Falkensee - Kapitel 24
Elysia lehnt mit der Stirn an seiner Brust, Kians Finger zeichnen gedankenverloren kleine Kreise über ihre Schulter. Die Welt draußen existiert nicht.
Nur er und sie.
Doch irgendwann spürt Elysia die Bewegung der Zeit wieder. Der Moment fällt in sie hinein, schwer und traurig, wie ein leiser Stich.
„Ich muss wirklich los…“, flüstert sie, ohne sich von ihm zu lösen.
Kian hält einen Moment den Atem an. Er weiß, dass dieser Moment kommt. Und trotzdem tut es weh.
Langsam entzieht sie sich ihm. Er folgt ihr mit den Augen, sein Blick weich, warm, voller dieser unausgesprochenen Sehnsucht.
Sie sammelt ihre Kleidung ein, und während sie sich wieder anzieht, spürt sie seinen Blick auf sich – nicht begehrlich, sondern liebevoll, fast beschützend.
Kian zieht sich die Jeans hoch. Als er damit fertig ist, tritt er zu ihr.
Ganz nah.
Elysia schiebt ihr Haar zur Seite, ihre Hände zittern ein wenig – nicht vor Unsicherheit, sondern weil ihr Herz jetzt schon schwer ist.
„Ich würde dich am liebsten gar nicht fahren lassen“, murmelt Kian. Es ist kein Vorwurf. Nur Wahrheit.
Sie lächelt traurig.
„Ich weiß… ich würde am liebsten bleiben.“
Sie stehen einen Moment still. Noch ein paar Sekunden, als würden diese Sekunden etwas retten können. Dann nimmt Kian ihre Hand und drückt sie sanft.
„Ich komme nächstes Wochenende zu dir. Versprochen.“
Elysia schluckt, Tränen brennen hinter ihren Augen, doch sie nickt.
„Ich freu mich drauf.“
Sie gehen gemeinsam zur Tür. Ihre Finger bleiben ineinander verschlungen bis zum letzten Moment. Draußen ist die Luft heiß, der Himmel tiefblau. Es passt nicht zu der Schwere in ihrem Brustkorb.
Elysia dreht sich zu ihm, ihre Augen glänzen.
„Kian… ich werde dich vermissen.“
Er hebt ihre Hand, küsst sie sanft.
„Ich dich auch“
Er zieht sie in seine Arme und schließt die Augen. Elysia lehnt sich an ihn und atmet leise durch, blinzelt eine Träne weg. Dann blickt sie zu ihm auf und beide versuchen zu lächeln.
Er küßt sie, und dieser Kuss ist ein Versprechen, das vorläufig aufgeschoben wird. Es ist nicht der Abschied für Monate, aber es ist trotzdem ein Abbruch. Ihre Lippen treffen sich mit einer Süße, die sofort von dem leisen Frust unterlegt wird, dass die Zeit gewonnen hat.
Als sie sich trennen, stößt Kian einen leisen Seufzer aus, der fast wie ein Schimpfwort klingt. Er drückt ihr noch einen schnellen, entscheidenden Kuss auf die Stirn – kurz und bündig.
„Bis nächsten Samstag.", sagt er, seine Augen fixieren ihre, als brauchte er die Bestätigung
„Bis samstag", flüstert Elysia, bevor sie sich aus seinen Armen löst.
Sie steigt in ihr Auto. Der Motor brummt leise. Kian bleibt am Rand der Auffahrt stehen, die Hände in den Taschen, den Blick fest auf sie gerichtet.
Elysia winkt, lächelt – leicht gebrochen, aber echt – und dann fährt sie los. Im Rückspiegel sieht sie ihn noch lange dort stehen.
Kian wartet, bis das letzte Funkeln ihres Autos hinter der Kurve verschwindet.
Er steht noch einen Moment da, die Hände in den Taschen, das Herz schwer und gleichzeitig warm. Dann dreht er sich um und geht ins Haus zurück.
Drinnen ist es plötzlich still. Zu still. Aber dann fällt sein Blick auf etwas am Boden – direkt neben der Kücheninsel. Ein Kleidungsstück. Ihr Kleidungsstück. Zart Rosa mit Spitze. Ihr BH.
Er bleibt stehen, schmunzelt unwillkürlich, und bückt sich langsam danach.
Es ist ein kleiner, zarter Rest von ihr, den sie hiergelassen hat. Ob absichtlich oder nicht… das spielt keine Rolle.
Kian nimmt das Stück Stoff in die Hand und hält es einen Moment fest. Nicht aus Besitz, sondern weil ihn der Anblick schlicht trifft. Weil es so eindeutig sie ist. Weil es ihn an die letzten Minuten erinnert – an ihre Nähe, ihre Wärme, an die Art, wie sie ihn angesehen hat.
Er atmet tief durch, und ein Lächeln breitet sich über sein Gesicht aus.
Ein weiches, warmes, völlig verliebtes Lächeln.
„Du kleines Chaos“, murmelt er liebevoll, als hätte sie es absichtlich dagelassen, damit er sie nicht vergisst.
Er legt das Stück Stoff behutsam über die Stuhllehne – fast wie einen Schatz -, dann fährt er sich durch die Haare und lehnt sich für einen Moment an die Küchentheke. Die Bilder der letzten Stunde laufen wie ein Film durch seinen Kopf.
Ihr Blick. Ihre Berührungen. Ihr Herzschlag. Ihre Küsse und ihre leisen Seufzer.
Er schließt die Augen und lässt die Zeit noch einmal zu. Den ganzen Moment. Alles, was er bedeutet. Dann öffnet er sie wieder – mit einem Grinsen, das er nicht unterdrücken könnte, selbst wenn er wollte.
„Ich vermiss dich jetzt schon“, sagt er leise, mehr zu sich selbst als zu irgendjemand anderem.
Der Wagen gleitet über die Landstraße, die Sonne glitzert durch die Baumwipfel, und im Radio läuft irgendein ruhiges Lied, das sie kaum wahrnimmt. Ihre Gedanken sind viel zu laut.
Elysia hat beide Hände fest am Lenkrad, doch ihr Herz hängt noch immer in diesem Haus, an seine Berührungen, an diesen Augen, die sie angesehen haben, als wäre sie das Wichtigste auf der Welt. Sie lächelt vor sich hin. Immer wieder.
Dieser Ausdruck taucht ganz von allein auf, jedes Mal, wenn die Erinnerung an Kians Lippen, seine Nähe, sein Lächeln aufflackert. Es ist ein warmes, kribbelndes, fast unwirkliches Gefühl. Und gleichzeitig zieht sich in ihrer Brust etwas zusammen.
„Drei Stunden…“, flüstert sie leise, fast traurig. So lange fährt sie nun in die andere Richtung. Weg von ihm. Weg von diesem Gefühl, das sich nach Zuhause anfühlt. Sie schluckt. Ihr Hals wird eng.
Der Gedanke, ihn eine Woche lang nicht zu sehen, sticht kurz und schmerzhaft in sie hinein. Sie legt eine Hand kurz auf ihren Bauch, als könnte sie damit dieses Ziehen bändigen.
„Ich vermisse dich jetzt schon…“, sagt sie leise in den leeren Wagen.
Der Rest der Fahrt vergeht mit diesem Gefühl:
Wärme und Sehnsucht, vermischt mit der leisen Angst, wie sehr ein Mensch ihr schon wieder fehlt, obwohl er eben noch seine Arme um sie gelegt hatte.
Das Haus ist ruhig. Viel zu ruhig. Kian hat geduscht, etwas gegessen, sich auf die Couch gesetzt. Aber alles wirkt… leerer. Er schaltet den Fernseher an – irgendeine Serie, die er sonst immer gerne schaut. Aber seine Gedanken schweifen ab. Immer wieder.
Seine Hand wandert wie von selbst zur Lehne des Stuhls, auf dem ihr vergessener BH hängt. Er sieht ihn an, und sein Gesicht wird weich.
„Du hast das echt hier gelassen…“, murmelt er und schüttelt mit einem halben Lächeln den Kopf. Doch in seinen Augen liegt nicht nur Amüsement. Da liegt Sehnsucht. Tiefe Sehnsucht.
Der Platz neben ihm auf der Couch – leer. Die Ecke am Küchentisch, wo sie gesessen hat – leer. Seine Arme, die eben noch voller Wärme waren – leer. Er atmet schwer aus und lehnt den Kopf an die Sofalehne.
„Verdammt…“, flüstert er ehrlicher, als er es sich selbst eingestehen möchte.
„Ich vermiss dich auch.“
Er schließt die Augen, und sofort ist sie wieder da: Ihr Lachen. Ihre weichen Hände auf seiner Haut. Die Art, wie sie seinen Namen gesagt hat. Die Wärme ihres Körpers, ihr Blick, der ihn getroffen hat wie ein Blitz.
Er streicht sich über die Stirn, seufzt tief und zwingt ein Lächeln.
„Nächstes Wochenende“, sagt er leise, fast wie ein Mantra. „Ich komme zu dir. Egal was ist.“
Ein Moment Stille.
Dann lacht er leise in sich hinein. Ein warmes, verliebtes Lachen.
„Und wenn ich vorher verrückt werde“, fügt er hinzu.
Denn er weiß jetzt schon:
Sie fehlt ihm. Mehr, als er gedacht hätte. Mehr, als gut für ihn ist. Mehr, als er jemals wieder aufgeben wird.
Als Elysia vor ihrem Wohnhaus anhält, ist der Himmel bereits in ein sanftes Abendlicht getaucht. Die Fahrt hat sie erschöpft, aber nicht körperlich – es ist ihr Herz, das so viel gearbeitet hat.
Sie schaltet den Motor aus. Stille. Für einen Moment bleibt sie einfach sitzen, die Hände noch am Lenkrad, ihr Blick leer durch die Windschutzscheibe gerichtet. Der Parkplatz, die vertraute Straße, das Haus… alles wirkt plötzlich fremd. Kalt. Leer. Sie atmet tief ein. Zu tief. Dieser tiefe Atemzug, den man nimmt, wenn man sich selbst zusammenreißen muss.
Langsam öffnet sie die Tür und steigt aus. Die Luft ist kühler hier als in Falkenstein, aber sie spürt es kaum. Mit der Wasserflasche in der einen und ihrer Tasche in der anderen Hand geht sie zum Hauseingang. Ihre Schritte hallen zu laut, als wäre die Stadt stiller geworden. Als sie die Wohnungstür aufschließt, schlägt ihr der vertraute Duft entgegen – Vanille, ein bisschen Kaffee, und das leichte Aroma ihres Lieblingsweichspülers. Es ist der Geruch von Zuhause.
Und trotzdem fühlt es sich nicht nach ihrem Zuhause an. Nicht heute. Sie stellt die Tasche ab, schließt die Tür hinter sich und lehnt sich für einen Moment dagegen. Ein tiefes Seufzen entweicht ihr, lange, schwer, ehrlich. Die Wohnung ist ordentlich. Aufgeräumt. Perfekt. Aber sie ist allein.
Elysia geht ins Wohnzimmer, stellt die Wasserflasche ab, sieht sich um. Die leere Couch. Der stille Fernseher. Der Esstisch, an dem niemand sitzt. Ein Kloß bildet sich in ihrer Kehle, als sie sich auf die Couch sinken lässt. Sie zieht die Beine an und legt die Stirn auf die Knie.
„Warum fühlt es sich… so falsch an, hier zu sein?“, flüstert sie in die Stille. Sie weiß die Antwort. Weil sie jemand anderen vermisst. Mehr, als sie gedacht hätte. Mehr, als sie zulassen wollte. Langsam richtet sie sich wieder auf, fährt sich durch die Haare und spürt, wie sich ein warmes Ziehen in ihrem Bauch ausbreitet.
Keine Panik. Kein Zweifel. Nur… Sehnsucht.
Sie lächelt ein wenig, auch wenn ihre Augen plötzlich brennen.
„Kian…“, murmelt sie.
Der Name löst etwas in ihr aus, das gleichzeitig weh tut und unglaublich schön ist. Sie steht auf, geht ins Schlafzimmer und lässt sich aufs Bett fallen. Ihr Blick bleibt an der Decke haften.
Elysia liegt auf dem Bett, die Decke halb über sich gezogen, ihr Körper schwer von der Fahrt und den Ereignissen des Tages.
Aber Schlaf? Keine Chance.
Nach einigen Minuten greift sie nach ihrem Handy. Ihr Daumen zögert kurz über dem Display, als müsste sie sich sammeln. Dann tippt sie:
„Ich bin gut angekommen… aber es fühlt sich irgendwie komisch an. Ich vermisse dich.“
Sie starrt die Nachricht an. Zu ehrlich? Zu viel? Nein. Nicht nach heute.
Sie drückt Senden.
Ihr Herz schlägt sofort schneller, viel zu schnell für so eine kleine Bewegung.
Sie legt das Handy neben sich und atmet tief durch.
Drei Sekunden.
Vier.
Fünf.
Dann vibriert das Telefon in ihrer Hand.
Elysia reißt die Augen auf.
Kian ruft an.
Ohne nachzudenken nimmt sie ab.
„Hallo?“ flüstert sie.
„Elysia…“
Seine Stimme ist warm, tief, voller Erleichterung – und sie trifft sie mitten ins Herz.
„Du… du hast mir gerade wirklich gefehlt“, sagt er, ohne Luft zu holen. „Ich hab das Handy die ganze Zeit neben mir liegen gehabt. Ich hab auf irgendwas gehofft. Und dann lese ich das, und… ich musste dich sofort hören.“
Elysia schließt die Augen, ein weiches Lächeln breitet sich über ihr Gesicht aus.
„Ich musste dir schreiben“, gibt sie zu. „Es hat sich so leer angefühlt, als ich hier reingekommen bin.“
„Ja“, sagt Kian leise. „Hier auch.“
Sie liegen beide in ihren getrennten Betten, hunderte Kilometer voneinander entfernt – und fühlen sich doch gerade so nah wie vor ein paar Stunden noch.
„Wie geht’s dir?“, fragt er sanft.
„Jetzt besser“, flüstert sie.
Kian lacht leise, ein warmer, beruhigender Ton.
„Mir auch.“
Eine kurze Pause. Dann, leiser:
„Ich wünschte, du wärst noch hier.“
Elysia atmet hörbar ein, ihre Brust zieht sich zusammen.
„Ich wünschte das auch.“
„Eine Woche ist zu lang“, murmelt er.
„Viel zu lang.“
„Elysia…?“ Seine Stimme zögert, weich, verletzlich. „Das war schön heute.“
Sie lächelt.
„Ja, das war es.“
Für einen Moment sagen beide nichts. Aber die Stille ist schön. Wärmend.
Ein Zuhausegefühl durch ein Telefonkabel.
„Bleib noch ein bisschen dran, ja?“, fragt Kian leise.
„Ich bleib“, flüstert sie.
Und so liegen sie – jeder in der eigenen Wohnung, jeder unter einer anderen Decke – aber mit dem Gefühl, dass sie trotz der drei Stunden Entfernung genau dort sind, wo sie hingehören:
Bei dem anderen.