Lyra &  Fenris - Moonbound Kapitel 1 

Die Ankunft in Rosevil


Fenris dreht den Kopf, nur ein winziger Ruck, und sein Blick trifft Lyras im Halbdunkel. Er muss nichts sagen. Die unausgesprochene Wahrheit liegt wie ein schwerer, samtenener Mantel zwischen ihnen:

Sie haben das toxische Verderben des Dorfes aufgesogen. Es hat ihre Haut verbrannt, aber es hat ihre Liebe nicht angegriffen. Im Gegenteil, es hat sie in ein unzerbrechliches, makabres Bündnis geschmiedet. Die Ablehnung des Dorfes ist nun ihre erste Freiheit.


Prolog 

 

Dornenkreuz schläft. Doch es ist kein Schlaf der Unschuld. Es ist das bleierne, schwere Koma eines Dorfes, dessen Herz unter einer Schuld begraben liegt, die selbst der dünnste, sichelförmige Mond, wie eine Klinge am Himmel, nicht zu durchschneiden vermag. Der Oktoberwind, frisch aus der ewigen Krypta des Waldes, trägt das ferne, unerbittliche Surren der Hochspannungsleitungen. Es ist das unheilvolle Echo der modernen Zeit - ein stählernes Raunen, das Lyra und Fenris bis in das Mark ihrer verstoßenen Seelen fährt.

 

Lyra, ein Schatten in ihrem eigenen Recht, zieht den Kragen ihres nachtschwarzen Wollmantels höher. Das feine Tuch fühlt sich an wie ein Leichentuch und doch wie eine zweite Haut. Ihre Hände zittern, es ist die Mischung aus Kälte und der gefährlichen, süßen Erregung der Flucht. Aber ihre Augen - diese dunklen, von einem unstillbaren Hunger gezeichneten Spiegel - sind unerbittlich auf Fenris fixiert.

 

Er sitzt am Steuer, der Motor des alten, mattschwarzen VW Käfers - des "Schattenläufers", wie sie ihn nennen – ist noch still, aber seine Präsenz ist ein elektrischer Schlag in der Dunkelheit. Auf Fenris’ breiten, steinernen Schultern lastet nicht nur das geringe Gewicht der Habseligkeiten, die sie in den Kofferraum geworfen haben. Es ist die dumpfe, unerbittliche Verurteilung der Dorfbewohner. Sie wissen. Das Dorf fühlt. Es spürt ihre Andersartigkeit, ihre leidenschaftliche, schwarze Hingabe an das Makabre, ihre unkonventionelle, alles verzehrende Liebe, die so tief ist wie ein frisches Grab.

 

„Wir müssen jetzt gehen“, flüstert Lyra, ihre Stimme ist kaum mehr als ein Hauch. Der Atem bildet vor ihren Lippen weiße, flüchtige Nebelschwaden im kalten Licht der einzigen, gusseisernen Straßenlaterne – der letzten Zeugin ihres Verrats.

 

Fenris nickt, eine knappe, endgültige Bewegung. Seine Augen sind so tief und dunkel wie die Schatten, die unter den Vordächern alter, gottesfürchtiger Häuser kriechen. „Sie werden uns verfluchen, Lyra. Mit jedem Gebet, mit jedem Like auf ihrer letzten Nachricht, die wir zurücklassen.“ Er beugt sich vor, seine Berührung auf der Beifahrertür ist hart, ein Versprechen von Härte und gleichzeitig die ultimative, blutrote Garantie ihres Schutzes.

 

Der Motor des Käfers springt an, kein leichtes Wimmern, sondern ein tiefes, rebellisches Grollen, das die Stille Dornenkreuz' zerreißt.

 

Die kleinen, ordentlichen Häuser gleiten vorbei, und hinter jeder geschlossenen Jalousie, die wie ein zugekniffenes Augenlid wirkt, spürt Lyra den stummen Abscheu. Sie wirft einen letzten Blick zurück auf die Kirche, deren schlanker, starrer Turm, beleuchtet von einem schwachen Spotscheinwerfer, wie ein Ankläger aus Stein in den Nachthimmel ragt.

 

„Hier gibt es keinen Platz für uns“, sagt sie, weniger zu Fenris als zu der unerbittlichen Nacht, die sie verschluckt. „Wir suchen keinen Gott. Wir suchen ein Grab - einen Ort, der unsere Schatten und unser Verlangen akzeptiert.“

 

Fenris legt einen Arm um ihre Schultern, nicht zärtlich, sondern besitzergreifend. Der Stoff seines Mantels riecht nach altem Leder, Benzin und dem metallischen Geruch von Gefahr. Er lenkt den Käfer auf die Landstraße, die sie aus der Enge in die unbekannte, dunkle Weite führen wird - in das Verderben oder die ultimative Freiheit von Rosevil.

 

Die Dunkelheit schließt sich hinter ihnen, dick wie Samt, süß wie Gift.

 

Sie wissen, sie sind die letzten Kinder der Nacht, die dieses Dorf je hervorbringen wird. Und als das Auto die Ortsgrenze von Dornenkreuz überschreitet, ist es nicht nur die Kälte des Oktobers, die Lyra spürt, sondern auch die süße, wilde Verheißung eines neuen Lebens. Ein Leben, das im Dunkeln blüht, und eine Liebe, die stark genug ist, um jeden Fluch zu brechen.


Der alte VW Käfer frisst die Landstraße. Es ist eine schwarze, sich windende Vene, die Dornenkreuz ausspeit und sie in das Unbekannte saugt. Nur das knisternde Rauschen der Reifen auf dem rauen Asphalt und das unregelmäßige Grollen des Motors füllen die stickige Enge des Wagens. Die Nacht ist ihr Versteck, und die Stille ist ihre erste Komplizin.

 

Sie fahren schweigend. Es ist keine angespannte Stille, sondern eine tiefe, fast religiöse Kommunion. Lyra lehnt ihren Kopf gegen das kühle Fensterglas, die Geschwindigkeit verzerrt die Schatten der Bäume zu tanzenden Ghulen. Sie blickt nicht zurück, aber die Stadt, die sie hinter sich lassen, ist in die Innenseite ihrer Augenlider gebrannt.

 

Sie sieht Dornenkreuz: eine Ansammlung von Seelen, deren Blicke so hart waren wie gefrorene Erde. Sie waren dort ein Irrtum, eine Anomalie im strengen, grauen Muster. Lyra erinnert sich an die Art, wie die Frauen ihre Röcke fester an sich zogen, wenn sie vorbeiging, und die Männer ihre Köpfe senkten, um den Blick ihres ungeschminkten, provokanten Verlangens nicht kreuzen zu müssen.

 

Unwillkommen. Das Wort war so allgegenwärtig gewesen wie die stechenden Dornen auf den Rosenstöcken im Pfarrgarten. Lyra schließt die Augen, und das Echo einer Verurteilung hallt in ihren Ohren nach: Das Tuscheln, das Flüstern über ihre schwarzen Kleider, ihre ungewöhnliche Kunst, die makabre Schönheit, die sie umgab. Das Dorf hatte ihre Liebe als eine Pest betrachtet, als eine Blasphemie gegen das Licht, das sie so eifrig verehrten. Sie waren ein sündiges, fleischliches Gebet in einem Ort voller nüchterner Litaneien.

 

Fenris hält das Steuer fest, seine Knöchel sind weiß unter der Patina seines Ledermantels. Er fährt, aber seine Gedanken fahren zurück. Er lässt die verlassene Stadt Schicht für Schicht Revue passieren. Er erinnert sich an die unerträgliche Last, als er mit Lyra durch die Hauptstraße ging: das spürbare Gewicht jedes urteilenden Blicks.

 

Er hatte versucht, sich einzufügen. Für sie. Er hatte die Stille der Wälder gegen die laute, enge Gesellschaft getauscht, nur um festzustellen, dass sie ihn nicht wollten. Sie hassten seine Kraft, seine dunkle, ungestüme Energie. Sie beurteilten die Art, wie er Lyra ansah - mit einem Besitzanspruch, der tiefer war als jede Ehe. Es war eine Besessenheit, die die Dorfbewohner als unchristlich und gefährlich empfanden. Fenris weiß, dass sie ihn nie als Mensch gesehen haben, sondern als einen Wolf in Männergestalt, der die Reinheit der Stadt befleckt.

 

Fenris dreht den Kopf, nur ein winziger Ruck, und sein Blick trifft Lyras im Halbdunkel. Er muss nichts sagen. Die unausgesprochene Wahrheit liegt wie ein schwerer, samtenener Mantel zwischen ihnen:

Sie haben das toxische Verderben des Dorfes aufgesogen. Es hat ihre Haut verbrannt, aber es hat ihre Liebe nicht angegriffen. Im Gegenteil, es hat sie in ein unzerbrechliches, makabres Bündnis geschmiedet. Die Ablehnung des Dorfes ist nun ihre erste Freiheit.

 

Fenris nimmt seine rechte Hand vom Lenkrad und legt sie auf Lyras Knie. Es ist keine sanfte Geste, sondern ein fester, beschwörender Griff. Er muss spüren, dass sie real ist, dass sie hier ist, im Käfer, auf dem Weg zu Rosevil - dem Ort, der vielleicht noch düsterer, noch abgründiger ist, aber der sie vielleicht nicht verurteilen wird, weil dort niemand mehr die Mühe hat, das Licht zu suchen.

 

„Sie haben uns die Luft genommen“, sagt Fenris, seine Stimme rau wie Schleifpapier. „Jetzt atmen wir die Nacht.“

 

Lyra bedeckt seine Hand mit ihrer. Ihre Haut ist kalt, aber unter der Oberfläche brodelt die ungeduldige Hitze ihres Verlangens. „Wir haben ihnen unsere Verachtung geschenkt“, flüstert sie. „Das ist genug Rache für jetzt.“

 

Die Dunkelheit schließt sich fester um den Käfer, während sie die letzten Funken des Hasses hinter sich lassen.

 

Der Käfer gleitet weiter durch die oktoberdunkle Landschaft. Die Wälder am Straßenrand stehen wie eine Armee stummer, drohender Zeugen. Der Griff von Fenris’ Hand auf Lyras Knie bleibt fest, eine konstante, zentrierende Kraft, die sie in die Gegenwart zieht, selbst als ihre Gedanken in die Abgründe der Vergangenheit abschweifen.

 

Die Stille ist nun nicht mehr nur eine Komplizin, sondern eine Leinwand, auf die jeder seine eigenen Schatten projiziert.

 

Lyra starrt auf die sich ständig ändernde Landschaft - die Schatten und das Licht der Scheinwerfer, die hastig über die Bäume huschen. Sie denkt an die letzten Wochen: die Art, wie Fenris ihre Wut mit seiner Ruhe aufgefangen hatte, die illegalen, heimlichen Treffen in dem alten, verlassenen Beinhaus außerhalb von Dornenkreuz, wo ihr ungezügeltes Verlangen endlich einen Raum gefunden hatte, der ebenso morbide und schön war wie sie selbst.

 

Sie erinnert sich an die Kälte der Marmorplatten unter ihrem Rücken und die Hitze seiner Haut, die gegen ihre gedrückt war. Diese Erinnerungen sind keine Reue, sondern eine feierliche Bestätigung: Sie mussten fliehen, weil ihre Liebe zu groß, zu dunkel und zu mächtig für die engen Seelen dieses Dorfes war. Sie waren nicht nur Liebende, sie waren Komplizen in einer Sünde, die das ganze Dorf anklagen wollte.

 

Fenris konzentriert sich auf die Straße, seine Augen sind wachsam. Er spürt Lyras gedankliche Abwesenheit, die Art, wie ihr Körper unter seiner Hand leicht vibriert, obwohl sie still ist. Er weiß, dass sie die Wunden Dornenkreuz' leckt. Er lässt sie gewähren. Sie waren einander in Dornenkreuz nie wirklich fern, doch jetzt sind sie auf einer Weise verschmolzen, wie es die physische Welt kaum zulässt.

 

Seine Gedanken sind einfacher, brutaler: Er erinnert sich an die Wut, die in ihm aufstieg, als ein alter Mann Lyra auf der Straße beleidigte. Er hatte seine Faust geballt, das Verlangen, diesen Mann zu brechen, war fast unerträglich gewesen. Er floh nicht aus Angst, sondern um ihretwillen. Rosevil ist die Chance, einen Ort zu finden, an dem seine dunkle Natur und Lyras makabre Sehnsucht nicht nur toleriert, sondern vielleicht sogar gefeiert werden.

 

Die Landstraße zieht sich wie ein schwarzes Band in die Unendlichkeit. Das Surren des Käfers ist das einzige konstante Geräusch, das sie erdet.

 

Nach einer langen, in Gedanken versunkenen Spanne, in der die Zeit ihre eigene, verzerrte Geschwindigkeit annimmt, durchbricht Fenris die Stille. Seine Stimme ist tief und sonor, die erste feste Note in der kakofonischen Melodie ihrer Flucht.

 

„Halt durch, meine Lyra“, sagt Fenris. Er drückt sanft ihre Hand. „Noch eine Stunde. Dann sind wir dort. In Rosevil.“

 

Lyras Kopf fährt herum, ihre Augen, die dunkle Tiefe gespiegelt von den Scheinwerfern, fixieren sein Profil. Die kurze, knappe Dauer - eine einzige Stunde - ist plötzlich das gesamte Gewicht ihrer Zukunft. Es ist keine lange Zeit, aber sie ist gefüllt mit der Erwartung des Neuen und dem Verlöschen des Alten.

 

„Eine Stunde“, wiederholt Lyra, ihre Stimme ist nun fester, gelöst von den Fesseln Dornenkreuz'. Es ist eine Bestätigung, keine Frage. „Und dann gehören wir ganz der Nacht.“

 

Die Stunde verrinnt im unerbittlichen Rhythmus des Käfers, doch die Dunkelheit, in die sie fahren, wird nicht heller, sondern dichter.

 

Rosevil empfängt sie nicht mit offenen Armen, sondern mit dem Tuch des Vergessens. Die Stadt liegt eingekesselt zwischen steilen, nebelverhangenen Hügeln, deren Silhouetten am Himmel drohen wie gefaltete Hände im Gebet zu einem alten, vergessenen Gott. Seit Stunden steuert Fenris den Käfer durch eine Landschaft, die zunehmend von zerfallenden Steinkirchen und von Efeu erwürgten Herrenhäusern dominiert wird - Denkmäler des Todes und des Verfalls, die ihre Ankunft zu bejubeln scheinen.

 

Als sie die Ortstafel passieren – ROSEVIL. Bevölkerungszahl: Unbekannt – wirkt es, als hätte die Stadt selbst entschieden, ihre Ankunft nicht zu bemerken. Die Straße verengt sich augenblicklich. Das Kopfsteinpflaster ist von dickem, grünlichem Moos überzogen, das die Schritte der Zeit schluckt. Das elektrische Licht der vereinzelten Straßenlaternen kämpft vergeblich gegen die permanente Dämmerung an, die über den Dächern liegt, eine atmosphärische Bedingung, die Dunkelheit verspricht, selbst wenn der Tag anbricht.

 

Lyra atmet tief ein und hält den Atem an. Die Luft hier riecht nicht nach sauberer Landluft, sondern nach Modder, kaltem Sandstein und dem kühlen Parfum des Verfalls. Es ist ein Duft, der ihr vertraut ist, der Geruch von Erde und alten Geheimnissen.

 

„Wir sind da“, murmelt Fenris, sein Griff um das Lenkrad entspannt sich das erste Mal seit ihrer Flucht. Die Spannung weicht einer tiefen, animalischen Zufriedenheit. Ein dünnes, fast geisterhaftes Lächeln huscht über seine Lippen und erleuchtet seine dunklen Augen für einen flüchtigen Moment. „Ein Ort, der uns nicht fortschicken will.“

 

Sie biegen in eine noch engere, von hohen Steinmauern gesäumte Gasse ein. Ihr Ziel taucht auf: ein kleines, aber trotzig stehendes viktorianisches Haus, das sie online gemietet haben, in unmittelbarer Nähe des alten, wuchernden Friedhofs. Es ist schief, vernachlässigt, und in seinem perfekten Verfall unwiderstehlich. Der Zaun vor dem Haus ist zerbrochen, die Fensterscheiben im ersten Stock sind blind, als hätte das Haus schon vor Jahrzehnten beschlossen, die Außenwelt nicht mehr zu betrachten. Es ist ein Zufluchtsort für Schatten.

 

Fenris parkt den Wagen direkt vor dem rostigen Eisentor. Er schaltet den Motor ab. Das rebellische Grollen des Käfers verstummt.

 

Die Stille Rosevils schließt sich über sie. Es ist keine beruhigende Stille; es ist eine erwartungsvolle Stille. Eine Stille, die darauf wartet, von ihren dunklen Taten gefüllt zu werden. Lyra spürt Fenris’ intensive Blicke auf sich.

 

„Rosevil hat uns akzeptiert“, flüstert Lyra, und in ihren Augen leuchtet die wilde, ungeduldige Verheißung ihres neuen Lebens. „Jetzt können wir beginnen.“

 

Sie steigt aus dem Käfer. Die Steine unter den Absätzen ihrer Stiefel knirschen, ein Geräusch, das in der umgebenden, erwartungsvollen Stille ungebührlich laut erscheint, fast wie ein zerbrochenes Versprechen. Fenris folgt ihr, seine Bewegung ist geschmeidig und lautlos.

 

Sie gehen in das Haus. Das Innere ist erfüllt von staubiger Kälte und dem penetranten Geruch von Generationen, die in diesen Mauern geatmet und gestorben sind. Der Dielenboden knarrt unter ihren Füßen, ein klagendes, singendes Geräusch, das die Stille nur tiefer erscheinen lässt. Die Wände sind nackt, die Tapeten blättern in feinen, toten Mustern, aber Lyra sieht bereits die Schatten, die sie mit ihren wenigen Möbeln und ihrem dunklen Geschmack füllen werden. Hier gibt es keine neugierigen Nachbarn, keine Richter mit Kreuzen in der Hand. Hier gibt es nur Ruhe und die unendliche, verführerische Verheißung der Einsamkeit.

 

Fenris lässt die letzte Kiste mit einem dumpfen Ton auf den Holzboden gleiten. Das Geräusch ist das endgültige Zerschneiden der Nabelschnur zu Dornenkreuz. Er wendet sich Lyra zu.

 

Sie stehen in der staubigen Halle des neuen Hauses, und für einen Moment halten sie inne, um sich gegenseitig zu betrachten - als müssten sie sich nach der langen Fahrt neu kalibrieren, sich erneut im Blick des anderen verankern. Sie sind jung, doch ihre Augen erzählen von der Härte eines gemeinsamen Lebens, das sie dem Urteil der Welt entrissen haben, ein Leben, das sie mit Zähnen und Krallen verteidigt haben.

 

Lyra ist eine leuchtende Antithese zur Umgebung. Ihr platinblondes Haar fällt in weichen, fließenden Wellen über die Schultern, ein heller Akzent gegen das tiefe Schwarz ihres langen Mantels. Das Korsett betont ihre Silhouette, eine Rüstung aus Leder und Strenge; sie trägt die Uniform der Dunkelheit nicht als Verkleidung, sondern als Haut. Ihre dunkel umrandeten Augen sind wach, gefüllt mit einer spitzbübischen, aber tiefen Leidenschaft, die nach Fenris verlangt. Sie ist die unerschrockene, züngelnde Flamme, die Fenris’ Schatten erst richtig definiert.

 

Fenris hingegen ist die Architektur der Nacht. Groß, mit der ruhigen, unaufdringlichen Kraft eines Mannes, der es gewohnt ist, die Kontrolle zu bewahren, auch über die eigene rohe Gewalt. Sein dunkler, streng geschnittener Mantel verbirgt seine athletische Statur kaum, und sein kurzes, dunkles Haar und der sorgfältig getrimmte Bart unterstreichen die Schärfe seiner maskulinen Züge. Er trägt keine unnötigen Symbole. Wenn Lyra die Kunst ist, ist Fenris die Leinwand, der Fels, auf dem diese dunkle Kathedrale gebaut wurde. Seine tiefgrünen Augen sind intensiv, fast fordernd; sie blicken nicht nur, sie scannen die Umgebung nach Gefahren ab. In diesem Moment fixieren sie jedoch Lyras Gesicht, die einzige Welt, der er wirklich vertraut, die einzige Bedrohung, die er willkommen heißt.

 

Sie sind ein Gleichgewicht: die Helle, ungestüme Leidenschaft der Göttin der Nacht Lyra, und die ruhige, unbewegliche Dominanz des Ankers Fenris. Ihre Präsenz in Rosevil, in diesem staubigen, sterbenden Haus, ist wie ein Blitz in einem Grab, ein Zeichen, dass etwas Gewalttätiges, Schönes und Unwiderrufliches begonnen hat.

 

Lyra lächelt ihn an – ein Lächeln, das ebenso gefährlich wie schön ist, ein Ausdruck unzügelbarer Macht, die sie nun endlich frei entfalten kann. „Wir fangen an zu leben“, sagt sie, und die Worte sind ein tiefes, sündhaftes Gelöbnis an diesen Ort.

 

Fenris nickt. Er ist hungrig - nicht nur nach Nahrung, sondern nach der dunklen Zuneigung, der Absolution, die sie sich in Dornenkreuz verbieten mussten. Seine Augen brennen mit einem intensiven, besitzergreifenden Licht, das nur Lyra entfachen kann. „Unser Hafen der Schatten.“

 

Sie beginnen, ihre neue Ewigkeit in Rosevil aufzubauen, ein stilles, tiefes Glück, das nur durch die gemeinsame Verachtung der Welt erreicht wurde und nun von den Ruinen der Stadt umgeben ist. Doch das Wissen um den uralten Wald, der im Rücken der Stadt lauert, ist immer präsent - eine grüne, lauernde Gefahr, ein ungeschriebenes Versprechen des Archaïschen, das nur darauf wartet, von ihnen eingelöst zu werden.

 

Die Kälte des Hauses knabbert an Lyras Wangen, eine willkommene Schärfe, die ihre Sinne weckt, doch sie spürt sie kaum. Fenris drückt ihr den schweren Schlüsselbund in die Hand. Ein ehrliches, altes Metall, das kaum in ihre Manteltasche passt - der Schlüssel zu ihrem neuen Königreich der Dunkelheit.

 

Sie gehen zurück zum Käfer, dessen dunkle Lackierung das schmutzige Licht der Straße schluckt. Die Geräusche ihrer Bewegungen sind die einzigen, die sich gegen die bleierne, drückende Stille von Rosevil erheben. Sie hieven ihre wenigen Kisten - gefüllt mit den Ritualien ihres Lebens: Büchern über dunkle Mythen,  Kleidungsstücken in tiefen Farbtönen und Fenris’ Zeichenmaterial – aus dem Kofferraum und tragen sie ins Haus. Das Knarren der Dielen wird schnell zu einer vertrauten, willkommenen Melodie, dem Pulsschlag ihres neuen Zufluchtsortes.

 

Nachdem die notwendigsten Dinge in der Diele abgestellt sind, stehen sie zwischen den Umzugskartons, die so wirken, als wären sie bereits Teil der alten, staubigen Einrichtung geworden. Sie sind Fremde, die nach Hause gekommen sind.

 

Fenris blickt Lyra an, sein Atem geht nun schneller, die lange Fahrt und die Aufregung weichen einem drängenden, unvermeidlichen Bedürfnis. Das Licht der fernen Laterne fällt durch das Fenster und beleuchtet die feine Textur ihrer Haut, die wie Marmor wirkt.

 

Er macht einen Schritt auf sie zu. „Kisten warten“, murmelt er, doch seine Stimme ist bereits von einem tieferen Versprechen belegt.

 

Lyra lächelt ihn herausfordernd an und lässt ihren Mantel zu Boden gleiten, wo er sich wie ein schwarzer Fleck auf den Dielen ausbreitet. „Rosevil hat Zeit“, entgegnet sie. „Ich nicht.“

 

Lyras Blick ist eine Herausforderung, eine Einladung, die Fenris mit animalischer Geschwindigkeit annimmt. Das Warten, die Flucht, die monatelange, erzwungene Distanz in Dornenkreuz - all das bricht nun in einem einzigen, verzweifelten Moment über sie herein. Die leeren Wände, der Staub und die Kälte sind plötzlich nebensächlich. Das Hier und Jetzt, das nur ihre Körper füllt, ist alles, was zählt.

 

„Ich habe gewartet“, knurrt Fenris, seine Stimme ist tief und rau, vibrierend von der unterdrückten Dominanz. Er macht den letzten Schritt und packt ihre Hüften, seine Hände sind hart und fest, ziehen sie aus der Balance und pressen sie gegen seine eigene Länge. Es ist keine zärtliche Begrüßung; es ist eine Wiedereinnahme, eine Besitzergreifung.

 

Lyra keucht auf, ihre Hände verschränken sich um seinen Nacken, die Kälte des Hauses wird durch die sofortige Explosion von Hitze zwischen ihnen verdrängt. Ihr platinblondes Haar wischt über seine Wange. „Die Kälte hat mich verzehrt“, flüstert sie, ihre Lippen sind nur Zentimeter von seinen entfernt. „Füll mich mit deinem Feuer, Anker.“

 

Fenris’ tiefe, grüne Augen fixieren ihre. Er ignoriert die Schnallen ihres Korsetts, die Kleider, die Hindernisse. Sein Mund findet ihren mit der Härte eines Mannes, der ein Gelübde erneuert, nicht nur einen Kuss tauscht. Es ist eine hungrige, fordernde Bewegung, ein tiefes, feuchtes Verschmelzen, das die gesamte Verzweiflung der Flucht in sich aufsaugt und in pure, unerbittliche Lust umwandelt.

 

Seine Hände wandern ihren Rücken hinauf, finden den Stoff des Korsetts und ziehen an der Schnürung, die ein kleines, befriedigendes Geräusch in der Stille erzeugt. Lyra drückt sich gegen ihn, ihre Knie geben leicht nach, der Wunsch, ihn in sich zu spüren, ist überwältigend.

 

Sie löst sich nur, um seinen Mantel von seinen breiten Schultern zu reißen. Das schwere Leder fällt auf die Kartons, ein gedämpfter Aufprall. Darunter trägt er nur ein einfaches, schwarzes Hemd, das sie mit einer hastigen Bewegung aufreißt. Die Stofffetzen geben den Blick frei auf die feste, dunkle Haut seiner Brust, die von der Anstrengung der Fahrt feucht glänzt. Lyra senkt den Kopf und presst ihren Mund auf seine Haut, ein feuchter Kuss, der in einen zarten Biss übergeht.

 

„Du bist hier“, flüstert Fenris, seine Hände sind nun unter ihr Korsett gerutscht, finden die glatte, warme Haut ihrer Taille, drücken sie fester an seine Hüfte. „Du bist mein.“

 

Das kalte, staubige Haus wird zum Altar ihrer schwarzen Vermählung. Die einzigen Zeugen sind die Schatten und die alten Balken, die unter ihrem Gewicht knarren, als Fenris sie hochhebt, ohne den Kuss zu unterbrechen. Lyra schlingt ihre langen Beine um seine Taille.

 

Er trägt sie durch die Diele, vorbei an den stummen, braunen Kisten, in den ersten Raum, den sie sehen - vielleicht das Wohnzimmer, vielleicht nur ein weiterer vergessener Schrein. Er stößt die Tür mit dem Fuß auf und drückt sie gegen die nächste freie Wand, das Gefühl des alten, rauen Putzes gegen ihre Haut ist ein scharfer, aufregender Kontrast.

 

Die Luft im Raum ist dick, beinahe greifbar, erfüllt von den hastigen Atemzügen und dem tiefen, animalischen Knurren Fenris'. Ihre Körper sind eine einzige, ekstatische Skulptur aus Licht und Schatten an der staubigen Wand. Lyras Korsett hängt lose, ihre Brüste sind prall und gereizt, ihre Wangen gerötet von der Intensität des Augenblicks.

 

Fenris bewegt sich mit einer dominanten, unerbittlichen Kraft, die keine Zweifel an der Tiefe seiner Sehnsucht lässt. Jeder Stoß ist ein Versprechen, jede Berührung ist ein Anspruch. Er hält Lyras Blick, zwingt sie, die rohe, ungeschminkte Macht der Hingabe zu sehen, die zwischen ihnen explodiert.

 

Lyra hat ihren Kopf in den Nacken gelegt, ihre Augen sind zu schmalen Schlitzen verengt. Sie schlägt ihre Hände auf Fenris’ Rücken, die Nägel ritzen sanft über die Muskeln, fordern mehr, immer mehr von dem Gefühl, das sie wie eine Welle davonträgt. Sie will nicht die Kontrolle verlieren; sie will sie ihm ganz überlassen, sich in seiner Dominanz verlieren.

 

„Fenris“, presst sie hervor, sein Name ist ein heißes, flehendes Gebet. Es ist das einzige Wort, das in diesem Moment von Bedeutung ist, das Ankerwort, das ihre gemeinsame Realität besiegelt.

 

Fenris stöhnt tief, das Geräusch kommt aus seiner Brust, ein archaischer Klang, der in den alten Mauern Rosevils widerhallt. Er spürt, wie die Kontrolle, die er so lange gewahrt hat, zu bröckeln beginnt. Die Dunkelheit, die sie aus Dornenkreuz vertrieben hat, ist nun hier, in ihm, und sie verlangt ihre volle Erfüllung. Er drückt sie fester gegen die Wand, seine Lippen finden ihren Hals, sein Atem ist heiß und feucht auf ihrer Haut.

 

„Fühl es“, befiehlt er, seine Stimme ist kaum wiederzuerkennen, rau und gebrochen von der Notwendigkeit. „Fühl, wie wir eins werden, Lyra. Hier, in unserem Exil.“

 

Die Spannung zieht sich in einem einzigen, schneidenden Faden zusammen. Die Welt schrumpft auf den Raum ihrer verbundenen Körper, auf den Geschmack von Staub und die Hitze ihrer Haut. Lyra spürt, wie der Schmerz und die Verzweiflung der Flucht von einer elektrisierenden, süßen Welle der Erfüllung weggespült werden.

 

Gemeinsam stürzen sie. Lyras Rücken krümmt sich, ihr Schreien ist stumm in Fenris’ Schulter vergraben. Fenris’ Körper spannt sich in einem letzten, tiefen Stoß, sein Stöhnen wird zu einem Beben, das ihre verschlungenen Körper durchfährt.

 

Die Welle bricht.

 

Ein langgezogener, tiefer, gemeinsamer Atemzug füllt die Stille, die daraufhin folgt. Sie bleiben einen Moment lang so aneinandergepresst, beide schwer atmend, die kalte Wand des viktorianischen Hauses als Zeugin ihrer Vereinigung. Der Staub, der Geruch von Moder und die bleierne Stille Rosevils wirken nun nicht mehr bedrohlich, sondern wie eine feierliche Salbung ihres gemeinsamen, dunklen Lebens.

 

Sie haben das Haus geweiht. Sie sind angekommen.

 

Nach einem Moment, in dem nur ihre schweren Atemzüge die Stille brachen, setzt Fenris Lyra vorsichtig ab, ihre Füße finden Halt auf dem knarrenden Holzboden. Die intensive Hitze beginnt schnell abzuklingen und die staubige Kälte des Raumes kehrt zurück. Die Luft ist gesättigt mit dem Duft von Schweiß, Verlangen und dem alten Holz des Hauses.

 

Fenris, mit der angeborenen Beherrschung des Mannes, der stets bereit sein muss, verschließt seine Hose wieder. Seine Bewegungen sind schnell und effizient, doch in ihrer Strenge liegt eine weitere Form der Dominanz. Lyra sieht ihm dabei zu, ihre Lippen sind geschwollen und feucht, ihre Augen sind noch immer von der Ekstase leicht vernebelt.

 

Sie verlassen gemeinsam den improvisierten Altarraum und treten zurück in die Diele, die nun noch unordentlicher, aber auch vertrauter wirkt. Lyra beugt sich über einen der Umzugskartons, der mit der Aufschrift 'KLEIDUNG' gekennzeichnet ist, und fischt einen langen, weiten, schwarzen Kaschmirpullover heraus. Das weiche Material fühlt sich wie eine Decke der Dunkelheit an, als sie ihn über das Korsett zieht.

 

Kaum hat sie den Pullover angezogen, steht Fenris direkt hinter ihr. Seine Arme schlingen sich fest um ihre Taille, seine Hände überlappen sich auf ihrem Unterleib. Er lehnt seinen Kopf an ihren Nacken, das kurzes, dunkles Haar streift ihre Haut. Die Geste ist eine perfekte Mischung aus Schutz und Besitzanspruch.

 

„Das war die einzig wahre Begrüßung für Rosevil“, flüstert Fenris, seine Stimme ist nun sanfter, tiefer, nur für ihre Ohren bestimmt. „Vergiss niemals, dass dieser Ort uns gehört. Er ist die Hülle für das, was wir sind.“

 

Lyra seufzt, lehnt sich schwer gegen ihn, genießt die feste, ruhige Stärke seines Körpers, die ihren Anker darstellt.

 

„Zeig mir unser Gefängnis“, sagt Lyra, ihre Stimme ist wieder klarer, gefüllt mit der aufkeimenden Neugier einer Frau, die ihre neue, düstere Heimat erkunden will.

 

Sie beginnen ihre Erkundung. Das Haus ist ein Labyrinth des Verfalls und des vergessenen viktorianischen Prunks. Die Räume sind groß und leer. Der knarrende Boden unter ihren Stiefeln ist ihr Kompass. Die Wände sind nackt, die Decken hoch und von Spinnweben geziert, die in der Dunkelheit wie zarter, grauer Tüll wirken. Jeder Raum atmet eine Geschichte von Abwesenheit.

 

Im ersten Stock finden sie das Schlafzimmer. Es liegt zur Vorderseite des Hauses und hat ein einziges, hohes Fenster. Durch das milchige Glas blicken sie auf das rostige Eisentor und das dunkle Kopfsteinpflaster. Der Raum riecht am stärksten nach Feuchtigkeit und alter, morscher Seide.

 

„Hier“, sagt Fenris, und er lässt Lyra los, nur um ihre Hand zu nehmen und sie auf den nackten Holzboden in der Mitte des Raumes zu ziehen. „Hier schlafen wir. Und hier werden wir keine Albträume haben, Lyra, nur unsere Wahrheit.“

 

Sie stehen Hand in Hand im kältesten Raum des Hauses, doch ihre gemeinsame Hitze reicht aus, um das Gefühl der Heimat zu schaffen.

 

Sie stehen im kalten, leeren Schlafzimmer, das hohe Fenster ein bleiches Auge, das auf die unheimliche Dunkelheit Rosevils blickt. Lyra, umhüllt von Fenris’ Stärke, atmet den Duft von altem Sandstein und seiner Haut ein.

 

„Wir brauchen die Geschichte“, fährt Lyra fort, ihre Stimme klingt jetzt bestimmter, weniger wie eine Liebhaberin, mehr wie eine Architektin des Schicksals. „Wir sahen die Bilder im Internet - die Kathedrale, die Ruinen, diese gotische Schwere. Rosevil sah ehrlich aus. Es sah aus, als würde es unsere Farben verstehen.“

 

Fenris zieht sie fester an sich, sein Kinn ruht auf ihrem Scheitel. „Diese Stadt ist ein Versprechen, Lyra. Wir haben dieses Versprechen gewählt, weil es uns an die Mauern unserer Seele erinnert hat.“ Die Mauern seiner Seele sind hoch und fest, gebaut aus der Ablehnung der Welt, und Lyra ist das einzige Wesen, das ihre Tore durchschreiten darf.

 

„Wie wird es sein?“, fragt Lyra zieht ihre Arme fester  um ihn, sodass ihre Brust gegen seine gepresst wird. Es ist eine Frage über die Zukunft, die bereits die Lust an der Gestaltung enthält. „Wirst du wieder zeichnen? Ich könnte… ich könnte die alten Kleider reparieren, die wir auf dem Dachboden versteckt hatten.“

 

Fenris streicht ihr mit dem Daumen sanft über die Wange, eine Geste von seltener Zärtlichkeit, die nur ihr gehört. „Ich werde die Fassaden zeichnen, Lyra. Die Wut in den Steinmetzarbeiten, die Trauer der Gesimse. Und wir werden uns in den Katakomben verlieren. Wir werden das Leben führen, das uns Dornenkreuz verwehrt hat: ehrlich und dunkel. Hier sind wir nur Lyra und Fenris. Keine Zielscheiben.“

 

Lyra nickt, ihre dunkel umrandeten Augen strahlen im fahlen Licht. Das Gefühl der Sicherheit, das er ihr gibt, ist ebenso erotisch wie seine Berührung. „Ich möchte in den Wald gehen, Fenris. Sobald es hell ist. Er sah auf den Luftaufnahmen so unberührt aus.“ Sie spricht vom Wald, als wäre er bereits ein alter Freund, ein Verbündeter gegen die Moderne.

 

Fenris zieht sie noch näher, die Hitze seines Körpers ist eine willkommene Zuflucht gegen die Kälte des Hauses und die Kälte der Welt. „Zuerst warten wir auf den Morgen. Und dann gehorchen wir dieser Stadt. Wir lassen uns von ihrem Geist führen.“ Er senkt den Kopf und haucht einen Kuss auf ihre Schläfe, der mehr ist als Zärtlichkeit - es ist ein Versprechen des Gehorsams gegenüber der Dunkelheit, die sie beide so lange gesucht haben.

 

Fenris löst sich langsam von Lyra. Die Intensität ihrer Verbindung ist immer noch spürbar, aber die Notwendigkeit praktischer Schritte dringt durch. Er blickt auf das Fenster, durch das die Nacht wie schwarzer Samt hereindrückt.

 

„Es ist Zeit“, sagt Fenris, seine Stimme ist tief und nun von einer müden, aber zufriedenen Endgültigkeit durchzogen. „Wir müssen uns ausruhen. Die Nacht von Rosevil ist lang, und wir sind nicht länger auf der Flucht.“

 

Hand in Hand verlassen sie das Schlafzimmer, das nun mit dem Geruch von Verlangen und alter Feuchtigkeit gesättigt ist. Sie gehen die breite, knarrende Treppe hinunter in die Diele, die von den Schatten der Umzugskartons beherrscht wird. In einer der Kisten finden sie einen schweren, dunkelblauen Samtvorhang - ein Relikt ihrer Vorliebe für opulente Dunkelheit. Lyra greift in einen anderen Karton und zieht ein Bündel Decken hervor, darunter eine dicke, dunkle Wolldecke.

 

Sie steigen die Treppe wieder hinauf. Die Dielen knarren unter ihren Füßen, eine vertraute Klage, die sie nun als ihren eigenen Hauston akzeptieren.

 

Im Schlafzimmer breiten sie die dickste Wolldecke, die sie besitzen, direkt auf dem kalten, knarrenden Dielenboden aus. Der Geruch von Staub und Moder steigt auf und beißt in der Nase, aber sie ignorieren ihn. Das improvisierte Lager ist roh, aber es ist ihr. Nachdem das Schlaflager provisorisch gestaltet ist, macht sich Fenris daran, den schweren, dunklen Samtvorhang am Fenster aufzuhängen.

 

Das Fenster ist alt, und Fenris, der normalerweise mit unfehlbarer, stiller Effizienz agiert, kämpft mit den verrosteten Halterungen. Die rohe Kraft, die er gerade noch im Liebesspiel gezeigt hat, ist nun beinahe ungeschickt angesichts der banalen Tücke alter Vorhangstangen. Er flucht leise, ein tiefes, gutturales Murren, das Lyra an ein gereiztes Raubtier erinnert.

 

Lyra sieht ihm amüsiert zu. Sie geht zurück zur Diele, holt eine schwarze Reisetasche hervor und stellt eine dicke, weiße Kerze auf den Boden neben dem Wolllager. Sie zündet den Docht an. Das flackernde Licht ist warm und weich und wirft tanzende, goldene Schatten, die die düstere Umgebung sofort gemütlich machen - auf eine ganz eigene, makabre Art. Sie mag es gemütlich, trotz ihrer dunklen Gedanken und ihres Verlangens nach dem Makabren; der Kontrast von Schönheit und Schatten ist ihre Ästhetik.

 

Fenris dreht sich um, der Vorhang hängt nun schief, aber er erfüllt seinen Zweck, indem er das letzte bisschen Außenwelt abschirmt.

 

„Deine Kerzen, deine Decken, deine Schönheit in der Dunkelheit“, murmelt Fenris, seine Augen fangen das Kerzenlicht ein. Er tritt in den Lichtkegel und sieht sie an.

 

„Es ist unser Haus“, antwortet Lyra. „Und diese Nacht gehört uns. Ganz allein.“

 

Sie schlüpfen unter die Wolldecken, der kalte, harte Boden unter ihnen ist die letzte Erinnerung an die Realität, die sie hinter sich gelassen haben.

 

Fenris lässt sich auf die dicke Wolldecke sinken. Das Knistern des Stoffes ist das einzige Geräusch, als er seinen Arm ausstreckt, eine stille, unmissverständliche Einladung, dass Lyra sich zu ihm legen soll.

 

Lyra legt sich sofort zu ihm. Der Holzboden ist hart, ein unbequemes Bett der Flucht, aber die unmittelbare Nähe zu Fenris, der sie sofort in seinen starken Arm zieht und die dicke Decke über sie zieht, macht es erträglich. Sie schmiegt sich an ihn, ihr Kopf ruht auf seiner Schulter, und sie spürt, wie die Anspannung des Fluchttages, die ihn den ganzen Weg von Dornenkreuz begleitet hat, langsam und endgültig von ihm abfällt. Seine Muskulatur entspannt sich, und sein Griff wird zu einer einfachen, festen Klammer.

 

„Wir sind sicher“, flüstert Lyra gegen seinen Hals, ihr Atem ist warm und feucht auf seiner Haut. Es ist ein Mantra, das sie beide glauben wollen, das sie in die dunklen Mauern des Hauses tätowieren wollen.

 

Fenris reagiert nicht mit Worten, sondern mit einer leichten Drehung seines Kopfes, einem Kuss auf ihren Scheitel, der alles sagt, was gesagt werden muss: Ja. Hier sind wir unantastbar.

 

In dieser ersten Nacht ist die Stille des alten Hauses so tief, dass sie fast hörbar ist - es ist die Stille, in der sie nur einander haben, ohne die Schreie der Verurteilung von Dornenkreuz, ohne das Surren der Hochspannungsleitungen.

 

Das Rauschen des Blutes in ihren Ohren, der ruhige, gleichmäßige Atem des anderen; das ist ihr gesamtes Universum. Abgeschirmt durch den schweren Samtvorhang und das Kerzenlicht sind Lyra und Fenris die einzigen lebendigen Wesen, die in Rosevil wirklich wichtig sind.

 

Die Flamme der Kerze tanzt einmal kurz auf, wirft einen letzten, langen Schatten über die Holzdielen und erlischt dann sanft, als hätte auch sie endlich ihren Frieden gefunden.


Der Morgen kommt nicht mit einem Schrei der Hoffnung oder einem Jubel des Lichts, sondern mit einem leisen, grauen Licht, das wie Wasser durch die Ränder des schief hängenden Samtvorhangs sickert. Es ist die Dämmerung in Rosevil, und sie fühlt sich an wie ein verlängertes Ende der Nacht.

 

Lyra erwacht mit einem leisen, fast unwillkürlichen Seufzen. Sie spürt jede einzelne Diele unter ihrem Rücken, die Härte des provisorischen Lagers ist ein unerbittlicher Beweis ihrer Ankunft. Die Wolldecke hält die Kälte zwar ab, aber nicht die Realität.

 

Als ihre Augen sich an das schummrige Licht gewöhnen, bemerkt sie, dass Fenris sie bereits beobachtet. Er liegt auf der Seite, seinen Kopf von der Hand gestützt, seine tiefgrünen Augen sind wachsam, als würde er die Umgebung auf Gefahren abtasten, die es in dieser frühen Stunde nicht geben sollte. Er ist sofort präsent, immer der Wächter.

 

Lyra ächzt leise, als sie versucht, ihren Körper aufzurichten. Die gestrige Nacht, die Flucht, die Härte des Bodens und die Intensität ihrer Vereinigung fordern ihren Tribut.

 

Fenris sieht ihr zu, wie sie sich mühsam in die Senkrechte ringt, und ein leichtes, geheimnisvolles Grinsen huscht über seine sonst so ernste Miene. Es ist ein Ausdruck, der ihre gemeinsame Verletzlichkeit anerkennt und gleichzeitig die tiefe Befriedigung über ihre geteilte Nacht verrät.

 

Er sagt nichts. Er lässt sie zu sich kommen, die Kälte des Hauses und die Schwere des Körpers akzeptieren. Seine Stille ist ein Geschenk, das ihr den Raum gibt, Rosevil in sich aufzunehmen. Er wartet darauf, dass sie ihre Seele wieder an die Oberfläche zieht. Die Geduld, die Fenris in diesem Augenblick zeigt, ist intimer als jede Berührung.

 

Lyra streckt ihren Arm aus, findet seine Hand auf der Decke und drückt sie fest, ein stilles Versprechen, dass sie bereit ist.

 

„Wir brauchen Kaffee“, sagt Lyra, ihre Stimme ist rau von Schlaf und der Trockenheit des alten Hauses. Sie richtet sich auf und reibt ihre Augen, die dunklen Ränder heben sich scharf vom blassen Teint ab. „Und etwas, das nicht aussieht, als wäre es seit hundert Jahren gestorben.“

 

Fenris’ Grinsen erlischt. Seine tiefgrünen Augen, die noch immer wachsam die Decke beobachten, wenden sich ihr zu. Seine Reaktion ist so schonungslos und direkt wie immer.

 

„Wir haben keinen Kaffee, Lyra“, sagt Fenris. Seine Stimme ist flach, ohne jegliches Bedauern. „Ich hatte keine Zeit, im Laden anzuhalten, und ich habe nicht daran gedacht, Kaffeepulver einzupacken. Nur Wasser und ein paar Riegel aus dem Notvorrat.“

 

Lyras Augen weiten sich ungläubig. Ein Moment lang herrscht eine Stille, die gefährlicher ist als der Knall eines Gewehrs. Kaffee war ein unabdingbares Ritual, eine dunkle, aromatische Droge, die ihre makabre Energie kanalisierte.

 

„Du… was?“, fragt Lyra, und die anfängliche Müdigkeit weicht einer scharfen, ungeduldigen Wut. „Fenris. Ich brauche meinen Kaffee am Morgen. Das weißt du. Das ist kein Luxus. Das ist die erste Anforderung an die Existenz nach einer Flucht.“

 

Sie starrt ihn an, die Herrin der Nacht, die nun feststellt, dass die Morgendämmerung ihre kleinen, menschlichen Bedürfnisse nicht respektiert. Die Wahrheit ist bitterer als jeder unbehandelte Espresso.

 

Fenris zuckt mit den Achseln, eine Bewegung, die Lyra nur noch mehr reizt. „Die Härte des Exils beginnt früh, meine Liebe. Du musst damit leben, bis wir die Stadt erkundet haben.“

 

„Das ist Folter“, murrt Lyra, und sie schlägt sich theatralisch auf die Stirn. Die Ankunft in ihrem gotischen Paradies wurde durch eine graue, koffeinfreie Realität entzaubert. „Rosevil muss einen Laden haben. Oder eine Leiche, die eine Kaffeemaschine besitzt.“

 

Lyras verzweifelter Aufruf nach einer Kaffeemaschine bricht die Anspannung, und Fenris kann ein tiefes, kehliges Lachen nicht unterdrücken. Der Klang ist warm und ehrlich, eine seltene musikalische Note in der bleiernen Stille. Er zieht sie fester in seine Arme, seine Bewegung ist schnell und endgültig. Er hält sie fest, nicht mit grober Gewalt, sondern mit der unbestreitbaren Festigkeit eines Mannes, der weiß, dass diese Wut nur ein weiterer Ausdruck ihrer ungezähmten Energie ist. Er presst sie gegen seine warme Brust, ihre Wange liegt auf seinem nackten Schulterbereich.

 

„Wir kaufen Kaffee“, sagt er, seine Stimme klingt nun amüsiert und tief beruhigend, seine Wärme sickert durch den Kaschmirpullover. „Aber zuerst erobern wir das Badezimmer.“

 

Lyra verzieht das Gesicht, eine Grimasse, die die göttliche Schönheit ihrer Züge für einen Moment verzerrt. Der kurze Blick, den sie gestern Abend ins Bad geworfen hatte, hatte ihr ganz und gar nicht gefallen. Trotz ihrer Vorliebe für das Makabre und die dunkle Ästhetik des Verfalls mag Lyra Ordnung und Sauberkeit im Persönlichen. Und die ist in diesem Haus, dem Sanktuarium der Schatten, fast nicht zu finden.

 

„Das Bad“, murmelt Lyra. „Ich sah eine Spinne, die aussah, als hätte sie die viktorianische Ära persönlich erlebt. Und der Geruch…“ Sie zuckt zusammen.

 

Fenris ignoriert das. Er löst sich von ihr, aber seine Hand findet sofort ihre. „Genau deshalb“, sagt er, seine Augen fixieren sie mit der Intensität, die sie so liebt. „Das Bad ist der letzte Widerstand des alten Drecks. Wir reinigen es, und dann reinigen wir uns. Das ist der erste Akt der Beherrschung über Rosevil.“

 

Er zieht sie entschlossen zur Tür und dann die knarrende Treppe hinunter in den hinteren Flur, wo das Badezimmer, ein kleiner, feuchter Raum mit dem Geruch von stehendem Wasser und Moder, auf seine rücksichtlose Sanierung wartet.

 

Der graue Vormittag wird zur Schlacht gegen den Schmutz. Es ist kein Kampf der Schwerter, sondern ein gnadenloses Duell gegen die Ablagerungen von Jahrzehnten, die sich im Badezimmer Rosevils manifestiert haben.

 

Fenris, der Anker der Kontrolle, übernimmt die groben Arbeiten. Mit seiner rohen Kraft befreit er den verrosteten Wasserhahn über dem Waschbecken von seinem eisernen Griff. Nach langem Zögern und einem widerwilligen Stöhnen der alten Rohre gibt er kaltes, eisenhaltiges Wasser frei, dessen metallischer Geruch sofort den Moderduft im Raum überlagert.

 

Lyra, die sich schnell der Notwendigkeit fügt, findet die wenigen Handtücher und eine Flasche Chlorreiniger, die sie gestern in der Eile im Käfer vergessen hatten - ein glücklicher, chemischer Zufall. Die dunkle Göttin der Ästhetik wird zur rücksichtslosen Reinigungsdämonin. Sie kniet auf dem schmutzigen Boden, der schwarze Kaschmirpullover  hoch geschoben, und schrubbt mit den Handtüchern die schlimmsten Stellen.

 

Der beißende, aggressive Geruch des Chlorreinigers kämpft einen erbitterten Kampf gegen den tief sitzenden, schweren Geruch des Alters und des Verfalls. Es ist ein Duell zwischen der modernen, sterilen Gewalt der Chemie und dem organischen, schleichenden Tod, der dieses Haus bewohnt.

 

Ihre Bewegungen sind synchronisiert, ein stilles, körperliches Ballett der Notwendigkeit. Fenris kratzt Schimmel  und Rost von den Fliesen, seine Konzentration ist so intensiv wie bei der Erstellung einer Zeichnung. Lyra schrubbt mit einer verbissenen Energie, die ihre Ablehnung des Chaos in diesem heiligen Raum des Körpers zeigt.

 

Als sie fertig sind, ist die Erschöpfung süß. Das Badezimmer ist noch immer gezeichnet, der Boden ist fleckig und die Fugen erzählen von unzähligen, vergessenen Tagen. Aber es ist begehbar. Es ist rein genug für ihre Zwecke, gereinigt mit der Härte der Entschlossenheit. Sie haben den ersten, kleinen Sieg über Rosevil errungen.

 

Fenris lehnt sich an den Türrahmen, seine Brust hebt sich schwer. Er betrachtet Lyra, die sich mühsam aufrichtet, ihre Haare sind unordentlich, ihre Wangen gerötet, und sie strahlt eine rohe, wunderschöne Wildheit aus, die er mehr liebt als jede hochgestylte Eleganz.

 

„Eine Kriegerin“, murmelt er anerkennend. „Jetzt können wir uns waschen, Königin. Und dann: Kaffee.“

 

Der Kampf gegen den Schmutz wird von einem kurzen, intensiven Akt der Wiederherstellung abgelöst. Das kalte, metallische Wasser der Dusche ist kaum ein Trost, aber unter Fenris’ starken Händen wird die Reinigung zu einem weiteren intimen Ritual. Die Kälte des Wassers betont nur die Hitze ihrer Körper, ein schneller, sinnlicher Akt der Säuberung.

 

Gegen Mittag sitzen sie, gewaschen und in ihre schweren schwarzen Mäntel gehüllt, auf den bemoosten Stufen der Haustreppe. Die Sonne, falls sie überhaupt scheinen sollte, kämpft vergeblich gegen die permanente Dämmerung von Rosevil an.

 

Sie teilen einen einzelnen Müsliriegel aus Fenris’ Notvorrat. Die Konsistenz ist zäh, der Geschmack neutral. Es ist das kärgste, unromantischste Mahl, das sie je geteilt haben.

 

„Ich weiß nicht, wann ich je so ein schlechtes Frühstück hatte“, überlegt Lyra laut, wobei das Wort Frühstück in ihrer Stimme fast wie eine Beleidigung klingt. Die Süße des Riegels ist ein schlechter Ersatz für das verlangte dunkle Aroma des Kaffees.

 

Fenris bricht ein weiteres Stück ab und reicht es ihr. Seine Augen, geschärft durch die Kälte der Außenwelt, fixieren sie mit der ganzen Unerbittlichkeit seiner Logik.

 

„Du vergisst, wozu die Nahrungaufnahme dient, Lyra“, erklärt Fenris, sein Ton ist tief und sachlich. „Es geht nicht um den Geschmack, nicht um das verwöhnte Ritual von Dornenkreuz. Es geht um Brennstoff. Wir brauchen Energie. Wir sind an einem neuen Ort, und unsere Existenz wird von dem genährt, was uns am Leben hält. Jetzt hält uns dieser billige Riegel am Leben. Wir akzeptieren das.“

 

Lyra kaut langsam auf dem Riegel herum und lässt seine Worte wirken. Er hat Recht. Der Luxus, sich über Geschmack zu beschweren, gehört zur Vergangenheit. Jetzt zählt die reine, nackte Funktion. Sie sind Jäger in einer neuen, dunklen Wildnis.

 

Sie schluckt den letzten Bissen hinunter und nickt, ein Funke der Entschlossenheit kehrt in ihre Augen zurück. „Gut“, sagt sie. „Dann sind wir aufgetankt, mein Anker. Lass uns den Wald suchen. Oder zumindest den Ort, an dem sie uns den Kaffee verkaufen.“

 

Fenris beendet seinen Müsliriegel mit einem einzigen, entschlossenen Bissen. Die Pragmatik ist eine willkommene Abwechslung von der gestrigen hitzigen Romantik, eine Rückkehr zur nötigen Überlebensstrategie. Er blickt Lyra an, seine tiefgrünen Augen fokussiert auf die neue Realität.

 

„Wir können nicht auf dem Boden schlafen“, stellt Fenris fest, seine Stimme ist trocken und kompromisslos. „Wir brauchen ein Bett. Ein echtes. Und etwas, um die Kleider aufzuhängen. Dieses Haus ist leerer, als die Bilder im Internet versprochen haben.“

 

Lyra nickt, ihre Lippen formen sich zu einem ironischen Zug. „Die Magie der gotischen Leere, richtig? Ein perfektes Sanktuarium für unsere Seelen, aber nicht für unseren Rücken.“ Sie zuckt zusammen. „Aber wir haben kaum Geld, Fenris. Wir können nicht einfach in ein steriles, modernes Möbelhaus fahren. Das wäre ein Verrat an unserem Exil.“

 

Fenris lächelt düster, eine Bewegung, die seine scharfen Züge nur noch unerbittlicher macht. „Wer braucht ein Möbelhaus? Wir sind in Rosevil, Lyra. Eine Stadt, die aus vergessener Geschichte gebaut ist.“ Er lehnt sich vor, seine Stimme wird zu einem rauen Flüstern, das ihre gemeinsame Verschwörung vertieft. „Ich habe auf den Bildern die Adresse eines Antiquitätenladens gesehen, ganz in der Nähe des Hafens. Und der alte Friedhof hier gegenüber, mit seinem massiven, eisernen Tor, sieht aus, als hätte er seit Jahrzehnten keine Pflege mehr erfahren. Solche Orte werfen Dinge ab.“

 

Lyra versteht sofort. Ihr Blick trifft seinen, und in der Verbindung liegt die scharfe, intime Erregung der Komplizenschaft. Sie werden nicht kaufen. Sie werden finden. Sie werden die Stadt durchwühlen, die Artefakte des Vergessens für ihre eigenen dunklen Zwecke beanspruchen.

 

„Ein Bett, das die Geschichte atmet“, sagt Lyra, ihre Stimme ist nun wieder voll Leidenschaft. „Und Kaffee. Führen wir den Käfer aus, Fenris. Die Jagd beginnt.“

 

„Wir jagen heute Nacht“, flüstert Lyra, ein Hauch von wilder Aufregung in ihrer Stimme, die sich mit dem eisenhaltigen Geruch der Vormittagsluft mischt. „Nach einem Bett, das unsere dunklen Träume wert ist.“ Die Aussicht auf die Jagd nach vergessenen Schätzen ist erregender als jede sterile Shoppingtour.

 

Fenris steht auf, seine Silhouette füllt den Lichtausschnitt, der durch die geöffnete Haustür fällt. Er ist der Anführer, der Jäger, der sie in diese neue Dunkelheit führt.

 

„Zuerst Kaffee, meine Liebe“, sagt Fenris, seine Stimme ist tief und setzt die klare Priorität. Die Notwendigkeit ist älter als die Romantik. „Dann sehen wir, was diese Stadt uns geben will.“

 

Er streckt ihr die Hand hin, und Lyra legt ihre in seine. Ihre schweren Mäntel umhüllen sie wie Flügel. Sie verlassen die Stufen, die sie zum ersten kargen Mahl auf Roseviler Boden gedient haben, und gehen gemeinsam zum mattschwarzen VW Käfer, der vor dem zerbrochenen Eisentor wartet - ein dunkler Käfer, der bereit ist, seinen Weg in die Eingeweide der Stadt Rosevil zu fressen. Die Jagd nach Notwendigkeit und Vergnügen hat begonnen.

 

Auf dem kurzen Weg vom Haus zum mattschwarzen Käfer entfaltet Fenris die Strategie. Seine Stimme ist leise, doch voller unerbittlicher Präzision, als würde er einen Raubzug planen.

 

„Ich habe mir die Satellitenbilder angesehen“, sagt er, während er den Schlüssel in die Fahrertür steckt. „Rosevil ist ein Labyrinth. Aber es gibt zwei Orte, die wir sofort ansteuern müssen. Der eine ist der Hafenbezirk. Ich glaube, dort liegt der Antiquitätenladen, den ich online gesehen habe - die Art von Ort, die alte, monströse Dinge hortet, die niemand sonst will. Ein Bett, das nach Geschichte riecht, das die Schreie seiner Vorbesitzer gefangen hält.“

 

Lyra sieht ihn an, die Worte von Fenris sind süßer als jeder Kaffee. „Und der zweite Ort?“, fragt sie, ihre Augen funkeln im trüben Tageslicht.

 

Fenris sieht zu ihr und lächelt - dieses gefährliche, düstere Aufblitzen, das Lyra so gut kennt und das immer dann erscheint, wenn er die Konventionen der Welt mit Verachtung straft. „Der Friedhof, Lyra. Die eisernen Tore gegenüber sind riesig. Und wenn der Antiquitätenhändler nichts hat, dann brauchen wir etwas zum Aufhängen unserer Kleider. Ein altes, ornamentales Stück Friedhofszaun wird uns dienen. Wir passen besser zu gestohlenem Metall als zu IKEA.“

 

Lyra lacht leise, ein dunkler, melodischer Klang, der perfekt zur Grausamkeit seiner Idee passt. Es ist das Lachen einer Frau, die ihre moralischen Fesseln zerschnitten hat.

 

Sie steigen in den Käfer, die Türen klappen mit einem tiefen, hohlen Geräusch.

 

Fenris wirft einen letzten Blick auf den schiefen Zaun ihres viktorianischen Hauses. „Aber jetzt erstmal Kaffee, meine Liebe. Wir können nur effizient die Regeln brechen, wenn der Geist wach ist.“

 

Der Motor springt mit einem tiefen Grollen an, das die bleierne Stille Rosevils durchbricht. Der Käfer fährt los, ein schwarzer Käfer auf der Jagd nach Geschichte, Verbrechen und Koffein.