Falkensee - Kapitel 33
Kian steigt wieder ins Auto. Seine Hände zittern leicht, aber er zwingt sie zur Ruhe, legt sie fest ans Lenkrad. Der Motor springt an, die Scheinwerfer durchschneiden die dunkle, nasse Straße.
Er fährt los. Langsam zuerst, dann etwas schneller. Sein Blick wandert ständig zwischen der feuchten Fahrbahn und dem Rückspiegel hin und her. Jeder entgegenkommende Wagen, jedes Licht, jeder Schatten am Horizont lässt sein Herz kurz schneller schlagen.
Er versucht, die Route abzuändern – fährt nicht direkt weiter nach Brunnental, sondern nimmt eine Ausfahrt früher, biegt in eine dunkle Seitenstraße, um dann wieder auf die Hauptstraße zurückzukehren.
Nichts. Kein SUV. Keine Spur.
Doch das macht es nur schlimmer. Unsichtbare Gefahr fühlt sich oft größer an als offensichtliche. Er atmet durch, versucht seinen Fokus zu behalten. Er muss ruhig bleiben. Für sie.
Ein paar Kilometer entfernt. Ein unscheinbarer Parkplatz, halb in Dunkelheit, halb beleuchtet von einer flackernden Laterne. Der schwarze SUV steht dort. Motor aus. Lichter aus. Kessler sitzt im Wagen, bewegungslos wie eine Statue. Er hat gesehen, dass Kian den Rastplatz verlassen hat. Er weiß, dass Sterling jetzt aufmerksamer ist als zuvor.
Zeit für Plan B.
Kessler startet den Motor erst dann, als Kians Wagen weit genug entfernt ist, um nicht bemerkt zu werden. Ganz ruhig. Methodisch.
Er fährt vom Parkplatz auf die Straße. Er hält bewusst viel Abstand. Sehr viel Abstand. So viel, dass Kian ihn im Rückspiegel nicht sehen kann. Aber so wenig, dass Kessler ihn nicht aus den Augen verliert.
Kian fährt weiter. Jeder Muskel ist angespannt, sein Blick kontrolliert alle paar Sekunden den Rückspiegel. Er sieht verschiedene Autos. Alle normal. Nichts, was ihm ins Auge springt.
Und doch... irgendetwas fühlt sich falsch an. Unwirklich. Bedrohlich wie ein Gespenst, das man nicht greifen kann.
Er fährt vorsichtig, fast übervorsichtig, reduziert die Geschwindigkeit, prüft wieder – aber diesmal scheint er allein zu sein.
Hundert Meter dahinter. Da ist er. Der schwarze SUV. Lichter aus. Nur die gedämpften Konturen sind im Spiegel eines weit entfernten Straßenlichts zu erahnen.
Kessler sieht Kians Rücklichter, nicht mehr als glühende Punkte in der Dunkelheit. Er spricht leise, fast wie zu sich selbst: „Gut so. Fahr weiter. Ich bin da.“
Er hält den Sicherheitsabstand so professionell wie ein Mann, der Hunderte solcher Operationen hinter sich hat. Er will Kian nicht nervös machen, nicht mehr als nötig. Aber er will ihn kontrollieren. Lenken. Aufhalten – zum richtigen Zeitpunkt.
Der Auftrag ist eindeutig. Und Kessler führt Befehle aus. Immer.
Kian spürt es trotzdem. Ein kalter Schauer läuft ihm den Rücken hinab. Nicht wegen etwas Sichtbarem, das er im Spiegel erkennen könnte. Sondern wegen eines Gefühls, einer inneren Warnung, die sich nicht abschütteln lässt.
„Irgendetwas ist nicht richtig…“, murmelt er.
Er greift zum Handy – kurz überlegt er, ob er sie sofort anrufen soll, entscheidet sich aber dagegen: Er ruft Elysia an, sobald er in der Nähe ihres Wohnorts ist, wenn die Gefahr greifbarer wird.
Noch dreißig Kilometer.
Dreißig lange, gespannte Kilometer mit einem unsichtbaren Schatten im Rücken.
Die Wohnung ist eigentlich warm, aber Elysia friert. Sie läuft auf und ab, barfuß, die Arme fest um sich geschlungen. Der Brief vom Anwalt liegt noch immer auf dem Couchtisch, wie ein dunkler Schatten, der den ganzen Raum dominiert.
Alle paar Sekunden blickt sie auf ihr Handy. Keine Nachricht. Kein Anruf. Nichts.
„Warum ruft er nicht an…“, flüstert sie nervös.
Sie setzt sich – springt sofort wieder auf. Geht zum Fenster – zieht augenblicklich den Vorhang wieder vor. Sie steht unschlüssig im Wohnzimmer, atmet flach. Ihr Herz schlägt schneller als sonst.
Sie versucht, sich selbst einzureden: Er wird gleich anrufen. Er ist vorsichtig. Er passt auf sich auf. Aber ihr Bauchgefühl sagt etwas anderes. Es sagt: Irgendetwas stimmt nicht.
Elysia presst die Hände gegen die Stirn. „Ich halt das nicht aus…“
Sie denkt an Hannah. Ihre beste Freundin. Ihre Vertrauensperson. Sie könnte sie anrufen... Nein. Hannah ist schwanger, emotional, belastet genug.
Aber dann erinnern sich Elysias Finger daran, wie allein sie sich fühlt, wie die Angst in ihr hochkriecht. Ihre Stimme klingt klein, als sie flüstert: „Ich brauch sie jetzt…“
Sie geht zum Haustelefon – extra nicht ihr Handy, damit es frei bleibt, falls Kian sie anruft. Sie wählt Hannahs Nummer. Es klingelt nicht lange.
„Elysia?“, meldet sich Hannah sofort, mit dieser vertrauten Wärme in der Stimme, die sofort Trost gibt. „Alles okay?“
Elysia schluckt schwer. „Ich… ich weiß nicht… Kian… er hat gesagt, er ruft gleich wieder an, aber… irgendwas ist komisch. Er hat gesagt, er wird vielleicht verfolgt…“
Hannah atmet hörbar ein. „Oh Gott… Elysia… wo ist er jetzt?“
„Auf dem Weg zu mir. Aber ich weiß nicht… ich weiß wirklich nicht…“ Ihre Stimme beginnt zu zittern. „Und der Brief… und Valerian… ich hab so ein schlechtes Gefühl…“
Hannah wird ernst – so ernst, dass Elysia es selbst durchs Telefon fühlen kann.
„Schatz… hör mir zu.“ Ihre Stimme ist sanft, aber fest. „Kian ist clever. Und er ist vorsichtig. Und er hat dich angerufen, statt irgendwas zu riskieren. Er kommt zu dir, okay? Er kommt.“
Elysia atmet zittrig ein. „Ich hab Angst.“
„Ich weiß.“ Hannah klingt plötzlich sehr ruhig – ein Ton, der zeigt, dass sie sofort in den Schutzmodus übergegangen ist. „Ich rufe Ben an. Er wird sofort losfahren, egal wo er gerade ist. Und ich bleibe so lange mit dir am Telefon, bis Kian bei dir ist.“
Elysia schließt die Augen, Tränen laufen leise über ihre Wangen. „Danke… Hannah… danke…“
„Dafür bin ich da.“ Eine Pause. „Und glaub mir – ich lasse dich jetzt keinen Moment mehr allein.“
Elysia lehnt die Stirn gegen die kühle Kühlschranktür. Der Raum fühlt sich eng an, aber Hannahs Stimme hält sie über Wasser.
Draußen rauscht ein Auto durch die nassen Straßen. Elysia zuckt zusammen.
„Ich hab so ein mieses Gefühl…“, flüstert sie.
„Ich weiß.“ Hannahs Stimme wird noch leiser. „Und meistens hat dein Bauchgefühl recht.“
Die Haustür öffnet sich, und kalte Luft weht herein. Ben schleppt zwei schwere Tüten vom Supermarkt hinein und schnaubt leise. „Hannah? Ich bin...“
Er bleibt abrupt stehen.
Hannah sitzt am Küchentisch, eine Hand über den Mund gelegt, Entsetzen in den Augen, das Haustelefon fest an ihr Ohr gedrückt. Etwas an ihr ist sofort alarmierend, eine tief sitzende Angst, die den ganzen Raum erfasst.
„Was ist passiert?“, fragt Ben. Er stellt die Einkaufstüten grob ab, ignoriert den Inhalt und geht direkt zu ihr.
Hannah legt die Hand auf sein Knie, ihre Stimme bebt leise. „Ben… es geht um Kian. Und Elysia. Da ist irgendwas… irgendwas stimmt nicht.“
Ben spannt sofort die Schultern an. Seine Haltung wird hart, auf das Schlimmste gefasst. „Was heißt das?“
Hannah dreht das Telefon leicht in seine Richtung. „Sie ist noch dran.“
Ben nimmt ihr das Telefon ab, ohne zu zögern. Seine Stimme ist sofort ruhig, kontrolliert – aber ernst, getragen von tiefer Sorge.
„Elysia? Ben hier. Was ist los?“
Auf der anderen Seite hört er einen leisen, zittrigen Atemzug. Dann Elysias Stimme, klein und angespannt:
„Ben… ich… ich..., Kian wird verfolgt.“
Ben richtet sich langsam auf. Sein Blick wird hart, konzentriert.
„Okay. Sag mir alles.“
Sie erzählt, was Kian am Rastplatz gesagt hat. Vom schwarzen SUV. Dass er ständig im Rückspiegel auftauchte. Dass er sich seltsam verhielt. Dass etwas nicht stimmte.
Ben hört zu, ohne sie zu unterbrechen. „Okay“, sagt er schließlich. „Elysia… du musst ruhig bleiben. Kian ist nicht dumm. Er weiß, wie man einem Verfolger entkommt. Wenn er gesagt hat, er meldet sich – dann tut er das.“
„Ben…“ Ihre Stimme bricht leicht. „Es gibt da noch was… ich… ich muss dir was sagen… über Valerian.“
Ben ahnt, wohin das führt. Sein Gesicht verfinstert sich. „Sag es.“
„Valerian hat… Leute.“ Ihre Stimme wird noch leiser, fast ein Flüstern. „Leute, die nicht davor zurückschrecken, jemanden einzuschüchtern. Oder Schlimmeres zu tun. Ich… ich weiß, er ist zu allem fähig, wenn er wütend ist.“
Ben schließt die Augen, atmet tief durch. Sein Gesicht wird ernst – gefährlich ernst.
„Elysia…“, sagt er ruhig, aber fest, „hör mir gut zu. Wir lassen dich da nicht alleine durch. Und Kian erst recht nicht. Ich kenne ein paar Situationen, wo Leute versucht haben, irgendwen zu bedrohen. Ich weiß, wie man damit umgeht.“
„Ben… er meint es ernst. Valerian… er...“
Ben unterbricht sie sanft, aber bestimmt. „Dann soll er es versuchen.“ Er spricht ruhig, aber jeder Ton verrät, wie sehr er jetzt auf Alarm ist. „Kian ist ein erwachsener Mann, und er weiß, was er tut. Und wenn dieser Typ wirklich hinter ihm her ist, dann wird Kian ganz genau wissen, wie er sich schützt.“
Elysia antwortet mit schwacher Stimme: „Ich hab solche Angst…“
Ben wird weicher, sein Ton warm. „Ich weiß. Das muss unglaublich schwer sein. Aber hör mir zu: wir sind da. Wir kriegen das geregelt. Und bis Kian bei dir ist, bleibst du nicht allein, verstanden?“
Ein kleines, gebrochenes „Ja…“ kommt zurück.
Ben nickt, obwohl sie es nicht sieht. Dann sieht er zu Hannah, die ihn mit großen, glasigen Augen ansieht. Er berührt ihre Hand. Er weiß: Jetzt müssen alle zusammenhalten.
„Ich bleib dran, Elysia. Und sobald ich was höre, komm ich notfalls selbst los.“
Elysia atmet erleichtert – zumindest ein wenig. Doch die Spannung bleibt wie ein unsichtbarer Faden zwischen allen dreien hängen.
Ben legt langsam den Hörer zurück in Hannahs Hand. Er versucht, seine Gesichtszüge neutral zu halten – für Elysia, für Hannah –, doch kaum ist das Telefon von seinem Ohr weg, verändert sich etwas in seinem Blick.
Er wirkt nicht mehr beruhigend. Nicht mehr kontrolliert. Sondern wachsam. Alarmiert. Bereit zu handeln.
Hannah sieht es sofort. „Ben?“, fragt sie leise. Sie kennt ihn gut genug, um zu wissen, dass etwas in ihm umgeschaltet hat.
Er atmet tief ein, presst die Lippen aufeinander. „Valerian…“, murmelt er. „Dieser Kerl spielt nicht fair. Noch nie. Und wenn der wirklich jemanden auf Kian angesetzt hat…“ Er bricht ab.
Hannahs Hand schließt sich fester um seine. „Ben… du machst mir Angst.“
Er sieht sie an. Sanft. Liebevoll. Aber seine Worte sind kompromisslos. „Es geht um Kian. Und wenn der in Gefahr ist, dann bleib ich nicht hier sitzen und warte, bis irgendwas passiert.“
Hannah spürt, wie ihr Herz schneller schlägt. „Was… willst du tun?“
Er steht langsam auf, seine Bewegungen sind kontrolliert, aber eindeutig angespannt. „Ich fahr zu ihm.“
„Ben…“ Ihre Stimme bricht einen Moment.
Er kniet sich vor sie, nimmt ihr Gesicht zwischen die Hände. „Ich bin gleich wieder da. Ganz ruhig, okay?“ Er küsst ihre Stirn. „Ich fahr vorsichtig. Ich lass mich nicht auf irgendwas Dummes ein.“
Hannah nickt, doch sie wirkt aufgewühlt.
Ben sieht sie an, ernst und entschlossen. Dann hebt er den Zeigefinger, zeigt leise, aber deutlich in ihre Richtung. „Und sag Elysia bitte nichts. Keine Panik, keine zusätzlichen Sorgen. Sie hält sowieso nur noch mit Mühe durch.“
Hannah nickt stumm. Sie weiß, dass er recht hat.
Er erhebt sich, greift nach seinem Schlüsselbund auf dem Sideboard und zieht sich die Jacke über. Seine letzten Worte, bevor er die Haustür öffnet:
„Kian ist mein bester Freund. Wenn da irgendwer versucht, ihm zu schaden... dann stehe ich zwischen ihnen.“
Hannah begleitet ihn bis zur Tür, ihre Hand liegt noch auf seinem Arm. „Bitte pass auf dich auf.“
„Immer.“ Er drückt ihre Hand kurz – und dann ist er draußen.
Die Tür fällt hinter ihm ins Schloss.
Hannah bleibt stehen, eine Hand auf ihrem Babybauch, das Telefon von Elysia noch in der anderen. Sie atmet zittrig aus.
Und flüstert in die Stille: „Bitte... lass alles gutgehen...“
Hannah steht im Flur, die Hand an der Tür, ihr Atem zitternd. In ihrer anderen Hand hält sie das Haustelefon, aus dem plötzlich eine Stimme dringt.
„Hannah? … Hannah? Bist du noch da?“
Elysia.
Hannah erstarrt, als hätte sie vergessen, dass sie nicht allein ist. Sie reißt die Augen auf, hebt das Telefon panisch an ihr Ohr.
„Oh... ja! Ich… ich bin noch da“, sagt sie schnell, fast zu schnell.
Aber es ist zu spät. Elysia hat alles gehört. Man hört es in ihrer Stimme, die jetzt brüchig und voller Sorge ist:
„Du… du hast etwas verschwiegen. Was ist da los? Ben… er… er geht doch nicht zu Valerian, oder? Hannah, bitte sag mir die Wahrheit.“
Hannah schließt die Augen, ihr Herz schlägt hart gegen ihre Rippen.
„Elysia…“, beginnt sie, leise, entschuldigend. „Bitte… beruhige dich erst einmal.“
„Sag es mir.“ Elysias Stimme bricht. „Ich kenn Ben. Er ist impulsiv, aber loyal. Hat er wirklich…?“
Hannah schluckt. „Er fährt los… ja.“
Ein leises Keuchen am anderen Ende. Elysias Atem stockt.
„Oh nein…“, flüstert sie. „Ben und Valerian… das wird nicht gut ausgehen. Valerian ist… er ist nicht der Mann, den er nach außen spielt. Wenn er wütend wird… und Valerian wird sicher wütend werden…“
Hannah ballt die freie Hand zur Faust, schließt kurz die Augen. Ihre Stimme wird dünn, besorgt und ehrlich: „Ich weiß. Der Gedanke macht mir Angst. Aber Ben… er lässt euch beide nicht allein. Er will verhindern, dass irgendwas Schlimmes passiert.“
Elysias Stimme zittert jetzt hörbar: „Hannah… Valerian wird ausrasten. Du weißt nicht, wie… wie schnell bei ihm etwas kippt. Wenn Ben ihn provoziert… oder nur falsch atmet… er wird...“
Hannah unterbricht sie sanft, aber man hört, dass sie selbst kaum die Fassung behält:
„Schhh… ich weiß, ich weiß… ich kenne Valerians Ruf. Jeder hier kennt den. Aber Ben ist nicht dumm. Er geht nicht rein, um zu kämpfen. Er will… er will nur verstehen, was los ist.“
Elysia antwortet mit gebrochener Stimme: „Valerian will nicht reden. Er will kontrollieren. Das hat er immer getan. Und wenn Ben ihn zur Rede stellt, dann...“ Sie verstummt.
Beide Frauen atmen schwer. Die Angst ist greifbar.
Hannah legt eine Hand auf ihren Bauch. Sie spürt, wie er sich anspannt, wie ihr Körper den Stress aufnimmt.
„Elysia… ich sag dir die Wahrheit: Ich hab auch Angst. Ich hab große Angst. Aber Ben würde nie irgendetwas tun, das jemandem schadet. Er will nur… helfen. Und Kian schützen.“
Eine lange Pause.
Dann flüstert Elysia: „Ich hab ein so schlechtes Gefühl… Valerian wird nicht begeistert reagieren. Und wenn er wütend ist… ist er unberechenbar.“
Hannah schluckt. „Ich weiß.“
Und in ihrem Blick liegt dieselbe Sorge, die Elysias Worte durchdringt. Zwei Frauen, zwei Telefone, zwei schlagende Herzen – und über allem die Angst vor einem Mann, der sich längst entschieden hat, alles zu zerstören.
Die Auffahrt zur Auberon-Villa liegt im Dunkeln. Der Regen hat aufgehört, aber der Boden glänzt nass und schwarz.
Ben fährt die elegante Auffahrt hinauf, sein Herz klopft hart gegen seine Rippen. Er stellt den Wagen ab, lässt den Motor einen Moment laufen — atmet tief ein, dann aus. Er muss klar bleiben. Für Kian. Für Elysia. Er schaltet den Motor aus. Stille.
Die Villa ragt vor ihm auf, hell erleuchtet in einigen Zimmern, ein scharfer Kontrast zum Unwetter der Gefühle, das tief in seinem Inneren tobt. Ben steigt aus und schließt die Autotür leise. Sein Blick wandert nach oben — Licht im Arbeitszimmer. Jemand ist wach. Jemand wartet.
Aber er geht weiter. Entschlossen. Denn jetzt gibt es kein Zurück. Er geht zur Haustür und klingelt. Der Klang hallt durch das große Gebäude. Einen Moment passiert nichts. So kennt Ben die Villa noch aus früheren Zeiten, als er und Hannah heimlich hier waren, als Valerian außer Haus war. Zeiten, in denen sie leise lachen mussten, damit Valerian ihren unerwünschten Besuch nicht bemerkte.
Dann hört Ben Schritte. Langsam. Zögerlich. Die Tür öffnet sich. Frau Schubert.
Ihr Gesicht erstarrt im gleichen Moment, in dem sie ihn erkennt.
„Ben…“, sagt sie überrascht, ihre Stimme klingt gleichzeitig erleichtert und besorgt. „Was… um Himmels willen… was machen Sie denn hier?“
Ben zieht die Schultern hoch, sein Blick ist ernst, aber warm. „Hallo, Frau Schubert. Es ist wichtig. Sehr wichtig.“
Sie öffnet die Tür ein Stück weiter, sieht nervös über ihre Schulter in die Villa.
„Sie sollten nicht hier sein“, flüstert sie. „Er… er ist zuhause.“
„Ich weiß.“ Ben schluckt. „Deshalb bin ich hier.“
Frau Schubert schließt die Augen für einen Moment. Man sieht ihr an, wie viele Erinnerungen sie an genau solche Situationen hat, wie oft sie Elysia beschützt hat. Sie senkt ihre Stimme noch weiter.
„Er darf nicht erfahren, dass Sie hier sind.“ Ihre Hand liegt verkrampft auf der Türklinke. „Ben… er ist nicht er selbst im Moment. Er ist...“
Ben hebt eine Hand. Sanft. Aber bestimmt. „Ich weiß. Und genau deshalb muss ich mit ihm reden.“
Frau Schubert atmet scharf ein. „Ben… das ist keine gute Idee. Er ist wütend. Und er plant Dinge, die...“ Sie bricht ab, als würde ein unsichtbarer Befehl sie zum Schweigen zwingen.
Ben tritt einen Schritt näher. „Er hat jemanden auf Kian angesetzt, nicht wahr? Elysias neuer Partner.“ Seine Stimme ist ruhig, aber gefährlich.
Frau Schubert sieht ihn erschrocken an - das ist Antwort genug.
Ben presst die Kiefer zusammen, murmelt: „Ich wusste es.“
Frau Schubert legt die Hand auf seine Schulter, ihre Augen flehen ihn an. „Ben, bitte… lassen Sie das. Er ist nicht im Zustand, mit Vernunft zu reden. Und wenn er Sie sieht…“ Ihre Stimme senkt sich zu einem zittrigen Hauch: „...dann wird er sehr, sehr wütend werden.“
Ben hebt den Kopf. „Das Risiko gehe ich ein.“
Hinter der Frau beginnt ein Schatten die Treppe hinabzusteigen.
Sie erstarrt. „Oh Gott…“, flüstert sie. „Er kommt.“
Ben spürt, wie sich Frau Schubert neben ihm verkrampft, als die Schritte lauter werden und die Gefahr näher rückt. Aber er bleibt stehen. Fest verankert. Sein Atem ist ruhig, sein Blick hart, jeder Muskel bereit.
Er lässt nicht erkennen, dass sein Herz schneller schlägt. Nicht vor Valerian. Nicht vor irgendjemandem.
Denn es geht hier um Kian. Und um Elysia. Und dafür würde Ben jederzeit einstehen.
Valerian kommt die letzten Stufen hinunter. Seine Kleidung ist elegant, sein Auftreten gepflegt, aber seine Augen – sie sind kalt, gefährlich, bereits geladen mit einer Wut, die nur darauf wartet, sich entladen zu dürfen.
„Haben wir Besuch?“, fragt er. Seine Stimme ist glatt, doch darunter liegt etwas Scharfes, Unheilvolles.
Frau Schubert dreht sich nervös um. „Herr Auberon… es ist… Ben. Er...“
„Ben…?“ Valerians Kopf dreht sich zur Tür. Seine Miene gleitet von irritiert zu eiskalt. Er kommt näher, langsame Schritte, aber mit einer Präsenz, die den großen Flur kleiner wirken lässt. Er bleibt keine zwei Meter vor Ben stehen. Zu nah. Viel zu nah.
„Du.“ Valerians Stimme ist leise, aber voller Gift. „Was willst du hier?“
Ben bewegt sich nicht. Kein Wanken. Kein Zurückweichen. „Ich will reden“, sagt er ruhig.
„Mit dir?“, faucht Valerian. „Ich habe nichts mit dir zu besprechen.“
Ben verschränkt die Arme. „Oh, doch. Das hast du.“
Valerians Augen verengen sich. „Hau ab aus meinem Haus.“
Ben blinzelt nicht einmal. „Nein.“
Valerian atmet tief ein, als müsste er sich zusammenreißen, nicht sofort zuzuschlagen – und das ist keine Übertreibung. „Verschwinde“, zischt er, dieses Mal gefährlicher, dunkler, voller unterdrückter Gewalt.
Doch Ben reagiert kein Stück. Seine Stimme bleibt ruhig, fast erschreckend ruhig: „Du hörst mir jetzt zu. Weil das hier nicht mehr nur eine kaputte Ehe betrifft. Es geht um das Leben anderer Menschen. Menschen, die mir wichtig sind.“
Valerian lacht kurz auf – ein tonloses, bitteres Geräusch. „Du hast Elysia vergiftet. Du und deine kleine Freundin Hannah. Ihr habt sie mir immer entfremdet. Immer gegen mich aufgehetzt.“
Ben hebt langsam das Kinn. „Wir haben sie beschützt.“
Ein Muskel in Valerians Kiefer springt gefährlich. Doch Ben redet weiter, bevor Valerian etwas erwidern kann:
„Ich weiß, dass du jemanden auf Kian angesetzt hast. Und ich sag dir jetzt eins, Valerian: Wenn du glaubst, du kannst ihm schaden...“
„Ich kann tun, was ich will“, schneidet Valerian ihm das Wort ab. „Sie ist meine Frau.“
Ben atmet tief durch. Er bleibt so nah stehen, dass sie einander direkt in die Augen sehen. „Nicht mehr. Und schon gar nicht mehr in deinem Herzen.“
Valerians Wut flammt auf, heiß und unkontrolliert.
Frau Schubert wagt einen Schritt nach vorn. „Herr Auberon, bitte...“
Valerian ignoriert sie. Sein Blick ist auf Ben fixiert, als wäre er ein Eindringling, der getötet werden muss. „Verschwinde aus meinem Haus, Ben, bevor ich die Geduld verliere.“
Ben beugt sich leicht vor. „Dann verlier sie.“
Ein kurzer, gefährlicher Moment. Ein Moment, in dem alles explodieren könnte.
Valerian atmet hart aus – ein Laut voller Hass und Zorn, der nur von dünner Selbstbeherrschung im Zaum gehalten wird.
Frau Schubert steht zwischen ihnen, beide Hände erhoben, die Stimme brüchig: „Bitte… hören Sie auf. Beide. Das führt zu nichts… bitte…“
Doch niemand hört sie. Denn hier stehen zwei Männer gegenüber, die beide bereit sind, zu kämpfen – für zwei völlig verschiedene Dinge. Und die Eskalation liegt nur einen Atemzug entfernt.
Ben steht unbewegt und unbeeindruckt, zumindest äußerlich, im Türrahmen. Valerian vor ihm – ein Mann, der die Kontrolle über sich verliert, Stück für Stück, Wort für Wort.
Frau Schubert erkennt es zuerst. Das Zittern in Valerians Händen. Das Zucken der Kiefermuskulatur. Den Blick, der gefährlich flackert.
„Herr Auberon…“, flüstert sie. „Bitte...“
Zu spät. Valerian explodiert.
Mit einem Mal packt er Ben am Revers, mit einer Wucht, die man ihm nicht zugetraut hätte. Ben wird einen halben Schritt nach hinten gerissen.
„Du hast hier nichts verloren!“, schreit Valerian. „Du mischst dich in Dinge ein, die dich nichts angehen!“
Ben schnappt nach Luft, bleibt aber erstaunlich ruhig. Er packt Valerians Handgelenke, drückt sie weg – langsam, kontrolliert. „Lass mich los“, sagt er durch die Zähne, aber nicht aggressiv. Nur bestimmt.
Valerian stößt ihn mit der Schulter hart gegen den Türrahmen. Bens Rücken knallt dagegen, ein dumpfer Schmerz fährt durch ihn, aber er bleibt aufrecht stehen.
Frau Schubert schreit auf: „Herr Auberon! BITTE!“
Valerian hört sie nicht. Er schubst Ben erneut, dieses Mal mit noch mehr Kraft. Es ist kein Schlag – aber es ist die Art von Gewalt, die zeigt, wie knapp er am Abgrund steht.
Ben steht fest. Er wankt, aber fällt nicht. Sein Blick wird schärfer, seine Stimme dunkler. „Valerian. Hör auf damit.“
„NEIN!“ Valerian packt Bens Kragen wieder, zieht ihn zu sich. Sein Atem geht schnell, unkontrolliert. Wut tropft aus jeder Silbe: „Du hast keine Ahnung, was sie dir erzählt hat! Keine Ahnung, was zwischen uns war! Du hast alles zerstört! Du und diese… diese Leute, die ihr Leben vergiften!“
Ben schnaubt. „Sie hat dir nichts zerstört. DU hast sie zerstört.“
Das bringt Valerian endgültig zum Beben. Er holt aus, als wollte er Ben schlagen.
Doch Ben hebt die Hand. Fängt das Handgelenk ab. Drückt es langsam nach unten.
Er sagt leise, aber mit stählerner Klarheit: „Wenn du mich schlägst, schlägst du nicht mich. Du schlägst dich selbst. Und du beweist Elysia nur, warum sie nie zurück kommen sollte.“
Valerian ringt nach Luft. Wut, Schmerz und gekränkter Stolz ziehen wie ein Sturm durch sein Gesicht.
Und genau in dem Moment… macht Frau Schubert den Schritt, den sie nie tun wollte.
Sie greift mit zitternden Händen zum Haustelefon an der Wand. Ihre Stimme bebt: „Es tut mir leid, Herr Auberon… aber ich rufe jetzt die Polizei.“
Valerian erstarrt. Dreht den Kopf langsam, als würde er nicht glauben, was er hört. „WAS?“, zischt er.
Ben nutzt den Moment, um Valerians Hand endgültig von sich zu lösen und einen sicheren Schritt zurückzutreten.
Frau Schubert stützt sich an der Wand, hält den Hörer fest an ihr Ohr. „Ja… bitte… ich brauche dringend Hilfe… Es gibt hier… einen körperlichen Zwischenfall… Ja, Auberon-Villa… bitte… schicken Sie jemanden…“
Valerian reißt die Augen weit auf. „FRAU SCHUBERT!“, seine Stimme ist ein unkontrollierter Schrei.
Aber sie wendet sich von ihm ab, die Schultern angespannt, Tränen in den Augen.
Ben sagt nur: „Gut so.“
Valerian dreht sich wieder zu Ben – seine Wut jetzt gemischt mit etwas anderem: Angst. Er stößt ein keuchendes Lachen aus, schmerzlich, verzweifelt. „Du hast keine Ahnung, was du getan hast…“
Ben steht völlig ruhig im Türrahmen. „Oh doch“, sagt er leise. „Ich habe Elysia und Kian Zeit verschafft.“
Valerians Brust hebt und senkt sich schnell. Sirenen sind noch keine zu hören – aber beide wissen, dass es jetzt nur noch eine Frage von Minuten ist.
Frau Schubert hängt noch mit der Polizei am Telefon, ihre Stimme zittrig, während sie die Adresse durchgibt. Ben steht im Türrahmen, die Schultern breit, der Blick fest auf Valerian gerichtet.
In Valerians Kopf überschlägt sich alles: Polizei. Verrat. Kontrollverlust. Sterling. Etwas in ihm reißt.
Ohne Vorwarnung schlägt er zu.
Seine Faust trifft Ben seitlich am Kinn, hart und ungebremst. Ben wird nach hinten gerissen, torkelt einen Schritt zurück, prallt fast gegen den Türrahmen und fängt sich mit der Hand an der Wand.
Ein dumpfer Schmerz zieht heiß durch sein Gesicht. Er greift sich ans Kinn, atmet scharf ein, aber er schlägt nicht zurück. Keine Gegenwehr. Keine Vergeltung. Nur ein ruhiger, finsterer Blick.
Frau Schubert schreit auf: „HERR AUBERON!“
Im Hintergrund hört man die Stimme der Polizei aus dem Hörer: „Hallo? Sind Sie noch dran?“
„Ja!“, ruft sie panisch. „Bitte beeilen Sie sich, es ist... es ist eskaliert!“
Valerian steht keuchend da, die Hand noch halb erhoben. Der Schlag hat ihn nicht beruhigt – nur leerer gemacht.
Ben richtet sich langsam wieder auf, massiert sich das schmerzende Kinn, seine Augen bleiben an Valerian hängen. „Genau das…“, sagt er leise, aber eindringlich, „ist der Mann, vor dem Elysia Angst hat.“
Der Satz trifft Valerian fast härter als jeder Gegenschlag. Für einen Moment wirkt er, als würde er wirklich realisieren, wie das gerade aussieht: Er, der reiche, kontrollierte Auberon. Und er, der Mann, der dem Freund seiner Ex-Frau eine reinhaut, während die Haushälterin die Polizei ruft.
Polizei.
Das Wort trifft ihn wie ein Eimer kalten Wassers. Er reißt den Kopf herum, starrt Frau Schubert an. „Haben Sie den Verstand verloren?!“, faucht er. „Die Polizei? Hier?!“
Frau Schubert zittert, Tränen in den Augen. „Jemand musste Sie aufhalten.“
Er atmet hart, seine Gedanken rasen. Ein öffentlicher Eklat wäre das Letzte, was er gebrauchen kann. Schlag gegen einen Besucher, Polizeibericht, mögliche Anzeige... Das könnte ihm gesellschaftlich und geschäftlich schaden.
Und plötzlich wird ihm klar: Wenn die Polizei hier aufkreuzt, dann muss alles andere aussehen wie ein Missverständnis. Wie ein emotionaler Ausrutscher. Nichts weiter.
Er greift fast reflexartig nach seinem Handy. Sein Daumen fliegt über das Display. Er tippt eine Nachricht an Kessler:
SOFORT STOPPEN. Beobachtung beenden. Zurück nach Falkensee. Keine Aktion gegen Sterling oder Elysia. Sofort.
Er drückt auf Senden. Seine Kiefermuskeln arbeiten, während er auf die Bestätigung starrt, dass die Nachricht raus ist. Dann steckt er das Handy weg, atmet hart durch und versucht, seine Stimme wieder unter Kontrolle zu bringen.
„Frau Schubert“, sagt er angespannt, „Sie sagen der Polizei, es war ein Missverständnis. Ein emotionales Gespräch. Nichts weiter.“
Ben schnaubt leise, drückt noch immer das schmerzende Kinn. „Ein Missverständnis, hm?“, sagt er trocken. „So nennst du das also.“
Valerian schaut ihn an – noch immer voller Zorn, aber jetzt mischt sich Berechnung darunter. Die Sirenen sind noch nicht zu hören. Aber sie kommen. Und er weiß, dass er seine Karten jetzt anders ausspielen muss.
Draußen in der Dunkelheit vibriert ein Handy in einem schwarzen SUV.
Kessler liest die Nachricht. Sein Blick verengt sich. Der Befehl ist klar. Abbruch. Rückzug. Alles zurück nach Falkensee.
Doch nicht, weil sich die Gefahr aufgelöst hätte. Sondern weil Valerian gerade an einer ganz anderen Front versucht, die Kontrolle zu behalten.