Falkensee - Kapitel 29



Es ist 20:30 Uhr, als Kian den Wagen in Brunnental auf den Parkplatz vor Elysias Wohnblock lenkt. Die Stadt liegt still da, eingehüllt in eine dicke, weiße Schneeschicht, wie ein Wintertraum, der nur für sie beide geschrieben wurde.

Dicke Flocken fallen weiterhin lautlos vom dunklen Himmel, tanzen durch die Straßenlaternen und glitzern im Licht wie winzige Sterne.

 

Kian stellt den Motor ab. Für einen Moment bleibt er sitzen, lauscht der Stille, die so anders klingt als zuhause. Dann steigt er aus. Kälte schlägt ihm entgegen, aber sie fühlt sich frisch an – er hebt den Kopf, atmet tief ein, als würde er die Nacht selbst in seine Lungen ziehen.

 

Sein Blick schweift über den Parkplatz. Nicht weit entfernt steht ein schwarzer SUV. Kian sieht ihn an – nur kurz, ein unbewusster Reflex. Er denkt nicht weiter darüber nach. Der Schnee knirscht unter seinen Stiefeln, als er den Eingang des Wohnhauses ansteuert.


Er zieht gerade die Hand aus der Jackentasche, um die Tür zu drücken - doch er kommt nicht einmal so weit. Die Tür reißt sich von innen auf. Und im selben Moment wirft sich Elysia in seine Arme.

 

„Kian!“, ruft sie, ihre Stimme warm, lebendig, voller Freude.

 

Er fängt sie auf, ohne überhaupt darüber nachzudenken. Seine Arme schließen sich fest und schützend um sie, ihr kleiner Körper passt sich wie selbstverständlich an seinen an. Ihre Augen strahlen wie zwei klare Sterne in der Winternacht.

 

„Du bist da“, flüstert sie, fast ungläubig.

 

Kian lacht leise, drückt sein Gesicht an ihren Hals, atmet ihren Duft ein.


„Natürlich bin ich da. Wo sonst sollte ich sein?“

 

Elysia löst sich minimal, gerade so viel, dass sie ihm ins Gesicht schauen kann.
Schneeflocken liegen in ihren Haaren und glitzern wie kleine Diamanten.

 

„Ich habe dich so vermisst“, sagt sie ohne Zögern.

 

Kian streicht ihr über die Wange, sein Daumen warm gegen ihre Haut.


„Ich dich auch. Jede Minute.“

 

Sie schlingt die Arme um seinen Nacken und drückt sich wieder an ihn, fest, vertraut, voller Gefühl.


Er hebt sie leicht an, dreht sich mit ihr im verschneiten Eingang – und sie lacht leise. Ein Moment, so schön und vollkommen, dass die ganze Welt zu verschwinden scheint.

Und tatsächlich... Für die beiden verschwindet sie.

 

Der Schneefall wird dichter. Die weißen Flocken tanzen durch die Lichtkegel der Laternen, setzen sich auf die Windschutzscheibe des schwarzen SUVs.

Kessler bewegt sich kaum. Er sitzt reglos am Steuer, das Handy in der Hand, die Kamera längst aktiv. Sein Blick folgt dem Paar vor dem Wohnblock.

 

Elysia. Und der Mann, der sie einfach so fest in die Arme schließt. Der sie hochhebt. Der sie zum Lachen bringt.

 

Kessler zoomt näher heran. Auf dem Display seines Handys sieht er, wie Kian ihre Wange streichelt. Wie Elysia ihre Arme um seinen Nacken legt und sich an ihn schmiegt, als wäre es das Natürlichste der Welt.

 

Der Schnee glitzert auf ihren Haaren. Ihre Silhouetten wirken fast wie aus einem Film. Dann verschwinden sie Arm in Arm durch die Glastür des Wohnblocks.

 

Die Tür fällt hinter ihnen ins Schloss. Ihre Stimmen sind weg. Nur das gedämpfte Licht bleibt. Kessler stoppt die Aufnahme.

 

Er schickt das Video sofort an Valerian.  Es dauert keine 20 Sekunden, bis sein Handy vibriert.

 

Eingehender Anruf: Auberon.

 

Kessler nimmt ab.
„Auberon.“

 

Valerians Stimme ist kalt. Schneidend. Keine Unsicherheit. Nur Wut. Und etwas anderes – Verletzung.

 

„Wer“, sagt Valerian tonlos, „ist dieser Mann?“

 

Kessler bleibt sachlich.


„Noch keine Identifikation. Aber ich arbeite daran.“

 

Valerians Stimme wird etwas schärfer.


„Er küsst sie. Er fasst sie an, als würde sie ihm gehören.“

 

Kessler sagt nichts. Er kommentiert nie. Er beobachtet nur.

 

Valerian atmet schwer – aber nicht vor Trauer. Sondern vor einem inneren Sturm, der sich gefährlich zusammenbraut.

 

„Hören Sie zu“, sagt er langsam. „Finden Sie heraus, wer er ist. Sein Name. Sein Beruf. Wo er wohnt. Alles.“

 

Kessler nickt, obwohl Valerian ihn nicht sehen kann.


„Verstanden.“

 

„Und behalten Sie ihn im Auge. Solange er bei ihr ist, will ich wissen, wo er hingeht… und wann.“

 

„Ich bleibe in der Nähe“, sagt Kessler ruhig.

 

Valerians Stimme sinkt in ein dunkles Flüstern.


„Sehr gut.“

 

Dann legt er auf.

 

Die Tür fällt hinter Elysia und Kian ins Schloss, und für einen Augenblick bleibt die Welt draußen stehen. Tiefe Stille umgibt sie, ein Moment, in dem die Zeit selbst innehält. Elysia steht vor Kian, noch im Mantel, die Wangen rot von der Kälte und leuchtend vor Freude. Ihre Augen strahlen, ihre Lippen sind leicht geöffnet, als könne sie kaum fassen, dass er wirklich hier ist.

 

Kian wirft einen kurzen Blick durch den schmalen Flur in ihr Wohnzimmer, wo eine kleine Lampe warmes, weiches Licht auf das Sofa und das Bücherregal  wirft. Doch noch bevor er etwas sagen kann, fängt Elysia seinen Blick auf. Und dann ist es, als würden sie beide gleichzeitig entscheiden, dass es jetzt keine Worte braucht – nur Nähe.

 

Elysia tritt auf ihn zu und legt eine Hand an seine Wange. Ihre Fingerspitzen sind kalt, doch sein Gesicht ist warm unter ihrer Berührung. Kian neigt sich zu ihr, langsam, fast ehrfürchtig – und dann finden sich ihre Lippen. Der erste Kuss ist weich und lang. Er fühlt sich an wie ein Wiederkommen, wie ein tiefes, leises „Da bist du.“ Doch schon beim zweiten Kuss wird alles wärmer, intensiver.

 

Elysia schlingt die Arme um seinen Hals, zieht ihn näher, als wolle sie keinen einzigen Zentimeter mehr zwischen ihnen zulassen. Kian hält sie fest – nicht zu stark, aber so sicher, als hätte er genau hier sein wollen.

 

Seine Hände gleiten sanft über ihren Rücken, spüren den Stoff ihres Mantels, spüren sie darunter. Sie küsst ihn, als hätte sie die letzten drei Tage auf genau diesen Moment gewartet, und er küsst zurück, als wüsste er, dass es keinen Ort gibt, an dem er lieber wäre. Ein langer Moment vergeht. Die Welt draußen mag kalt sein, doch hier drinnen brennt ein Feuer.

 

Als sie sich langsam voneinander lösen, bleiben ihre Stirnen aneinander liegen.

Ihre Atemzüge mischen sich. Kian streicht mit dem Daumen über ihre Wange.

 

„Ich hab’s vermisst“, murmelt er. Elysia lächelt, ein kleines, zärtliches, schiefes Lächeln. „Ich auch.“ Sie bleiben im Arm, eng aneinander geschmiegt.

 

Alles in ihnen schreit nach Nähe, nach diesem Gefühl, das sich so richtig anfühlt.

 

„Kian?“, flüstert sie. „Hm?“ „Ich will das… jeden Tag.“ Sie schließt kurz die Augen. „Nicht nur am Wochenende. Nicht nur manchmal. Ich will… uns.“

 

Er schluckt. Ein warmes Leuchten breitet sich in seinen Augen aus. „Ich auch“, antwortet er leise. „Ich will genau das. Mit dir. Jeden Tag, wenn du aufwachst… und jeden Abend, wenn du einschläfst.“

 

Sie lächelt, und er legt seine Stirn wieder an ihre. „Egal wo?“, fragt er. Elysia öffnet die Augen, und für einen Moment ist darin mehr Mut als in all den letzten Monaten. „Egal wo.“ Er zieht sie wieder fest an sich, hält sie und atmet sie ein.

 

Und beide wissen es:

 

In diesem Moment fällt eine Entscheidung. Leise, aber endgültig. Sie werden den nächsten Schritt gehen. Gemeinsam. Wohin auch immer er führt.

 

Kaum haben sich ihre Herzen beruhigt, lösen sich Kian und Elysia langsam voneinander. Die Stille zwischen ihnen ist kein Vakuum, sondern eine gefühlvolle Gewissheit. Sanft beginnen sie, ihre dicken Mäntel und Jacken auszuziehen.

 

Ihre Bewegungen sind fast zögerlich, zart, als hätten die Minuten zuvor etwas in ihnen verankert, das sie nicht durch hastige Bewegungen erschüttern wollen. Es ist ein Gefühl von Halt, das beide plötzlich tragen. Sie hängen ihre Oberbekleidung an den kleinen Garderobenhaken im Flur. Jeder Handgriff ist dabei eine Bestätigung: Wir sind hier. Gemeinsam.

 

Hand in Hand gehen sie ins Wohnzimmer, wo sie sofort von dem sanften, warmen Goldlicht der Lampe empfangen werden. Elysias kleine, gemütliche Wohnung fühlt sich noch heimeliger an als sonst, seit Kian den Raum füllt. Sie sinken auf die Couch, sofort dicht aneinander. Ihre Beine verschlingen sich von selbst, ihre Körper schmiegen sich eng zusammen.

 

Kian legt seinen Arm fest um sie. Sie kuschelt sich unter seine Schulter, findet dort ihren festen Platz, als wäre dieser Raum und dieser Moment schon immer für sie beide bestimmt gewesen.

 

„Ich hab Hunger“, murmelt Elysia schließlich mit einem kleinen, vertrauten Lächeln gegen seinen Pullover.

 

„Ich auch“, lacht Kian heiser. „Pizza?“

 

„Immer! Das Ritual!“

 

Kian nimmt das Handy und wählt die Nummer.

 

„Guten Abend. Ich würde gerne eine Bestellung aufgeben. Ja, zum Liefern. Genau, vielen Dank. Wir hätten gerne eine Salami für mich – und für die Dame hier eine Margherita mit extra Mozzarella. Er blickt Elysia an, die liebevoll nickt. Ja, genau das, bitte. Und können Sie uns eine ungefähre Zeit nennen? Perfekt, bis dann! Vielen Dank und einen schönen Abend.“

 

Als er das Handy auf den Tisch legt, lehnt sie sich wieder an ihn. Ohne ein Wort zieht er die weiche Decke über ihre Beine. Für einen kostbaren Moment genießen sie nur das Jetzt. Die absolute Nähe. Die wohlige Wärme. Das leichte, befreiende Gefühl, dass nichts mehr zwischen ihnen steht, dass sie endlich dort angekommen sind, wo sie beide sein wollten.

 

Doch es dauert nicht lange, bis das unausgesprochene, große Thema, das im Raum schwebt, wieder an die Oberfläche drängt.

 

„Elysia?“ fragt Kian leise, seine Stimme belegt mit einer Spur Aufregung.

 

„Hm?“ Sie sieht zu ihm hoch.

 

„Meinst du das ernst? Mit… jedem Tag. Mit… uns. Mit… zusammenziehen?“ Sie nickt sofort. Kein Zögern in ihren Augen.

 

„Ja, immer noch“, sagt sie schlicht. „Es war noch nie in meinem Leben etwas so klar wie jetzt. Ich würde sogar zurück nach Falkensee gehen.“

 

Kian atmet leise aus, von der Klarheit in ihrer Stimme.

 

„Ich dachte“, beginnt er vorsichtig, „du würdest nicht nochmal zurück nach Falkensee wollen. Wegen allem, was passiert ist. Wegen… ihm.“

 

Elysia schaut auf ihre Hände, die in seinen liegen. Eine Sekunde lang legt sich ihre Stirn nachdenklich in Falten, als wische sie eine alte Erinnerung weg. Dann sieht sie ihn fest an.

 

„Kian… ich bin damals weggegangen, weil ich musste. Nicht weil ich hier bleiben wollte. Und jetzt habe ich dich.“ Ihre Stimme wird etwas weicher und tiefer. „Mit dir fühlt sich dieser Ort anders an.“

 

Er blinzelt, gerührt von ihrem Opfer. „Du würdest wirklich nach Falkensee zurückkommen?“, fragt er langsam.

 

Elysia nickt – wieder ohne Zögern. „Wenn du dort bleiben willst, ja. Es ist jetzt deine Heimat, deine Arbeit, deine Leute. Hannah und Ben sind auch dort.“ Ein winziges, zuversichtliches Lächeln. „Und ich mochte Falkensee eigentlich immer. Nur nicht… die Vergangenheit dort.“

 

Kian schweigt. Nicht aus Unsicherheit – sondern weil ihre Offenheit ihn tief im Inneren erreicht hat. Seine Hand wandert zu ihrer Wange, er streicht mit dem Daumen zärtlich darüber.

 

„Elysia… ich hab nicht erwartet, dass du das sagst.“

 

„Ich weiß. Aber ich wollte ehrlich sein. Wir finden heraus, was für uns beide richtig ist“, sagt sie leise, während sie eine Hand auf seine Brust legt. „Ob Falkensee. Oder Brunnental. Oder… etwas Neues dazwischen.“

 

Kian lächelt, warm und voller Gefühl, sein Blick verspricht alles.

 

„Ich will es mit dir herausfinden.“ Sie lehnt ihre Stirn gegen seine.

 

„Ich auch.“ Ein kleiner Moment der Stille folgt – aber es ist nicht die Leere, sondern eine Stille, die voll ist von Möglichkeiten, von Plänen, von der Zukunft.

 

Dann klingelt es an der Tür. Der Pizzabote. Kian und Elysia lachen gleichzeitig – ein warmes, leichtes Lachen, das zeigt, wie sicher und leicht sie miteinander geworden sind.

 

Sie lösen sich nur widerwillig voneinander. Nur für die Pizza. Und während draußen im Schnee ein Mann im schwarzen SUV immer noch wartet, bauen Elysia und Kian drinnen etwas auf, das niemand von außen verstehen oder zerstören sollte.


Valerian sitzt allein in seinem Arbeitszimmer. Es ist tief in der Nacht. Nur das kalte, schmale Licht seiner modernen LED-Schreibtischlampe beleuchtet den Stapel unberührter Papiere. Sein ganzer Fokus liegt auf dem Handy, das vor ihm auf der polierten Oberfläche liegt. Das Video ist geöffnet, und er startet es erneut. Er sieht es zum fünften, vielleicht zum sechsten Mal.

 

Elysia erscheint auf dem hellen Bildschirm – ihr Gesicht strahlt, es ist lebendig, voller Wärme, wie er sie lange  nicht mehr gesehen hat. Sein Zorn gilt jedoch nicht ihr, sondern dem Mann.

 

Dem Mann, der sie auffängt, als sie in seine Arme springt. Dem Mann, der ihre Wange streichelt. Dem Mann, in dessen Armen sie so vollkommen richtig aussieht, als hätte sie ihren festen Platz gefunden.

 

Valerian spult zurück. Mit einem Tippen stoppt er das Bild und vergrößert es digital. Das Gesicht ist durch die Komprimierung unscharf, aber die Konturen sind da: dunkles Haar, breite Schultern. Und ein Ausdruck, der ihm auf gefährliche Weise vertraut ist.

 

Er presst die Lippen zusammen. Die Kiefermuskeln spannen sich an.

 

„Verdammt…“, murmeln seine Lippen kaum hörbar.

 

Er spielt die kurze Sequenz erneut ab: Das Lachen, die Umarmung, der Kuss. Valerian spürt, wie eine giftige Hitze in ihm aufsteigt, ein unkontrollierbarer Mix aus Eifersucht, Wut und tiefem, altem Besitzanspruch.

 

Er beugt sich näher über das Handy. Dieses Gesicht. Er kennt es. Aber sein Gedächtnis weigert sich, den Namen freizugeben.

 

„Wer bist du…?“ fragt er in die Stille des Raumes. „Woher kenne ich dich…?“

 

Er spult wieder zurück. Stopp. Er zoomt das Maximum heraus und studiert die Silhouette. Die Haltung. Die Art, wie der Mann den Mantel trägt.

 

Valerian reibt sich die Schläfen, dann fährt er sich durch das kurze Haar.

 

„Ich habe dich schon einmal gesehen“, flüstert er beinahe verzweifelt. Er ist sich sicher, dass es in Elysias Umfeld gewesen sein muss. Nicht direkt, aber in einem Kontext, den er nicht greifen kann.

 

Er lässt das Handy mit einem scharfen Klacken auf die Holzfläche fallen.

 

„Verdammt!“, entfährt es ihm mit tonloser Stimme.

 

Er zwingt sich, das Video noch einmal anzusehen. Jedes Mal, wenn er ihn sieht, dieses perfekte, intime Bild, frisst sich die Wut tiefer in seine Kontrolle. Er spürt, wie der Name kurz davor ist, in seinen Kopf zu schießen – aber er entgleitet ihm immer wieder.

 

Er starrt auf die eingefrorene Szene:

Elysia in den Armen eines anderen.

 

Seine Hände verkrampfen sich um die Tischkante.

 

„Du hast ihren Weg gekreuzt…“, murmelt er dunkel. Sein Blick wird kalt und schmal, der eines Raubtiers.  „Und ich werde herausfinden, wo. „Und dann… sehen wir weiter.“

 

Valerian drückt wütend auf den Knopf seines Handys; das Display wird sofort schwarz. Mit einem Ruck schaltet er die Schreibtischlampe aus, und das Arbeitszimmer versinkt in völliger Dunkelheit. Nur sein Atem ist noch zu hören. Er geht schwer, unruhig, gefangen zwischen glühender Erinnerung und beißender Wut.

 

Er öffnet die Tür und tritt in den Flur. Seine Schritte sind hart, bestimmt, fast aufgebracht, als versuche er, die widerhallenden Gedanken in seinem Kopf zu Boden zu stampfen. Aus der Küche dringt gedämpftes Klirren – Geschirr wird weggeräumt. Frau Schubert ist noch da. Natürlich ist sie das. Sie ist gründlich, zuverlässig. Und sie hört alles.

 

Als Valerian näherkommt, hört sie sein Fluchen – leise, erfüllt von Zorn, aber doch beherrscht genug, dass es nicht herausschreit, sondern tief in ihm brennt.

 

Sie dreht sich um, das Geschirrtuch fest in der Hand.

 

„Herr Auberon?“ fragt sie vorsichtig. „Ist alles in Ordnung? Sie wirken… aufgebracht.“

 

Valerian bleibt stehen. Die Muskeln seiner Schultern sind angespannt, sein Blick flackert. Für einen Moment sieht es aus, als würde er etwas gestehen wollen – doch dann schnappt der Panzer wieder zu.

 

„Es ist nichts“, zischt er scharf. „Kümmern Sie sich um Ihre Arbeit.“

 

Frau Schubert blinzelt überrascht. Es kommt selten vor, dass er so mit ihr spricht. Wütend, ja. Ungeduldig, oft. Aber so abweisend und kühl?

 

„Wenn Sie sicher sind..."

 

„Ich sagte, kümmern Sie sich um Ihre Arbeit.“ Dieses Mal ist die Anweisung noch schroffer, ein klarer, unmissverständlicher Schnitt.

 

Frau Schubert richtet sich etwas auf, das Tuch noch immer fest in der Hand. Sie nickt, doch tiefe Besorgnis liegt in ihrem Blick.

 

„Natürlich, Herr Auberon.“

 

Valerian wendet sich ab. Schnell, fast fluchtartig. Er will diesen Blick nicht sehen. Diesen – Sie wissen nicht, was Sie tun, Herr Auberon – Blick.

 

Er geht den Flur entlang, seine Schritte dumpf und hart. Für eine Sekunde bleibt er stehen, presst die Finger fest gegen die Schläfen. Dieser Mann im Video. Dieses Gesicht. Dieses nagende Gefühl von Wiedererkennen. Und Elysia. In seinen Armen. Sein Atem geht wieder schneller.

 

Hinter ihm hört Frau Schubert das alles. Sie sagt kein Wort. Aber ihre Stirn legt sich in tiefe Sorgenfalten. Der Schnee draußen fällt leise weiter, ein stiller Kontrast. Drinnen zieht sich etwas Dunkles enger um Valerians Herz, während Frau Schubert ahnt: Dieser Weg führt zu nichts Gutem.

 

Hinter ihm hört Frau Schubert das alles. Sie sagt kein Wort. Aber ihre Stirn legt sich in tiefe Sorgenfalten. Der Schnee draußen fällt leise weiter, ein stiller Kontrast. Drinnen zieht sich etwas Dunkles enger um Valerians Herz, während Frau Schubert ahnt: Dieser Weg führt zu nichts Gutem.

 

Valerian geht die Treppe hinauf, Schritt für Schritt, langsamer als gewöhnlich. Das Haus ist dunkel, still – fast zu still für seine angespannten Nerven. Oben im Flur brennt nur eine kleine, warme Lampe, deren Schein exakt auf eine Tür fällt.

 

Die Tür.

 

Die Tür zu ihrem ehemaligen gemeinsamen Schlafzimmer. Valerian bleibt davor stehen. Es ist ein ungeliebtes Ritual, das er jeden Abend durchführt, aber nicht ablegen kann. Er legt die Hand an die kalte Türklinke. Er berührt sie nur, drückt sie nicht hinunter.

 

Und in seinem Kopf beginnt es. Ungebeten. Unerbittlich. Bilder und Szenen bohren sich wie Splitter in sein Herz:

 

Elysia, wie sie lachend im Bett liegt, die Decke bis zur Nase hochgezogen, weil er sie mit kalten Händen erschreckt hat. Ihr langer, warmer Blick, wenn sie morgens noch verschlafen zu ihm rüberrollt. Das Necken, das Kitzeln, der Streit und die Versöhnung – manchmal mit einem Lachen, manchmal mit einem Kuss.

 

Er hört ihr Lachen in seinem Kopf. Er riecht den Geruch ihres Shampoos. Er sieht sie vor sich, wie sie damals war. Wie sie mit ihm war. Seine Hand verkrampft sich um die Klinke, aber er öffnet die Tür nicht. Stattdessen atmet er tief durch, schließt die Augen und zwingt die Erinnerungen zurück in den Schatten. Dann löst er sich von der Tür. Schwer. Langsam. Fast widerwillig.

 

Er geht weiter zu seinem eigenen Schlafzimmer, das seit Monaten eisig und leblos wirkt. Er setzt sich auf die Bettkante, stützt die Ellenbogen auf die Knie und gräbt seine Finger in das kühle Bettlaken. Viel zu viele Gedanken schwirren in seinem Kopf, aber einer wird immer deutlicher, schärfer, lauter.

 

Er nimmt erneut sein Handy in die Hand. Das Display aktiviert sich sofort, und das letzte Bild ist noch immer die eingefrorene Szene aus dem Video. Er drückt auf Pause, zoomt, betrachtet das Gesicht des Mannes.

 

Und plötzlich...

 

Fällt es ihm wie Schuppen von den Augen. Sein Atem stockt. Die Pupillen verengen sich.

 

„Nein…“, flüstert er tonlos. „Das kann nicht…“

 

Doch er weiß, dass es stimmt. Der Mann im Video. Dieser Fremde, der Elysia in den Armen hält, der sie küsst, als gehöre sie ihm – Valerian hat ihn schon einmal gesehen. Damals. In der Stadt.

 

Es war in dem Moment, als er Elysia gesucht hat, verzweifelt, halb außer sich vor Wut. Als er um die Ecke kam und sah, wie sie mit einem Mann sprach – einem Fremden. Einem, der sie kurz darauf mitgenommen hat, fortgeführt hat, weg von ihm.

 

Damals war es nur ein flüchtiger Eindruck gewesen, ein Schatten im Chaos seines Kopfes. Aber jetzt – jetzt ist der Schatten ein Gesicht. Und das Gesicht ist eindeutig.

 

„Du…“, zischt Valerian, seine Stimme voll kaltem, brodelndem Hass. „Du warst das.“

 

Sein Herz schlägt schneller. Wut flammt so heftig auf, dass ihm heiß wird, obwohl der Raum kalt ist. Der Mann, der damals Elysia weggeholt hat. Der Mann, der sich eingemischt hat. Der Mann, der jetzt in ihren Armen ist.

 

„Du…“

 

Das Handy in seiner Hand bebt fast. Er lehnt den Kopf nach hinten, atmet tief und unruhig durch. Die Erkenntnis trifft ihn wie ein Schlag, der alles verändert.

 

Jetzt sieht er es klar. Jetzt weiß er es:

 

Dieser Mann ist nicht fremd. Er war schon einmal Teil dieser Geschichte. Und in Valerians verzerrtem Weltbild bedeutet das nur eines:

 

Es ist kein Zufall. Es war nie ein Zufall.

 

Jemand hat ihm Elysia „weggenommen“. Damals. Und jetzt wieder.

Seine Finger ballen sich zur Faust.

 

„Ich werde herausfinden, wer du bist“, flüstert er. „Und was du mit ihr willst.“

 

Der Schnee draußen fällt weiter. Leise. Doch in Valerians Herz beginnt ein Sturm, der nicht leise sein wird. Nicht für ihn. Und nicht für jeden, der ihm im Weg steht.