Falkensee - Kapitel 20



Das Wohnzimmer von Ben und Hannah ist warm beleuchtet, eine einzelne Lampe wirft einen weichen goldenen Schein auf den Couchtisch.
Drei Gläser stehen darauf, halb gefüllt, zwei mit Wein, eins mit Saft, die Atmosphäre ist heimelig und ruhig.


Draußen dämmert der Abend, die Hitze des Tages hängt noch sanft in der Luft.

Elysia sitzt mit den beiden auf dem Sofa, die Beine angezogen, das Glas in der Hand.


Hannah hat ihre Hand beruhigend auf Elysias Knie gelegt, während Ben ihr aufmerksam zuhört.

 

„Ich hätte nie gedacht, dass ich das mal sage,“ beginnt Elysia schließlich und spielt mit dem Glasstiel, „aber… Valerian hat mich überrascht.“

 

Ben zieht eine Augenbraue hoch.


„Überrascht? Wie im Sinne von ‚Ich schlag die Tür zu‘ überrascht? Oder im Sinne von ‚Ich werf mit teuren Vasen‘ überrascht?“

 

Elysia schnaubt ein kleines Lachen. „Nein… ganz im Gegenteil.“

 

Hannah beugt sich etwas vor. „Wie war er?“

 

Elysia atmet tief durch. Der Moment kommt wieder in ihr hoch:


Valerian, wie er die Treppe herunterkam, nicht wütend, nicht schreiend - 
sondern mit diesem Ausdruck, den sie jahrelang nicht gesehen hatte.

 

„Er war… ruhig,“ sagt sie leise. „Und ehrlich. Zum ersten Mal seit Jahren.“


Ihr Blick wird weich, aber nicht sehnsüchtig - eher nachdenklich.


„Ich hab ihn kaum wiedererkannt. Er hat gesagt, dass es ihm leid tut. Dass er Fehler gemacht hat. Dass er… mich gesehen hat. Wirklich gesehen. Und das hat er lange nicht mehr.“

 

Hannah legt sanft ihre Hand auf Elysias Arm. „Und? Wie hat es sich angefühlt?“

 

Elysia schluckt. Ihre Stimme wird sanfter.


„Seltsam. Ehrlich gesagt… seltsam. Ich hab keine Wut gefühlt. Keine Angst. Nur… ein bisschen Wehmut. Weil es zeigt, dass er damals hätte so sein können. Wenn er gewollt hätte.“

 

Ben nickt langsam. „Aber zu spät.“

 

„Ja.“


Elysia sieht in ihr Weinglas und schwenkt es gedankenverloren.


„Es ist zu spät. So sehr zu spät. Aber… es war ein friedlicher Abschied. Ein echter.“

 

Hannah lächelt traurig. „Das klingt, als hättest du endlich abgeschlossen.“

 

Elysia nickt.


„Hab ich. Als ich durch die Tür raus bin, hab ich’s gemerkt. Kein Ziehen mehr. Keine Trauer. Nur Freiheit.“

 

Ben hebt sein Glas. „Darauf trinken wir.“

 

Sie stoßen an, und als Elysia einen Schluck nimmt, spürt sie, wie die Schwere des Tages ein Stück weiter von ihr abfällt.

 

„Und dann…“


Sie atmet tief ein, ein zartes Lächeln erscheint auf ihren Lippen.

 

Hannahs Augen werden sofort wachsam. „Na los. Erzähl.“

 

Elysia sieht verlegen zu Seite, ein Hauch Rosa legt sich auf ihre Wangen.


„Ich hab Kian geschrieben.“

 

Ben grinst sofort breit. „Oh-ho.“

 

Hannah lacht leise. „Hab ich mir gedacht - umsonst wolltest du seine Nummer nicht haben!“

 

Elysia hebt abwehrend die Hand. „Es war nur… eine kleine Nachricht. Ich wollte, dass er weiß, dass es mir gut geht. Mehr nicht.“ Ihr Lächeln wird weicher. „Aber… ich war irgendwie… aufgeregt, als er geantwortet hat.“

 

„‚Irgendwie‘?“ Ben schnaubt. „Du strahlst immer noch wie eine Kerze im Sturm.“

 

Hannah stupst ihn mit dem Ellbogen. „Lass sie doch. Das war ein großer Tag für sie.“

 

Elysia sieht in ihr Glas, und ihre Gedanken wandern zurück zu Kians Worten.


Du tust gut.


Diese Nachricht… sie fühlt sie immer noch.

 

„Er… ist einfach anders,“ sagt sie leise. „Er nimmt mir die Angst. Und gleichzeitig macht er mir neue.“

 

„Weil du dich wieder fühlst,“ sagt Hannah sanft.

 

Elysia nickt.


„Vielleicht. Aber ich bin noch nicht so weit... glaub ich.“


Dann, fast flüsternd:


„Nur… es war schön, dass er da war. Ohne da zu sein.“

 

Hannah lächelt warm.


Ben nippt an seinem Wein und verzieht den Mund. „Ich sag’s euch: Da knistert’s. Und diesmal ist es ein gutes Knistern.“

 

Elysia schüttelt den Kopf, aber sie lächelt. Ein leises, warmes, echtes Lächeln, das ihr Gesicht hell macht.

 

Und in diesem Moment weiß sie:


Ein Kapitel ist heute zu Ende gegangen. Aber ein neues hat begonnen – ganz leise, ganz zart. Und sie ist endlich bereit, es zu spüren. 


Die Sonne steht tief über Falkensee und taucht alles in ein warmes, goldenes Licht, das sich fließend über den stillen See legt. Kian sitzt auf seiner Terrasse, die Beine leicht ausgestreckt, ein Glas Wein in der Hand. Die Luft ist warm und schwer vom Tag, aber der Wind trägt einen Hauch von Wasser und Sommer mit sich – beruhigend, wie ein Versprechen auf einen ruhigen Abend. Doch in ihm ist nichts ruhig.

 

Er hebt das Glas, dreht es zwischen den Fingern, beobachtet, wie der letzte Sonnenstrahl auf dem Rotwein glitzert. Und in seinem Kopf herrscht Chaos. Der Tag hätte anders enden können. Er hätte ruhig sein können. Routine. Arbeit. Feierabend.


Aber stattdessen war es ein Tag voller Unruhe, voller Gedanken an eine Frau, die er kaum kennt – eine Frau, die ihn mehr berührt hat als irgendjemand in den letzten Jahren.

 

Elysia.

 

Kian stützt den Ellbogen auf die Lehne, sieht auf den See hinaus. Die Oberfläche glitzert in tausend Farbtönen, der Himmel malt sich in Orangen und Purpur, und trotzdem fühlt es sich an, als stünde die Welt still. Er lehnt sich zurück und schließt die Augen.

 

Und dann ist sie da, Julia.


Nicht in Person – in Erinnerung. Die Frau, die ihm versprochen hatte, dass er der Einzige für sie sei. Die Frau, die ihm ins Gesicht gelächelt hatte, während sie ihn hinterging. Die Frau, die ihn drei Jahre lang in Sicherheit wiegte – nur um ihm den Boden unter den Füßen wegzureißen.

 

Der Schmerz ist längst nicht mehr frisch, aber er hat Spuren hinterlassen. Tiefe. Scharfe. Und manchmal brennen sie noch.

 

Er denkt an die Gespräche, die Lügen, die Zweifel. An die Nächte, in denen er nicht schlafen konnte und sich fragte, was er falsch gemacht hatte. An die Wut, die Scham, diese Hilflosigkeit. Er atmet tief ein.

 

„Bin ich überhaupt bereit?“


Die Frage formt sich in seinem Kopf, leise, aber klar.

 

Bereit für etwas Neues.
Bereit für Vertrauen.
Bereit für jemanden wie... Elysia.

 

Er öffnet die Augen wieder, und die Sonne ist fast ganz hinter den Bäumen verschwunden. Ein goldener Streifen glimmt noch über dem Wasser, und in ihm spiegelt sich etwas Hoffnung, die er nicht erwartet hat.

 

Er denkt an ihre Nachricht. An ihre Worte. An das Zögern und zugleich die Wärme darin. An den Funken zwischen ihnen gestern. An ihre Umarmung, die sein Herz kurz zum Stillstand brachte. Und er spürt, wie ein sanftes, aber sehr echtes Gefühl in ihm aufsteigt. Nicht wie damals. Nicht wie die naive, blinde Verliebtheit mit Julia.


Das hier ist… ruhiger.
Echter.
Gefährlicher, weil es wahr ist.

 

Doch da ist auch die Angst. Nicht die Angst, dass Elysia ihn hintergeht – sondern die Angst, dass er selbst noch gar nicht bereit ist, jemanden so nah an sich heranzulassen.

 

Er nimmt einen tiefen Schluck Wein, der seine Brust hinabgleitet. Vielleicht ist er noch verletzt. Vielleicht ist da noch ein Teil von ihm, der misstrauisch ist, vorsichtig, gebrannt.

 

Aber gleichzeitig… gab es da heute diese Nachricht. Diese ehrlichen Worte.
Dieses zarte „Ich wollte es dir sagen.“

 

Und plötzlich wird ihm klar:

 

Er will bereit sein.


Vielleicht nicht heute.
Vielleicht nicht morgen.

Aber für sie… könnte er es werden.

 

Langsam stellt er das Glas ab, sieht auf den See hinaus – und zum ersten Mal seit Monaten fühlt sich seine Brust nicht mehr eng an. Vielleicht, denkt er, vielleicht lohnt es sich, sich wieder zu öffnen. Vielleicht lohnt es sich, wegen ihr.

 

Der letzte Sonnenstrahl verschwindet hinter dem Horizont. Und Kian lächelt. Warm. Unwiderstehlich hoffnungsvoll.

 

Kian nimmt das leere Weinglas auf, sein Blick noch immer auf den dunkler werdenden See gerichtet. Er dreht sich gerade zum Haus um, als er im Augenwinkel eine Bewegung erkennt. Jemand geht am Ufer entlang. Langsam. Ruhig. Fast, als würde die Person den Abend einatmen.

 

Kian bleibt wie angewurzelt stehen. Das Glas locker in seiner Hand. Zuerst sieht er nur eine Silhouette gegen das sanfte Restlicht des Sonnenuntergangs.
Die Gestalt ist schlank, die Schultern leicht nach vorne gesenkt, als würde sie in Gedanken versunken sein. Die Arme sind vor dem Bauch verschränkt.

 

Er blinzelt. Tritt einen Schritt näher ans Geländer seiner Terrasse.
Sein Herz schlägt ein bisschen schneller. Die Frau trägt eine lange, lockere Strickjacke, die im Wind leicht flattert. Ein zartes Rosa. Eine blaue Jeans. Die hellen Haare. Das leicht verschwommene Profil im letzten goldenen Schimmer des Abends. Und plötzlich breitet sich ein Lächeln in seinem Gesicht aus –
ganz automatisch, weich, ehrlich, unkontrolliert.

 

Elysia. Seine Elysia. Oder… nicht „seine“. Aber vielleicht irgendwann. Vielleicht ein bisschen. Vielleicht im Herzen schon.

 

Sie geht langsam, die Schritte federnd und leicht, als würde sie endlich durchatmen. Ihre Haare wehen sanft im Wind, und der See spiegelt die letzten Reste des Sonnenuntergangs.

 

Kian bleibt reglos stehen – aber nur für einen Moment.

Dann setzt er sich in Bewegung.
Ganz natürlich. Er läuft die wenigen Stufen der Terrasse hinunter, das Glas in der Hand vergessen, und bleibt am Rand seines Grundstücks stehen, wo der Garten in den Weg übergeht, der am See vorbeiführt.

 

Elysia ist noch ein paar Meter entfernt. Ihr Blick ruht auf dem Wasser, nicht auf ihm. Sie scheint gar nicht zu merken, dass sie genau an seinem Haus vorbeikommt – genau an dem Ort, an dem sie einmal Zuflucht gefunden hat.

 

Kian hebt leicht die Hand, nicht um zu winken, sondern um diesen einen Moment einzufangen, den Moment, bevor er ihren Namen sagt.

 

Sein Herz schlägt schneller, wärmer, lebendiger. Dann atmet er tief ein.

Und ruft:

 

„Elysia…?“

 

Sie bleibt stehen. Dreht sich zu ihm um. Und als ihre blauen Augen ihn erkennen, als sich Überraschung in Wärme verwandelt,
als ein kleines, echtes Lächeln ihre Lippen berührt - weiß Kian:

 

Das hier, dieser Moment im schwindenden Licht des Tages,
ist der Anfang von etwas, das er längst fühlt. Etwas, das vielleicht keiner von beiden geplant hat. Aber beide brauchen.

 

Sie steht da, leicht vom Wind umspielt, die Strickjacke wie ein zarter Mantel um sie herum, und Kian sieht sofort:


Sie sieht anders aus. Freier. Atmender. Echt.

 

Für einen Moment sagen beide nichts. Die Welt um sie herum scheint zu schweigen. Nur der See rauscht leise.

 

Und zwischen ihnen liegt eine Stille, die nicht unangenehm ist – eine Stille voller Emotionen, voller Erinnerung, voller Fragen.

 

Elysia senkt kurz den Blick, als würde sie versuchen, ihre Gedanken zu ordnen.
Dann macht sie ein paar Schritte näher, ganz natürlich, ganz vorsichtig. Ihr Gesicht ist im letzten Abendlicht fast golden weichgezeichnet.

 

Kian lächelt, als sie näher kommt. Er spürt sein Herz schneller schlagen – aber diesmal fühlt es sich nicht bedrohlich an. Sondern richtig.

 

Elysia bleibt vor ihm stehen – nicht zu nah, nicht zu weit entfernt. Eine Armlänge.

 

„Ich…“


Ihre Stimme ist leise, warm, weich.


„Ich hab nicht damit gerechnet, dich noch zu sehen. Aber gehofft.“

 

Kian schmunzelt sanft.


„Ich auch nicht. Aber ich bin froh darüber.“

 

Ein Hauch von Röte steigt in ihre Wangen. Sie zieht ihre Strickjacke fester, als würde sie sich selbst beruhigen.

 

„Ich bin gerade etwas spazieren gegangen. Ich musste… einfach raus.“


Ihre Augen wandern kurz zum See, dann wieder zu ihm.


„Der Tag war… viel.“

 

Kian nickt einfühlsam.


„Ich weiß. Ich hab mir Sorgen gemacht.“

 

Sie sieht ihn an. Richtig an. Und da ist wieder dieses Etwas – diese Verbindung, die keiner von ihnen steuern kann.

 

„Ich weiß,“ sagt sie. „Deshalb hab ich dir geschrieben.“


Ein kleines, zartes Lächeln huscht über ihre Lippen.


„Du warst die erste Person, der ich schreiben wollte.“

 

Kian spürt, wie sein Brustkorb warm wird, fast zu warm. Seine Stimme ist etwas rauer, als er erwidert:

 

„Das bedeutet mir mehr, als du denkst.“

 

Elysia tritt einen halben Schritt näher, ganz unbewusst, als würden ihre Füße von ihrem Herzen geführt.

 

„Kian… danke,“ sagt sie leise.


„Für gestern. Für heute. Für… alles.“

 

Er lächelt. Warm, beruhigend, vorsichtig.

 

„Ich will nur, dass’s dir gut geht.“

 

Ihre Augen glänzen einen Moment. Nicht vor Tränen – sondern vor etwas Neuem, das sie noch nicht benennen kann.

 

„Ich weiß,“ flüstert sie. „Und das tut gut.“

 

Sie stehen da, dicht genug, um die Wärme des anderen zu spüren, ohne sich zu berühren. Elysia sieht ihn an, ihre Hände in den Ärmeln der Jacke versteckt.

 

„Willst du vielleicht ein Stück mit mir gehen?“ fragt sie leise.

 

Kian nickt, ohne zu überlegen.

 

„Ja. Sehr gern.“

 

Sie lächeln sich an – klein, aber von einer Tiefe, die beide überrascht. Kian stellt das Glas ab. Dann gehen sie Seite an Seite los. Nicht nah genug, um sich zu berühren. Aber nah genug, dass ein einziger falscher Schritt reichen würde, um ihre Hände streifen zu lassen. Und keiner von ihnen weicht aus.

 

Sie gehen nebeneinander her, der Kies knirscht sanft unter ihren Schritten. Der Wind streift über den See, trägt den Duft von Wasser,  und Abendluft mit sich. Ihre Arme schwingen, fast synchron, und manchmal, ganz kurz, berühren sich ihre Ellbogen.

Eine Weile sagen sie nichts, doch es ist eine Stille, die sich warm anfühlt.

Dann beginnt es ganz einfach.

 

Elysia sieht ihn an, leicht schüchtern, aber neugierig.


„Also… ich hab irgendwie das Gefühl, wir kennen uns kaum. Ich mein—wir haben viel geredet, aber…“ Sie lacht leise. „Nicht über uns.“

 

Kian nickt. „Ja. Stimmt. Es war irgendwie immer… Chaos.“ Er schmunzelt.

„Vielleicht fangen wir heute mal normal an.“

 

„Normal klingt gut“, sagt sie lächelnd.

 

„Okay“, beginnt Kian, „fangen wir mal ganz vorne an: Was ist das Peinlichste, das dir jemals passiert ist?“

 

Elysia lacht auf, überrascht.


„Das ist deine erste Frage? Wirklich?“

 

„Absolut. Muss ja gleich spannend werden.“

 

Sie schüttelt den Kopf, grinst und denkt nach. Dann hebt sie eine Augenbraue.

 

„Also… ich war zwölf… und ich war überzeugt, ich würde später eine berühmte Sängerin werden.“


Kian versucht, nicht zu lachen.


Sie schiebt ihn leicht mit der Schulter an. „Nicht schon lachen!“

 

Er hebt die Hände. „Ich sag ja nichts!“

 

„Jedenfalls“, fährt Elysia fort, „hatte ich diesen schrecklichen rosa Glitzer-Mikrofonständer. Und ich hab auf der Geburtstagsparty meiner Cousine My Heart Will Go On gesungen.“

 

Kian lacht auf. „Oh nein.“

 

„Doch!“ Sie verdeckt halb lachend ihr Gesicht. „Und während ich gesungen hab - also gebrüllt, wenn man ehrlich ist - ist das Mikrofon umgekippt und hat die Torte von der Tischkante gestoßen.“

 

Kian lacht. „Damit hast du mehr zerstört als die Titanic!“

 

„Sehr witzig!“, sagt sie lachend. „Ich hab vor Scham fast geheult. Von da an wollte ich keine Sängerin mehr werden. Vielleicht hat das Schicksal da schon eingegriffen.“

 

Kian lacht laut auf, wischt sich über die Augen.


„Okay“, sagt er, „das ist schwer zu toppen. Aber… ich versuche es.“

 

Sie sieht ihn gespannt an.

 

Kian räuspert sich.


„Ich war vierzehn… und wollte ein Mädchen beeindrucken. Also hab ich versucht, auf einem Skateboard einen Trick zu machen.“

 

„Oh nein“, stöhnt Elysia.

 

„Doch. Ich hab einen halben Meter geschafft - bevor das Board weggerutscht ist und ich mit voller Wucht im Gebüsch gelandet bin.“

 

Elysia lacht los, dass sie stehenbleiben muss.


„Ins Gebüsch?“

 

„Ja. Und das Beste: Das Mädchen hat mich danach nur gefragt, ob ich Hilfe brauche… und dann ist sie weggegangen.“

 

„Autsch“, sagt Elysia mitfühlend, aber sie grinst. „Sehr mitfühlend!“

 

„Eben“, sagt Kian trocken.

 

Elysia wird etwas ruhiger, ihre Schritte langsamer.


„Und… was ist mit jetzt? Was willst du im Leben?“

 

Kian überlegt einen Moment. Sein Blick gleitet über den See, reflektiert das Abendlicht.

 

„Ruhe“, sagt er ehrlich. „Und… echte Menschen. Nichts Oberflächliches. Kein Drama. Einfach… jemanden, der mich sieht.“

 

Elysia sieht ihn von der Seite an, und etwas in ihrem Blick wird weich.


„Das klingt schön,“ flüstert sie.

 

„Und du?“ fragt er.

 

Sie atmet tief durch.


„Selbstständig sein. Wirklich selbstständig. Nicht nur beruflich… sondern in meinem Kopf. Ich will… entscheiden dürfen. Ich will atmen dürfen.“

 

Er sieht sie lange an. Nicht mitleidig. Nicht neugierig. Sondern verstehend. Echt. Einfach nah.

 

„Ich glaub, du bist auf einem verdammt guten Weg dahin,“ sagt er leise.

 

Sie lächelt – zart, dankbar, ehrlich.

 

Der Weg biegt leicht ab, und dort – halb versteckt unter einer alten Birke - steht eine schlichte Holzbank. Sie sieht ein bisschen verwittert aus, aber sie bietet den perfekten Blick über den stillen, dämmernden See.

 

Elysia bleibt stehen und deutet mit einem kleinen Nicken darauf.


„Wollen wir…?“

 

Kian nickt.


„Gerne.“

 

Sie setzen sich nebeneinander. Nicht direkt aneinander, aber so, dass nur eine Handbreit Platz zwischen ihnen bleibt – eine Entfernung, die mehr Spannung enthält als jede Berührung.

 

Der Wind streicht sanft durch die Zweige, das Wasser glitzert im Nachtlicht, und alles wirkt, als hätte die Welt sich genau für diesen Moment verlangsamt.

 

Elysia rückt ein kleines Stück nach hinten, schlägt ein Bein über und streicht sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

 

„Weißt du…“, beginnt sie leise, „ich war mir nicht sicher, ob ich heute überhaupt rausgehen soll. Alles hat sich so… schwer angefühlt.“

 

Kian sieht sie an, ruhig, geduldig.


„Und jetzt?“

 

Sie lächelt. Nicht stark, nicht überschwänglich – sondern warm, ehrlich, weich.

 

„Jetzt fühlt es sich leichter an. Weil du hier bist.“

 

Ihre Worte treffen ihn wie ein warmer Stoß. Ein weiches Pochen setzt in seiner Brust ein. Er versucht nicht, es wegzuschieben.

 

„Ich bin froh, dass du vorbeigelaufen bist,“ antwortet er leise. „Sonst hätte ich dich vielleicht nie… so kennengelernt.“

 

Elysia sieht ihn an. Ihre blauen Augen wirken im Abendlicht fast silbern. Sanft.
Nachdenklich. Und offen.

 

Ein paar Sekunden schweigen sie wieder. Die Art Stille, die sich wie eine Decke über zwei Menschen legt, die die Nähe des anderen genießen. Dann hebt Elysia ihre Hand, um eine Haarsträhne hinter ihr Ohr zu schieben – doch sie zögert mitten in der Bewegung. Ihr Blick ist auf das Wasser gerichtet, aber ihre Finger halten still.

 

Kian bemerkt es. Sieht zu ihr und legt seine Hand auf die Bank zwischen ihnen. 

 

Elysia blickt auf seine Hand. Dann atmet sie leise aus, und als wäre es das Natürlichste der Welt, gleiten ihre Finger ganz leicht in seine.  Eine sanfte, zögerliche, fast scheue Berührung. Aber für beide fühlt sie sich an wie ein Einschlag.

 

Kian spürt sofort, wie sich alles in ihm zusammenzieht – nicht vor Angst,
sondern vor dieser intensiven Welle aus Wärme, die von ihrer Haut zu seiner übergeht.

 

Elysia senkt den Blick, und ein kleiner, unsicherer Atemzug entweicht ihr. Ihr Herz schlägt schneller. Er kann es fast fühlen.

 

„Tut mir leid…“, flüstert sie, ohne die Hand wegzuziehen. „Ich wollte das nicht - also, nicht… aufdringlich sein.“

 

Kian lächelt und schüttelt ganz leicht den Kopf.

 

„Es ist nicht aufdringlich,“ sagt er leise. „Es ist schön.“

 

Sie hebt vorsichtig den Blick zu ihm, und in ihren Augen glimmt etwas Neues. Zart. Zweifelnd. Aber eindeutig. Ihr Daumen streift ganz leicht über seinen Handrücken. Ein kaum wahrnehmender, aber unglaublicher Moment.

 

„Es fühlt sich… richtig an,“ gesteht sie hauchzart.

 

Kian hält ihren Blick.

 

„Ja,“ nickt er. „Das tut es.“

 

Sie sitzen einfach nur da – Hand in Hand, schweigend,
und dennoch näher als jemals zuvor.

 

Der Mond steht hell und rund am Himmel. Der See ist still geworden, der Wind hat sich gelegt.

 

Elysia und Kian stehen langsam von der Bank auf – und ihre Hände lösen sich nicht. Nicht einmal ansatzweise.

 

Sie gehen nebeneinander den kleinen Weg entlang, der um den See führt.

Elysia sieht immer wieder zu ihm hoch, und jedes Mal, wenn er zurückblickt, huscht ein kleines, warmes Lächeln über ihre Lippen.

 

„Es ist verrückt, oder?“ sagt sie schließlich, während sie seine Hand ganz leicht drückt. „Mitte September… und es fühlt sich an wie Juli.“

 

Kian nickt.


„Ja. Ich kann mich nicht erinnern, wann der Sommer so lang war.“ Er hebt den Blick zum Himmel, der im Mondlicht getaucht ist. „Vielleicht will er uns noch ein bisschen Zeit schenken.“

 

Elysia lächelt bei seinen Worten.


„Zeit, um aufzuholen, was man verpasst hat.“

 

„Genau.“


Seine Stimme ist ruhig, warm. „Manchmal bekommt man eine zweite Chance. Mit sich selbst. Mit dem Leben.“

 

Sie sieht ihn lange an. Ihre Finger verschränken sich fester mit seinen.

 

„Ich glaube… ich bekomme gerade so eine Chance,“ sagt sie leise.

 

Kian bleibt kurz stehen – nur ein paar Sekunden. Dreht sich zu ihr. Der Wind spielt in ihren Haaren, ihre Augen leuchten im Mondlicht.

 

„Dann bin ich froh,“ sagt er sanft, „dass ich ein kleines Stück davon miterleben darf.“

 

Elysias Wangen färben sich rosa, und ihr Herz klopft schneller. Sie senkt kurz den Blick, aber sie lässt seine Hand nicht los.

 

„Ein kleines Stück?“ murmelte sie.

 

Er schmunzelt.


„Ein vielleicht etwas größeres.“

 

Sie lachen beide leise, und es ist ein Klang, der in die warme Abendluft passt wie Musik.

 

Der Weg führt zurück in die Siedlung, vorbei an Gärten, Hecken und dem warmen Schein vereinzelter Lampen.

 

Elysia läuft ganz nah an ihm. Ihre Schultern berühren sich immer wieder.
Manchmal bleibt sie kurz stehen, um einen Moment länger auf den See zurückzuschauen, und Kian bleibt geduldig bei ihr stehen – immer noch ihre Hand haltend.

 

„Ich hätte nicht gedacht, dass der Tag so endet,“ sagt sie leise.

 

„Ich auch nicht,“ antwortet er.

 

Als sie in Hannahs Straße einbiegen, wird Elysias Schritt langsamer. Fast so, als wolle sie nicht, dass der Weg endet. Ihre Finger verschränken sich fester um seine. Ihr Blick bleibt an seinen hängen.

 

„Danke für heute,“ flüstert sie. „Ich hab’s gebraucht… mehr, als ich sagen kann.“

 

Kian lächelt – dieses warme, tiefe Lächeln, das nur für sie entsteht. Er hebt ihre Hand leicht, streicht mit dem Daumen über ihr Handgelenk.

 

„Jederzeit,“ sagt er.

 

„Meinst du das so?“ fragt sie vorsichtig.

 

„Mehr als du denkst.“

 

Sie stehen einen Moment einfach nur da. Unter einer Laterne, die warm auf sie herab scheint. Hände ineinander verschlungen, Herzen ein Stück näher gerückt.

 

Die Laterne über ihnen wirft ein weiches, warmes Licht auf die schmale Einfahrt von Hannahs und Bens Haus. 


Elysia und Kian stehen einander gegenüber – so nah, dass sie den Atem des anderen spüren können.

 

„Danke… für alles,“ flüstert sie ein letztes Mal.

 

Kian hebt langsam die Hand, als sei er sich selbst nicht sicher, ob er sich traut.
Doch dann legt er seine Hände sanft an ihre Taille – zögernd, vorsichtig.

 

Einen Herzschlag lang schauen sie sich einfach nur an. Und dann zieht er sie in seine Arme.

 

Elysia schmiegt sich an ihn, ohne nachzudenken. Ihr Kopf liegt an seiner Schulter, ihre Hände greifen vorsichtig an sein Shirt, als müsste sie sich festhalten.


Und Kian schließt die Arme fester um sie, als wolle er sie schützen, halten, beruhigen. Ihre Körper schmiegen sich aneinander. Seine Wärme hüllt sie ein.
Ihr Herz schlägt spürbar gegen seine Brust. Ein Moment, der nicht enden darf.

Keiner der beiden macht Anstalten, sich zu lösen. Im Gegenteil.

 

Kian hebt schließlich den Kopf, sieht hinunter zu ihr – und Elysia hebt langsam den Blick zu ihm. Ihre Augen treffen sich.

 

Blau in Braun.
Zart in Stark.
Verletzlich in Hoffend.

 

Das Atmen geht ihnen beiden schwerer. Erneut zieht es sie zueinander wie ein stiller Magnet. Kian hebt die Hand, streicht eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht.

 

Elysia legt den Kopf ein wenig schief – und ihre Lippen öffnen sich ein wenig, als wollte sie etwas sagen, sich aber nicht traut.

 

Er braucht keine Worte.

 

Langsam, sehr langsam, beugt er sich zu ihr. Sie schließt erst im allerletzten Moment die Augen. Ihre Lippen treffen sich. Ein sanfter, erkundender Kuss. Warm. Zärtlich. Zögernd – als würde er sicherstellen, dass er willkommen ist.

 

Elysia antwortet mit einem leisen Einatmen, das eher einem Zittern gleicht.
Ihre Hände gleiten an seinen Nacken, ihre Finger verfangen sich sacht in seinem Haar.

 

Kian vertieft den Kuss erst, als er spürt, wie sie sich vollkommen an ihn lehnt.
Es ist kein hastiger Kuss, kein drängender – sondern einer, der aus Sehnsucht und Wärme geboren ist.

 

Ein Kuss, der ruhig beginnt, doch mit jedem Atemzug tiefer wird. Inniger. Aufrichtiger.

 

Ihre Körper schmiegen sich enger aneinander. Ihre Hände streichen über seinen Rücken. Seine Finger gleiten über ihre Taille und ziehen sie weiter in seine Wärme. Und die Welt verschwindet. Alles verblasst zu einem leisen Hintergrundrauschen. Nur sie beide existieren noch.

 

Und als sie sich schließlich, nach einer Ewigkeit, langsam ihre Lippen lösen, bleiben ihre Stirnen aneinander liegen.


Hörbare Atemzüge mischen sich in der warmen Nachtluft.

 

„Kian…“ flüstert sie, kaum hörbar.

 

„Elysia...,“ flüstert er.


Seine Stimme ist tief, rau, voller Gefühl.

 

Sie öffnen gleichzeitig die Augen und sehen einander an – und in diesem Blick liegt alles, was sie gerade nicht aussprechen können.

 

Zärtlichkeit.
Verlangen.
Unsicherheit.
Hoffnung.

 

Und etwas, das gefährlich nah daran ist, mehr zu werden.