM!

 

„Ich LIEBE dich, Elysia!! Lass mich nicht im Stich!!“

 

Der Satz, der früher einmal Trost war, ist heute wie Gift. Elysia schüttelt den Kopf an Kians Schulter, ihr Körper zittert heftig.

 

„Das ist nicht Liebe…“, flüstert sie heiser. „Liebe macht keine Angst. Liebe tut nicht weh. Liebe schreit nicht durch Türen. Liebe… Liebe steht nicht mit einer Waffe…“ Sie verstummt, unfähig weiterzusprechen.

 

Kian hält ihr Gesicht zwischen seinen Händen, zwingt sie sanft, ihn anzusehen.

 

„Hör mir zu“, sagt er ganz ruhig. „Ich weiß, was Liebe ist, Elysia. Und das da draußen… das ist es nicht.“

 

Ihre Tränen laufen weiter, aber sie atmet ein klein wenig ruhiger.

 

Die Sirenen sind nun deutlich lauter. Mehrere Fahrzeuge. Valerian hört sie jetzt ganz klar.

 

Er hämmert wieder gegen die Tür – verzweifelt, ungeordnet. „ELY-SI-A!! ICH LIEBE DICH!! DU DARFST MICH NICHT VERLASSEN!!“

 

Der ältere Nachbar versucht es noch einmal: „Bitte… hören Sie auf. Die Polizei ist gleich...“

 

„HALT DEN MUND!!“ brüllt Valerian.

 

Die junge Frau macht instinktiv einen Schritt zurück.

 

Die Sirenen kommen näher, sehr nah.

 

Valerian steht schwer atmend vor der Tür. Sein Blick irrt zwischen Tür, Treppe und Fenster hin und her. Eine Panik steigt in ihm auf, die er nicht mehr kontrollieren kann.

 

Draußen heulen die Sirenen jetzt direkt vor dem Haus. Blaulicht spiegelt sich an den Fenstern der dunklen Wohnblöcke. Türenschlagen. Schritte. Stimmen.

Mehrere Polizeibeamte steigen aus, taktisch geschult, ruhig und fokussiert.

 

Ein älterer Mann aus einer Nachbarwohnung öffnet im Erdgeschoss nervös seine Tür einen Spalt, zieht sie aber sofort wieder zu, als die Polizisten eintreten.

 

„Erster Stock“, sagt einer der Beamten leise, nachdem er das Notrufprotokoll kurz überflogen hat. „Gemeldete Bedrohung durch Ehemann, möglicherweise bewaffnet. Vorsicht.“

 

Die Gruppe bewegt sich in Formation die Treppe hoch. Schweres, gleichmäßiges Atmen. Konzentration.

 

Im ersten Stock bleibt der vordere Beamte stehen, hebt die Hand zur Signalisierung: Ziel in Sicht.

 

Valerian  im Fokus

 

Valerian steht immer noch direkt vor Elysias Tür. Schweiß glänzt auf seiner Stirn. Seine Bewegungen werden fahriger. Er hämmert erneut dagegen. BAM!

 

„ELY-SIA!! MACH ENDLICH AUF!!“

 

Ein Beamter flüstert hinter vorgehaltener Hand: „Kontakt laut.“

 

Der zweite Beamte – ruhiger, erfahrener – hebt nur leicht den Finger:

 

Abwarten. 

 

Der ältere Nachbar und die junge Frau stehen ein paar Meter entfernt an der Wand gepresst. Zu weit weg, um einzugreifen zu wollen. Zu nah, um dem Geschehen zu entkommen.

 

Die junge Frau – völlig blass – sieht die Polizisten, ihre Augen weiten sich vor Erleichterung. Sie hebt vorsichtig beide Hände, deutet mit zitternden Fingern auf Valerians Mantel. Dann formt sie lautlos: „Waffe.“

 

Der Beamte nickt knapp – Verständnis. Er setzt die Hand an seine Ausrüstung, aber ruhig, ohne hastige Bewegungen.

 

Die Beamten gehen auseinander, zwei links, einer rechts die Treppe hinauf, ein vierter bleibt etwas tiefer positioniert.

 

Sie nähern sich langsam, ohne ein Geräusch, ohne ihn zu alarmieren.

 

Valerian hämmert weiter. „Elysia! Du kannst mich nicht einfach aus deinem Leben streichen! Du kannst nicht...“

 

„Herr Auberon!“ Die Stimme des Polizeibeamten schneidet durch den Flur wie ein scharfes Messer.

 

Valerian erstarrt. Langsam, mit ruckartigen Bewegungen, dreht er den Kopf.

 

Der Beamte spricht ruhig, professionell: „Lassen Sie die Hände sehen. Langsam. Keine schnellen Bewegungen.“

 

Valerians Brust hebt und senkt sich schnell. Sein Blick flackert zwischen den Beamten, der Tür, den Nachbarn und zurück.

 

Keine Fluchtmöglichkeit. Keine Kontrolle mehr.

 

Ein zweiter Beamter spricht: „Wir sind hier, um die Lage zu klären. Aber Sie müssen Ihre Hände zeigen – langsam.“

 

Im Hintergrund zieht der ältere Nachbar die junge Frau ein Stück zurück, weg aus der Linie.

 

Elysia drinnen im Schlafzimmer hört gedämpfte Stimmen – ernst, klar, fremd. Ihr Atem stockt.

 

Kian legt eine Hand auf ihren Rücken, hält sie fest. „Es ist die Polizei“, flüstert er. „Sie sind da.“

 

Elysia bricht fast erneut in Tränen aus – diesmal aus Erleichterung. Aber sie bleibt still.

 

Valerian hebt schließlich beide Hände. Langsam. Zögernd. Der Blick glasig.

 

„Ich… ich wollte nur mit ihr reden“, sagt er brüchig.

 

Der leitende Beamte tritt einen halben Meter näher, bereit, jede Bewegung einzuschätzen. „Das geht so nicht, Herr Auberon. Lassen Sie uns das klären. Schritt nach hinten.“

 

Valerian gehorcht – aber sein Blick wandert wieder zur Tür. Er wirkt, als wolle er jeden Moment wieder darauf zustürmen.

 

Der Beamte erkennt die Instabilität sofort und gibt ein kaum sichtbares Handzeichen: Bereit machen.

 

Valerian steht mit erhobenen Händen vor der Tür, die Brust hebt und senkt sich hektisch. Seine Augen springen zwischen den Beamten hin und her, voller innerer Unruhe, voller Zorn und Verzweiflung, die er nicht mehr steuern kann.

 

Der leitende Beamte spricht ruhig, kontrolliert – die Stimme eines Profis, der weiß, wie man brenzlige Situationen deeskaliert: „Herr Auberon, wir werden Sie jetzt sichern. Bitte bleiben Sie ganz ruhig.“

 

Valerian macht einen kleinen Schritt zurück – nicht viel, aber genug, dass zwei Beamte sofort näherkommen.

 

„Ich wollte nur reden… sie muss mit mir reden…“, murmelt er, der Blick wieder zur Wohnungstür wandernd.

 

Der Beamte hebt die Hand, stoppt die Bewegung. „Nicht bewegen.“

 

Valerian bleibt stehen. Seine Schultern sinken etwas, als würde er mit einem Mal die Schwere seiner Taten spüren.

 

Zwei Polizisten treten an seine Seiten, Einer der Beamten nimmt ihm die Waffe ab und  packen ihn kontrolliert an den Armen.

 

„Hände hinter den Rücken, bitte.“

 

Valerian gehorcht – nicht ohne Zögern, nicht ohne ein letztes hilfloses Flackern im Blick, doch er fügt sich. Er weiß, dass die Beamten keine Option offenlassen.

 

Mit geübten Handgriffen wird er gesichert. Keine Brutalität. Nur klare, professionelle Bewegung.

 

„Sie sind vorläufig festgenommen“, sagt der leitende Beamte ruhig und deutlich. „Wegen Verdachts der Bedrohung und des gefährlichen Verhaltens.“

 

Valerian schluckt hart. Sein Blick ist leer, orientierungslos.

 

Die junge Nachbarin atmet hörbar auf. Der ältere Mann lehnt sich schwer an die Wand, als würde ihm die Spannung aus den Knochen fallen.

 

Die Beamten führen Valerian langsam Richtung Treppenhaus. Er läuft starr, fast wie in Trance. Kurz, bevor sie die Treppe hinuntergehen, dreht er den Kopf noch einmal zur Wohnungstür. Sein Ausdruck ist unlesbar – zwischen Schmerz, Wut und völliger Verlorenheit.

 

Der leitende Beamte stellt sich bewusst in sein Sichtfeld und unterbindet den Blickkontakt. „Weitergehen.“

 

Draußen auf der Straße pulsieren die Blaulichter über den nassen Asphalt. Einige Bewohner stehen an Fenstern, andere haben ihre Türen einen Spalt geöffnet – neugierig, erschrocken, flüsternd.

 

Valerian wirkt plötzlich kleiner, zusammengesunken. All die Wut ist einer müden Leere gewichen. Er wird zum Streifenwagen geführt, in den Innenraum gesetzt. Die Tür fällt ins Schloss.

 

Als die Schritte der Beamten draußen verhallen, bleibt eine tiefe, vibrierende Stille im Treppenhaus zurück.

 

Der ältere Nachbar seufzt schwer. Die junge Frau wischt sich Tränen der Erleichterung aus den Augen.

 

„Ist… ist es vorbei?“, flüstert sie.

 

Der Beamte nickt. „Für den Moment, ja.“

 

Kian und Elysia sitzen noch immer im Schlafzimmer. Elysia auf der Bettkante, zitternd, die Knie angezogen, die Arme darum geschlungen. Kian direkt neben ihr, sein Arm um ihre Schultern gelegt, schützend, haltend.

 

Die Geräusche im Hausflur sind abgeklungen. Nur gedämpftes Murmeln, Schritte, dann Stille.

 

Elysia hebt den Kopf ein Stück, als würde sie lauschen, doch ihr Atem geht immer noch unruhig. Kian streicht beruhigend über ihren Rücken.

 

„Die Polizei ist da“, flüstert er. „Er kann dir nichts tun.“

 

Sie nickt, aber ihre Augen sind voller Angst. Ihr Körper reagiert schneller, als ihr Verstand begreifen kann.

 

Ein ruhiges, festes Klopfen. Beide zucken zusammen.

 

Elysia verkrampft regelrecht, ihre Fingernägel kratzen unbewusst über den Stoff der Bettdecke. „Ich… ich kann nicht… ich kann nicht zur Tür…“, flüstert sie panisch.

 

„Musst du nicht“, sagt Kian sofort, sanft, aber bestimmt. Er nimmt ihre Hände und drückt sie leicht. „Ich gehe.“

 

Elysia nickt zitternd, während Kian aufsteht und tief durchatmet. Er geht langsam zur Schlafzimmertür, öffnet sie leise und tritt in den Flur. Er bleibt einen Moment stehen, um sich zu sammeln, dann öffnet er die Wohnungstür.

 

Die Beamten

 

Vor der Tür stehen zwei Polizeibeamte. Ihre Haltung ist ruhig, offen, aber professionell. Der ältere der beiden nickt Kian zu. „Herr Sterling?“

 

„Ja.“

 

Der Polizist senkt die Stimme – ruhig, freundlich: „Es ist vorbei. Herr Auberon wurde festgenommen und abgeführt. Er befindet sich jetzt in unserer Obhut.“

 

Kian schließt kurz die Augen, als würde die Anspannung in ihm langsam abfallen.

 

„Geht es Ihnen beiden gut?“

 

Kian atmet tief aus. „Ich… ja. Also… wir sind unverletzt. Aber sie…“ Er deutet zurück zum Schlafzimmer.

 

Der Beamte nickt verstehend. „Das war eine hoch belastende Situation. Wir würden gerne mit Frau Auberon ... mit Elysia sprechen, wenn sie dazu bereit ist. Aber erst, wenn sie sich stabil fühlt. Sie muss jetzt gar nichts tun, was sie nicht kann.“

 

Kian wirkt dankbar für diese Rücksicht. „Sie ist vollkommen aufgelöst“, sagt er ehrlich. „Ich glaube, sie braucht einen Moment.“

 

Der zweite Beamte ergänzt ruhig: „Wir lassen Ihnen unsere Kontaktdaten hier. Falls später etwas ist – auch in der Nacht – rufen Sie sofort an. Wir fahren außerdem gleich eine Streife für regelmäßige Kontrollen ab.“

 

Kian nimmt die Karte entgegen. Seine Hand zittert ein wenig. „Danke. Wirklich.“

 

Der Beamte nickt und senkt noch einmal die Stimme. „Er kommt heute Nacht nicht mehr frei. Sie sind vorerst sicher.“

 

Dieser Satz trifft Elysia im Schlafzimmer, wo sie jedes Wort hört. Sie schlägt beide Hände vor den Mund und lässt ein leises, ersticktes Schluchzen entweichen – diesmal kein panisches, sondern ein erschöpftes, von überforderter Erleichterung begleitetes.

 

Kian dreht sich sofort um. „Elysia…“

 

Die Beamten verabschieden sich

 

„Wir stehen noch kurz unten“, sagt der ältere Polizist. „Wenn Sie noch etwas brauchen, kommen Sie einfach. Oder rufen Sie uns. Egal was.“

 

Kian nickt, dankbar, ernst. „Danke.“

 

Er schließt langsam die Tür – nicht mit einem Knall, sondern vorsichtig, als wolle er Elysia keinen zusätzlichen Schreck einjagen.

 

Kian geht sofort zu ihr. Sie sitzt da, wie ein Mensch, der gleichzeitig zusammenbricht und zu atmen beginnt.

 

„Er ist weg?“, flüstert sie.

 

Kian nickt, kniet sich zu ihr, nimmt ihr Gesicht in beide Hände. „Er ist weg. Die Polizei hat ihn mitgenommen. Er kommt heute Nacht nicht raus.“

 

Elysias Tränen laufen wieder, diesmal schwer, heiß, als würde alles in ihr nachgeben. Sie fällt in Kians Arme, klammert sich an ihn, ihr Körper bebend vor Erleichterung und Schock.

 

„Ich… ich dachte… ich dachte, er bricht die Tür ein… ich dachte...“

 

Kian hält sie fest, drückt sie an sich, sein Gesicht in ihrem Haar vergraben.

 

„Ich weiß. Aber er kann es nicht mehr. Du bist sicher. Ich bin hier. Und du bist nicht allein.“

 

Elysia weint in seine Schulter, während die Welt sich endlich wieder langsamer anfühlt.

 

Und Kian hält sie, als würde er sie niemals wieder loslassen.

 

Elysia liegt eng an Kian gekuschelt, ihre Finger noch immer in den Stoff seines Shirts gekrallt, als fürchte sie, er könnte verschwinden, wenn sie loslässt. Ihr Atem ist anfangs noch unruhig, stockend, von Schluchzern durchsetzt.

 

Doch nach Minuten des Haltens, Streichelns, Flüsterns… wird er ruhiger. Tiefer. Gleichmäßiger.

 

Kian streicht ihr mit einer unglaublich sanften Bewegung über den Rücken – immer wieder, im gleichen beruhigenden Rhythmus. Er spürt, wie ihre Anspannung nachlässt. Wie ihre Hände sich lösen. Wie schließlich ihre Muskeln erschlaffen.

 

Sie schläft. Erschöpft. Völlig ausgebrannt.

 

Kian bleibt noch lange sitzen, den Rücken an die Wand gelehnt, eine schützende Hand auf ihrem Arm. Er wagt kaum zu atmen. Er weiß: Sie braucht das. Diesen Schlaf. Dieses kurze Entkommen. Und er bleibt bei ihr, so lange, bis er sicher ist, dass sie wirklich tief schläft.

 

Erst dann löst er sich vorsichtig – so behutsam, dass die Decke keinen Laut macht. Er zieht sie über ihre Schultern, streicht ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Dann steht er leise auf.

 

Im Flur ist es dunkel. Nur das Licht der Straßenlaterne fällt gedämpft durch die Vorhänge. Kian geht barfuß in die Küche, das Handy in der Hand, den Kiefer angespannt vor Sorge und das Herz voll schwerer Erleichterung.

 

Er drückt Bens Kontakt an – sein Daumen zittert leicht.

 

Nach zwei Tönen hebt Ben ab. „Kian? Alles okay?“

 

Kian senkt automatisch die Stimme, leise, fast flüsternd. „Sie schläft. Endlich. Aber Ben… es war knapp. Er war wirklich hier. Er war direkt vor der Tür. Er hat geschrien, gehämmert… die Nachbarn mussten rauskommen. Die Polizei...“ Er bricht kurz ab, atmet durch.

 

Auf der anderen Seite hört man Hannahs unterdrücktes Atmen. Dann ein leises, wimmerndes Geräusch.

 

Ben sagt nichts, schaltet aber auf Lautsprecher – Kian hört den Klick.

 

Hannah flüstert brüchig: „Oh Gott, Kian… geht es ihr wirklich gut?“

 

Kian schließt die Augen, lehnt die freie Hand an die Arbeitsplatte. „Körperlich ja. Aber innerlich… sie war völlig am Ende, Hannah. Sie ist mir in den Armen eingeschlafen, weil sie einfach nicht mehr konnte.“ Er reibt sich über die Stirn. „Ich dachte… ich dachte wirklich, er bricht die Tür ein.“

 

Hannah schluchzt leise. Ben legt eine beruhigende Hand auf ihre Schulter – das hört man in seiner Stimme.

 

„Wir sind so froh, dass es euch gut geht“, sagt Ben ernst. „Du hast gut reagiert, Kian. Du warst für sie da.“

 

Kian schnaubt leise, bitter. „Das war das Einzige, was ich tun konnte.“

 

„Das Wichtigste“, korrigiert Ben ruhig.

 

Kian lässt sich auf einen Stuhl fallen, der nachts viel lauter knarzt, als er es sollte. „Ich lass sie nicht mehr allein“, sagt er tonlos, aber mit einer Kraft, die klarmacht: Das ist keine leere Aussage.

 

Hannah schnieft. „Bitte… kommt morgen zu uns. Oder heute Nacht noch, wenn ihr wollt. Sie soll nicht dort bleiben müssen, wo das passiert ist.“

 

Kian nickt, obwohl sie es nicht sehen können. „Ich überleg’s mir. Ich will sie nicht wecken. Aber… Danke. Euch beiden.“

 

Ben räuspert sich. „Wir sind jederzeit da, okay? Für euch beide.“

 

Kian schließt kurz die Augen. „Ich weiß.“

 

Ein leiser Moment entsteht. Nur Atmung. Nur Erleichterung. Nur das Bewusstsein, dass es hätte viel schlimmer enden können.

 

Die Küche ist dunkel, nur das schwache Licht der Straßenlaterne vor dem Haus fällt auf Kians Gesicht.

 

Seine Gedanken kreisen. Wie knapp das alles war. Wie sie zitterte. Wie sie sich an ihn klammerte, bis sie völlig erschöpft einschlief. Er fährt sich mit der Hand durchs Haar, atmet tief durch – und geht zurück ins Schlafzimmer.

 

Als er leise die Tür öffnet, hebt sich Elysias Brust ruhig im Schlaf. Sie liegt zusammengerollt, die Stirn leicht in Falten, als würde ihr Unterbewusstsein noch kämpfen.

 

Kian geht langsam zu ihr, setzt sich auf die Bettkante. Kaum sinkt die Matratze unter seinem Gewicht ein, bewegt sie sich. Ein kleines, unwillkürliches Geräusch kommt über ihre Lippen. Dann tastet ihre Hand im Schlaf suchend zur Seite.

 

Kian nimmt sie sofort. Elysias Finger schließen sich um seine wie um einen Halt, den sie nicht verlieren darf. Ihr Gesicht entspannt sich etwas. Kian schiebt sich vorsichtig unter die Decke, legt einen Arm um sie. Sie schmiegt sich instinktiv an seine Brust, ihren Kopf über seinem Herzen.

 

Er zieht sie enger an sich und flüstert in ihr Haar: „Ich bin da. Ich bleib.“

Und genau so schlafen sie ein.


Die ersten Sonnenstrahlen brechen durch den kleinen Spalt der Vorhänge und werfen warmes Licht über das Bett.

 

Elysia blinzelt. Ihr Kopf liegt auf Kians Brust, ihr Bein über seinem geschlungen. Er hält sie immer noch, als hätte er die ganze Nacht keinen Millimeter nachgegeben.

 

Für einen Moment weiß sie nicht, was genau passiert ist.

Dann kommt es zurück. Wie eine Welle. Die Tür. Seine Stimme. Die Schläge. Die Angst. Ihr Atem stockt.

 

Kians Hand streicht sofort sanft über ihren Rücken. „Guten Morgen“, murmelt er, schläfrig, aber wach genug, ihre Verspannung zu spüren.

 

Elysia presst die Lippen zusammen, Tränen schießen ihr erneut in die Augen.

 

„Es war echt… oder?“, flüstert sie.

 

„Ja“, sagt Kian ruhig. „Aber es ist vorbei. Er ist festgenommen. Und du bist sicher.“

 

Sie vergräbt ihr Gesicht in seinem Shirt und schluchzt leise, nicht hysterisch, sondern erschöpft… überwältigt.

 

Kian hält sie einfach nur. „Du bist nicht allein“, sagt er leise und drückt einen Kuss auf ihren Kopf.

 

Er streichelt über ihren Rücken, küsst ihre Stirn, damit sie sich beruhigt. Dann klingelt sein Handy. Kian sieht auf das Display.

 

„Polizei.“

 

Sein Herz zieht sich zusammen. Er nimmt ab. „Sterling.“

 

Die Stimme des Beamten ist ruhig, sachlich, aber freundlich. „Guten Morgen, Herr Sterling. Wir wollten Sie nur informieren: Herr Auberon wurde in der Nacht offiziell in Gewahrsam genommen. Es folgt eine Anhörung. Bis auf Weiteres darf er weder Kontakt zu Ihnen noch zu Frau Auberon aufnehmen.“

 

Kian nickt – auch wenn der Beamte es nicht sieht. „Danke. Wirklich.“

 

„Wir halten Sie auf dem Laufenden. Falls Sie oder Frau Auberon heute das Haus verlassen müssen, empfehlen wir: nicht alleine.“

 

Kian sieht Elysia an, die seinen Blick sucht – und erschrickt, als sie erkennt, dass die Realität weitergeht.

 

„Verstanden“, sagt Kian leise.

 

Er beendet das Gespräch.

 

Elysia kneift die Augen zusammen, Tränen stehen wieder darin. „Ich will nicht hierbleiben“, sagt sie leise, brüchig. „Nicht mehr. Ich fühle mich nicht sicher.“

 

Kian streicht ihr über die Wange. „Dann gehen wir.“

 

„Ich packe ein paar Sachen“, sagt er ruhig. „Und dann fahren wir. Entweder zu Ben und Hannah… oder wir gehen direkt nach Falkensee. Was du möchtest.“

 

Elysia sieht sich in ihrer Wohnung um – den Ort, der einmal Zuflucht war. Jetzt fühlt er sich fremd an. Kalt. Zerbrochen.

 

„Ich will weg“, flüstert sie. „Einfach nur weg.“

 

Kian nickt. „Gut. Dann packen wir. Du musst nichts allein machen. Ich bin hier.“

 

Elysia schluckt schwer, ihre Stimme kaum mehr als ein Hauch: „Danke… dass du geblieben bist.“

 

Kian zieht sie in eine feste Umarmung. „Ich bleibe, bis du mich wegschickst. Und selbst dann bleibe ich wahrscheinlich trotzdem.“

 

Elysia lächelt schwach, bricht halb in ein Schluchzen, halb in ein Lachen aus – ein Zeichen, dass sie aufbricht, nicht untergeht.

 

Und gemeinsam stehen sie auf. Kian lässt ihre Hand keine Sekunde los.


Die Zelle ist klein. Steril. Kalt. Ein schmales Bett, eine graue Decke, ein Tisch aus Metall. Die Luft riecht nach Desinfektionsmittel und abgestandenem Kaffee.

 

Valerian sitzt aufrecht auf dem Bett, die Hände gefaltet, der Blick auf die Wand gerichtet. Sein Gesicht ist leer.

 

Nicht wütend. Nicht panisch. Leer.

 

Als wäre etwas in ihm in der Nacht zerbrochen – und etwas anderes an dessen Stelle getreten.

 

Der Beamte, der ihn in der Nacht hereingebracht hat, hatte mit einer Explosion gerechnet: Schreien, Toben, Unruhe.

 

Doch Valerian ist ruhig. Unnatürlich ruhig. Eine Ruhe, die den Beamten unbehaglich macht. Er hat Stunden damit verbracht, in die Dunkelheit zu starren. Nachzudenken. Sortieren. Planen.

 

„Auberon.“ Die Stimme eines Beamten hallt durch den Flur.

 

Valerian hebt langsam den Kopf.

 

„Sie dürfen heute Mittag einen Anruf tätigen.“

 

Ein kaum wahrnehmbares Zucken geht durch Valerians Augenwinkel.

 

„Verstehe“, sagt er ruhig.

 

Der Beamte mustert ihn. Er erkennt die Kälte in Valerians Stimme und sieht einen Mann, der nicht gebrochen ist – nur pausiert.

 

Die Tür fällt zu. Valerian bleibt allein.

 

Er schiebt die Hände zwischen seine Knie, lehnt sich leicht nach vorn. Und dann, mit einem kaum hörbaren Hauch, flüstert er: „Mittag also.“

 

Sein Blick wird fokussiert. In seinen Augen glimmt etwas Gefährliches. Kontrolliert. Überlegt. Keine wilde Wut mehr. Eine Entscheidung.

 

Die Nacht hat ihm Zeit gegeben – und Valerian nutzt Zeit immer. Er hat alte Verbindungen, die er nie gekappt hat. Und Menschen, die er nur mit einem Wort aktivieren müsste.

 

Ein einziges Wort. Ein Schlüssel. Ein Code. Einer, den nur sein Anwalt versteht. Und sein Anwalt weiß, wen er zu kontaktieren hat, wenn dieses Wort fällt.

 

Jemanden, der nicht fragt. Der nicht zögert. Der keine Loyalitätskonflikte hat. Nicht wie Kessler. Diesmal wird es jemand anderes sein. Jemand, den man nur ruft, wenn man bereit ist, Grenzen zu überschreiten, die selbst Kessler nicht antasten würde.

 

Valerian schließt die Augen, atmet tief ein – die Ruhe eines Mannes, der glaubt, im absoluten Recht zu sein.

 

„Es ist nicht vorbei“, murmelt er.

 

Ein Schatten zieht über sein Gesicht.

 

„Noch lange nicht.“