Falkensee - Kapitel 41



Die Frühjahrssonne liegt warm über der kleinen Stadt, die sie inzwischen ihr Zuhause nennen. Auf ihrem Balkon blühen die Geranien, die Elysia vor zwei Wochen eingepflanzt hat. Der zarte Duft von Lavendel, den der Wind hereintrug, weht zwischen ihnen hin und her.

 

Kian sitzt im Liegestuhl, barfuß, eine Tasse Kaffee in der Hand. Elysia sitzt zwischen seinen Beinen, mit dem Rücken an ihn gelehnt, die Augen halb geschlossen, das Gesicht zur Sonne hin.

 

Monatelang war jeder Morgen schwer gewesen.

 

Heute nicht.

 

Heute fühlt es sich an, als würde die Welt endlich wieder in die richtige Richtung atmen.

 

„Ich kann es manchmal immer noch nicht glauben“, murmelt Elysia, ohne die Augen zu öffnen.

 

Kian fährt sanft mit den Fingerspitzen durch ihr Haar. „Was genau? Dass du frei bist? Oder dass Valerian und seine beiden Hunde endlich da gelandet sind, wo sie hingehören?“

 

Sie lacht leise, ein ehrliches, warmes Lachen, das ihm jedes Mal das Herz öffnet. „Beides, glaube ich.“

 

Eine sanfte Brise streicht über ihre nackten Arme. Elysia zieht die Knie an und legt die Arme darum.

 

„Als letzte Woche das Urteil gesprochen wurde…“, beginnt sie leise, „da ist etwas in mir losgegangen. So, als hätte ich zum ersten Mal seit Jahren… wieder Luft bekommen.“

 

Kian stellt seine Tasse ab und beugt sich etwas nach vorn, damit sein Kinn ihre Schulter berührt. „Weil du jetzt wirklich frei bist.“

 

„Ja.“ Elysia schließt die Augen, lässt den Moment auf sich wirken. „Ich bin geschieden. Endlich. Die Polizei hat alles gefunden, was sie brauchten – und viel mehr. Diese ganzen Geschäfte, die Valerian betrieben hat… diese Menschen, die er benutzt und bedroht hat… ich wusste nicht einmal die Hälfte davon.“

 

Kian legt beide Arme um sie und zieht sie sanft näher zu sich. „Und du musstest nichts davon wissen. Das war nie deine Schuld.“

 

Sie legt ihre Hand auf seinen Arm, streicht über seine Haut. „Es fühlt sich an, als hätte ich… Jahre nachgeholt. Als hätte ich endlich den Mut gefunden, den ich damals nicht hatte.“

 

„Du warst mutig“, widerspricht Kian ruhig. „Du hast dich getrennt. Du hast dich gewehrt. Und du hast dir dein Leben zurückgeholt.“

 

Elysia dreht den Kopf leicht und sieht ihn von unten an. Sein Blick ist warm, stolz – und so voller Ruhe, dass sie manchmal vergisst, wie turbulent der Weg hierher war.

 

„Und du…“ Sie lächelt. „Du hast mich die ganze Zeit getragen, wenn ich selbst nicht mehr konnte.“

 

Kian schmunzelt. „Ich hab dich nicht getragen. Ich bin einfach neben dir geblieben.“

 

„Genau das meine ich.“

 

Er drückt einen Kuss auf ihre Schläfe. „Es ist noch nicht alles vorbei“, sagt er leise. „Aber das Gröbste… das liegt hinter uns.“

 

Elysia sieht hinunter auf die Straßen der Stadt – hell, friedlich, vertraut. Ihre kleine Wohnung oben drüber. Ihr Balkon. Ihr Leben.

 

„Ich fühle mich zum ersten Mal seit… ich weiß nicht wie lange… zuhause.“

 

Kian lächelt in ihren Nacken. „Dann haben wir wohl alles richtig gemacht.“

 

Sie legt ihren Kopf an seine Brust. Kian verschränkt seine Arme um sie, und sie fühlen beide dieselbe Wahrheit:

 

Es ist vorbei.

 

Sie haben es geschafft. Und jetzt gehört ihnen die Zukunft.

 

„Ich kann’s gar nicht erwarten, bis Hannah und Ben endlich da sind… und den kleinen Niklas!“ Ihre Augen strahlen. „Ich hab ihn bisher nur auf dem Bildschirm gesehen. Aber ihn wirklich im Arm halten? Ich glaube, ich werde heulen.“

 

Kian grinst und beugt sich zu ihr, drückt ihr einen liebevollen Kuss auf die Wange. „Heulen wirst du auf jeden Fall“, neckt er sie. „Du bist bei Babys schlimmer als Hannah, und sie ist immerhin gerade Mutter geworden.“

 

Elysia lacht und stupst ihn spielerisch mit der Schulter. „Ich finde Babys einfach süß.“

 

Kian hebt eine Augenbraue, übertrieben skeptisch. „Ich hoffe nur, du kommst jetzt nicht auf dumme Gedanken… willst dir vielleicht auch so einen anschaffen?“ Er zwinkert provokant.

 

Elysia schnaubt amüsiert – doch statt einer Ausrede oder einer scherzhaften Bemerkung schaut sie ihn mit einem warmen, offenen Blick an.

Dann zuckt sie leicht mit den Schultern. „Mit dir könnte ich mir das tatsächlich vorstellen.“

 

Kian ist für einen Moment sprachlos. Seine Augen weiten sich minimal – überrascht, berührt, unvorbereitet getroffen von ihrer Ehrlichkeit.

 

Elysia sieht ihn nur kurz an, bevor sie wegschaut, als wäre ihr die eigene Offenheit plötzlich peinlich. Doch sie sucht nicht nach einer Entschuldigung. Sie hat es spontan gesagt – und sie meint es.

 

Kian beugt sich nach vorn, legt ihr sanft einen Finger unter das Kinn und dreht ihr Gesicht wieder zu sich. Seine Stimme ist weicher, tiefer. „Echt?“

 

Elysia nickt, ein kleines, ernstes Lächeln im Gesicht. „Echt.“

 

Kian zieht sie näher, legt seine Stirn an ihre. „Gut“, murmelt er. „Weil… ich könnte mir das irgendwann auch vorstellen. Mit dir.“

 

Elysias Herz macht einen kleinen Sprung, warm und leicht. Sie lächelt, legt eine Hand auf seine Brust. „Eines Tages. Kein Stress… aber vielleicht irgendwann.“

 

„Irgendwann“, bestätigt er, und küsst sie zärtlich.

 

Der Moment ist zart, sonnig, voller Hoffnung – kein Plan, kein Druck, nur die stille Gewissheit: Sie haben eine gemeinsame Zukunft. Und sie beginnen gerade erst, sie zu entdecken.

 

Nachdem ihre Worte verklungen sind, fällt ein friedliches Schweigen über den Balkon. Kian hält Elysia fest an sich gedrückt, seine Arme umschließen sie warm und schützend.

 

Ihr Kopf ruht an seiner Brust, und er spürt ihren gleichmäßigen Atem, der sich mit seinem eigenen Rhythmus vermischt. Keiner der beiden sagt etwas. Sie müssen es auch nicht.

 

Vor ihnen liegt die kleine Stadt, die sie seit Monaten ihr Zuhause nennen. Helle Dächer, schmale Straßen, blühende Vorgärten – nichts Besonderes für andere.

 

Aber für sie?

 

Ein Neuanfang. Ein Ort, an dem niemand sie kennt. Ein Ort, an dem sie endlich sind, statt zu fliehen.

 

Die Sonne taucht die Häuser in warmes Gold. Ein leichter Wind streicht über den Balkon und spielt mit Elysias Haaren. Ein paar Kinder lachen in der Ferne. 

 

Frieden. Endlich Frieden.

 

Elysia legt ihre Hand auf Kians Arm, der sie umschlungen hält. Sie braucht keine Worte – ihre Berührung sagt alles.

 

Und Kian beugt den Kopf leicht zu ihr, seine Wange streift ihr Haar. Ein stilles, vollkommenes Einverständnis.

 

Beide schauen in die Ferne, doch sie sehen nicht die Stadt. Nicht nur.

Sie sehen den Weg hierher. Das zufällige Wiedersehen in Falkensee. Den Kuss, der erst unsicher war – und dann alles verändert hat. Die Abende voller Sehnsucht, weil drei Stunden Entfernung wie ein Ozean wirkten. Die Gefahr, die über ihnen schwebte. Die Angst. Die Verfolgung. Die Flucht. Die Nacht, in der sie alles hinter sich gelassen haben. Die Monate der Ungewissheit. Der Kampf um Freiheit.

 

Und all die Momente, in denen sie sich hätten verlieren können – aber stattdessen immer wieder den Weg zueinander gefunden haben.

 

Elysia hebt ihren Blick und sieht zu Kian hinauf. Er schaut zur Stadt, aber da ist dieses ganz leichte Lächeln, das sich immer dann auf seine Lippen legt, wenn sie in seiner Nähe ist.

 

Sie weiß, was er denkt. Er weiß, was sie fühlt.

 

Denn sie spüren es beide: Wir zwei… sind Liebe, die geblieben ist. Liebe, die gekämpft hat. Liebe, die überlebt hat. Liebe, die weiterwächst.

 

Kian drückt sie ein bisschen fester an sich. Elysia lehnt sich ein Stück näher.

Und gemeinsam schauen sie über ihre Stadt – über ihr neues Leben – über ihren zukünftigen Weg, der endlich nicht mehr bedroht, sondern offen vor ihnen liegt.

 

Sie haben den schwierigsten Teil überstanden. Sie haben sich nicht verloren.

 

Sie haben es hierher geschafft.

 

Und tief in sich wissen beide: Wenn sie diesen Weg gemeistert haben, meistern sie auch jeden anderen.

 

Solange sie ihn zusammen gehen. 

 

Elysia hebt den Kopf aus Kians Armen und sieht zu ihm auf. Er schaut bereits zu ihr – als hätte er genau in dem Moment denselben Gedanken gehabt.

 

Ihre Blicke treffen sich. Und bleiben. Keiner sagt etwas. Es braucht keine Worte.

 

Seine braunen Augen erzählen von Monaten voller Sorge, Mut, Hoffnung und dem unbeirrbaren Willen, bei ihr zu bleiben. Ihre blauen Augen spiegeln die Dankbarkeit, die Wärme, den Frieden – und diese tiefe, stille Liebe, die sie beide längst trägt.

 

Kian hebt langsam eine Hand und streicht ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht, bleibt dann an ihrer Wange liegen. Elysia schließt kurz die Augen, lehnt sich in seine Berührung.

 

Als sie sie wieder öffnet, sehen sie sich an, als würden sie einander neu entdecken – und gleichzeitig wissen, dass sie angekommen sind. Sie rückt ein kleines Stück näher. Er zieht sie sanft zu sich. Und dann finden sich ihre Lippen.

 

Ein langer, tiefer Kuss. Kein hastiger, kein ungeduldiger – sondern einer, der ruhig beginnt und immer intensiver wird. Ein Kuss voller Wärme, voller Hingabe, voller Versprechen.

 

All die Liebe, die sie füreinander empfinden, liegt in diesem Augenblick. Die Erleichterung, die Freiheit, das neue Leben – alles bündelt sich zwischen ihnen, als Kian ihre Wange streichelt und Elysia ihm die Hand in den Nacken legt.

 

Es ist ein Kuss, der nicht nur Ausdruck ist, sondern Antwort. Bestätigung. Ein „Ja“ zu diesem Leben – und zueinander.

 

Erst nach einer kleinen Ewigkeit lösen sie sich langsam voneinander.

 

Stirn an Stirn. Atem an Atem.

 

Und beide lächeln, weich, vertraut. Sie brauchen keine Worte. Der Kuss hat alles gesagt.

 

Und beide wissen, dass sie heute nicht hier wären wenn sie sich nicht über den Weg gelaufen wären, in Falkensee. 

 

                                                                                  -Ende-