Falkensee - Kapitel 37
Die Tür der Polizeiwache schwingt hinter Ben und Hannah zu. Ein kalter Wind fegt über den Parkplatz, aber Ben atmet zum ersten Mal wieder richtig durch.
Er bleibt stehen, schließt kurz die Augen und lässt die schwere Anspannung von seinen Schultern fallen.
Hannah beobachtet ihn, eine Hand auf seinem Arm, die andere schützend über ihren Babybauch gelegt. „Und?“, fragt sie sanft. „Wie fühlst du dich?“
Ben öffnet die Augen und sieht sie an. Ein kleines, müdes, aber ehrliches Lächeln breitet sich auf seinem Gesicht aus. „Gut“, sagt er mit belegter Stimme. „Wirklich gut. Ich bin froh, dass… dass es jetzt schwarz auf weiß ist. Dass ich nicht mehr schweigen muss.“
Hannah nickt langsam, mit einem Ausdruck von Stolz und Sorge zugleich. „Du hast das Richtige getan.“
„Ich weiß.“ Ben steckt die Hände in die Jackentaschen gegen die Kälte. „Ich habe ihnen alles gesagt… wirklich alles. Auch, dass Kessler Elysia beschattet hat. Und dass er Kian verfolgt hat. Die Beamten waren schockiert – ich glaube, das haben sie in diesem Ausmaß nicht erwartet.“
Hannah schluckt. „Und was haben sie gesagt?“
Ben atmet tief aus. „Dass das ernst ist. Dass es jetzt Ermittlungen geben wird. Und dass…“, er sieht sie an, „…Valerian sich warm anziehen muss.“
Sie lächelt schwach, aber das Zittern in ihren Fingern verrät, dass die Angst noch nicht weg ist. Ben nimmt ihre Hand und drückt sie beruhigend.
„Hey. Wir sind nicht mehr allein damit. Und Kian und Elysia auch nicht.“
„Ich weiß…“ Ihre Stimme bricht leicht. „Ich wollte einfach nur, dass dieser Mann endlich aufhört, Menschen zu zerstören.“
Ben zieht sie kurz an sich. „Das wird er. Egal, was passiert – der Stein ist ins Rollen gekommen.“
Sie bleiben einen Moment so stehen, eng umschlungen, während Autos vorbeifahren und das Leben draußen weitergeht.
Dann löst Hannah sich ein wenig. „Wir sollten nach Hause fahren. Kian und Elysia sollten wissen, dass wir bei der Polizei waren.“
Ben nickt. „Ja. Und diesmal… machen wir es richtig.“
Sie steigen ins Auto ein. Ben startet den Motor. Auf seinem Gesicht liegt eine Entschlossenheit, die er lange nicht hatte. Er weiß, dass Valerian gefährlich reagiert. Er weiß, dass er vielleicht etwas ausgelöst hat.
Aber zum ersten Mal fühlt er sich nicht machtlos. Die Wahrheit ist nun nicht mehr nur ein Gedanke – sie steht auf Papier. Mit seiner Unterschrift darunter. Und das ist der Anfang.
Ben und Hannah gehen Arm in Arm den Gehweg entlang, weg von der Polizeiwache und hinein in die vertrauten Straßen von Falkensee. Die Luft ist kalt, aber das erste Mal seit Tagen fühlen sie sich nicht bedrückt.
Ben zieht Hannah ein Stück näher zu sich. „Weißt du was?“, beginnt er mit einem Grinsen.
Hannah hebt eine Augenbraue. „Jetzt bin ich gespannt.“
„Ich bin mir absolut sicher: Es wird ein Junge.“
Hannah lacht leise. „Ach ja? Und wie kommst du darauf, Mister Hellseher?“
Ben tippt sich bedeutungsvoll an die Schläfe. „Einfach ein Gefühl. Vaterinstinkt. Ich sag’s dir: Es wird ein kleiner Kerl. Ein echter Wirbelwind. Und später wird er ein angesagter Sportler. Fußball, vielleicht Handball… oder beides!“
Hannah bleibt stehen. Sie starrt ihn an. Dann bricht sie in schallendes Gelächter aus. „Ben! Du bist doch nicht mal sportlich!“
„Hey!“ Ben tut beleidigt. „Ich war mal in Topform!“
„Wann denn bitte?“ Sie wischt sich eine Lachträne aus dem Augenwinkel. „Als du 15 warst und zweimal zum Training erschienen bist?“
Ben schnaubt gespielt entrüstet. „Ich hatte Potenzial! Unentdecktes Talent! Eine unfaire Trainerin, die mich nicht mochte!“
Hannah grinst. „Oder… du warst einfach schlecht.“
Sie gehen wieder weiter, Ben schüttelt den Kopf, aber er lacht mit. „Na gut, die Wahrheit ist: Ich hoffe, unser Kind wird deinen sportlichen Ehrgeiz erben. Nicht meinen.“
„Na dann“, sie stupst ihn sanft in die Seite, „hoffen wir mal, dass unser Baby überhaupt Lust hat, Sport zu machen.“
Ben nickt weise. „Oder es wird ein Genie. Oder ein Musiker. Oder ein Astronaut!“
„Oder es wird einfach nur glücklich“, sagt Hannah, plötzlich ganz weich werdend.
Ben bleibt stehen, dreht sich zu ihr und nimmt ihr Gesicht sanft in die Hände.
„Das ist das Wichtigste. Egal, ob Junge oder Mädchen. Egal, ob Sportskanone oder Couchpotato.“ Er lächelt. „Hauptsache gesund. Hauptsache glücklich. Hauptsache… unseres.“
Hannahs Augen werden feucht – diesmal aber aus Rührung, nicht aus Angst.
„Ich liebe dich, Ben.“
„Ich liebe dich auch“, sagt er und küsst sie sanft.
Sie gehen weiter, Hand in Hand, und reden dann über die verrücktesten Babynamen. Hannah schlägt „Balthasar“ vor, woraufhin Ben beinahe stehen bleibt. Er schlägt „Ragnar“ vor – Hannah verdreht die Augen so stark, dass sie kurz Sternchen sieht.
Für einen Moment gibt es keine Bedrohung, keine Angst, keine dunklen Schatten. Nur zwei Menschen, die sich lieben. Und ein Baby, das unter Hannahs Herz leise heranwächst.
Das Licht im Wohnzimmer ist warm und gedämpft, nur die kleine Stehlampe in der Ecke wirft einen sanften goldenen Schein auf die Couch. Kian und Elysia liegen eng ineinander verschlungen, eingehüllt in eine weiche Wolldecke. Ihre Haut ist warm, ihre Körper entspannt, die Luft erfüllt von dieser besonderen Ruhe, die nur nach Momenten großer Nähe entsteht.
Elysias Kopf ruht auf Kians Brust. Er streicht langsam mit den Fingern durch ihr Haar, immer wieder, als wolle er jeden Gedanken, jede Sorge aus ihr herauskämmen. Für einen langen Augenblick sagt keiner etwas. Sie müssen es auch nicht – der Raum fühlt sich erfüllt an.
Schließlich bricht Elysia die Stille mit einem leisen Lächeln in der Stimme. „Es ist verrückt, oder? Wie glücklich ich bin… trotz allem.“
Kian sieht zu ihr hinunter, sein Blick weich. „Ich auch.“ Er küsst ihre Stirn. „Und weißt du, was das Verrückteste ist? Dass wir am Anfang beide so vorsichtig waren. Wie zwei Menschen, die nicht ganz glauben können, dass es beim ersten Blick wirklich gefunkt hat.“
Elysia schmunzelt gegen seine Haut. „Ich hab mich damals so blöd angestellt“, murmelt sie. „Ich war nervös. Und ich wusste nicht, ob… ob du überhaupt Interesse hättest.“
Kian lacht leise. „Elysia… ich war komplett verloren, als ich dich gesehen habe. Du hattest mich nach zwei Sekunden.“
Sie hebt den Kopf und schaut ihn an – dieses Strahlen in ihren Augen ist warm, tief und voller Vertrauen. „Ich glaube, ich hab mich in genau dem Moment verliebt, als du mir dein verschmitztes Lächeln geschenkt hast“, gesteht sie.
„Es hat mich getroffen wie ein Blitz. Aber ich wollte es nicht wahrhaben.“
„Und jetzt?“, fragt Kian, seine Stimme kaum mehr als ein Flüstern.
Elysia rutscht ein Stück nach oben, sodass ihre Gesichter nah beieinander liegen, ihr Atem sich mischt. „Jetzt…“ Ihre Finger fahren sanft über seine Wange. „…weiß ich, dass ich angekommen bin.“
Kian schließt die Augen für einen Moment, als würden ihre Worte ihn mitten ins Herz treffen. „Ich auch“, sagt er leise. „Egal wie kompliziert es ist, egal was noch kommt. Es war jede Minute wert. Jeder Schritt. Jede Nacht, in der wir uns vermisst haben. Alles.“
Sie kuschelt sich wieder an ihn, und er hält sie fest, schützend und liebevoll, als wäre sie das Wertvollste auf dieser Welt.
Für diesen Moment existiert nur der Raum. Die Wärme der Decke. Das gedämpfte Licht. Das leise Atmen des anderen. Keine Angst. Kein Valerian. Keine Bedrohung. Nur sie. Zusammen. Ein Wir.
„Kian?“, flüstert Elysia schließlich.
„Hm?“
„Ich bin glücklich.“
Kian lächelt und drückt sie zärtlich an sich. „Ich auch. Sehr sogar.“
Und für eine Weile bleiben sie einfach so liegen, eingehüllt in Liebe, Wärme und der Gewissheit, dass sie etwas gefunden haben, das größer ist als alles, was sie hinter sich gelassen haben.
Elysia zeichnet mit dem Finger kleine Kreise auf Kians Brust, sie genießen einander. Seine Finger fahren streichelnd über ihren Rücken. Der Moment könnte kaum perfekter sein.
Doch dann vibriert plötzlich Kians Handy auf dem Couchtisch. Beide zucken leicht zusammen – nicht aus Schreck, sondern weil dieser Zauber gerade so ungestört war.
Kian sieht zu dem Gerät hinüber. „Ben“, sagt er leise, als der Name auf dem Display aufleuchtet.
Elysia hebt den Kopf ein wenig. Ihr Blick wird ernster. „Geh ruhig ran“, murmelt sie. „Es ist wichtig.“
Kian nickt und zieht die Wolldecke ein Stück höher über ihre Schultern, bevor er sich rüberbeugt und das Telefon nimmt. Er lehnt sich wieder zurück, zieht Elysia in die Arme und nimmt den Anruf an.
„Hey, Ben? Was gibt's?“
Bens Stimme kommt klar, aber ein wenig erschöpft durch den Lautsprecher.
„Ja, alles in Ordnung. Ich wollte mich nur kurz melden. Und… äh… dir sagen, dass ich es getan habe.“
Kian runzelt die Stirn. „Was genau?“
„Ich habe Valerian angezeigt.“
Elysia atmet hörbar ein. Kian legt beruhigend eine Hand auf ihren Rücken.
Ben spricht weiter: „Ich war heute Morgen mit Hannah auf der Wache. Ich hab ihnen alles erzählt. Auch über Kessler. Und über die Verfolgung. Alles.“
Kian blinzelt. Er wirkt überrascht – aber positiv. „Ben… das ist großartig. Wirklich. Danke.“
Auf der anderen Seite hört man ein kurzes, erleichtertes Auflachen. „Ja, ich glaube auch, dass es richtig war. Die Beamten haben nicht schlecht geguckt, als sie gehört haben, was der Typ alles treibt. Sie meinten, es gäbe bereits Hinweise aus anderen Richtungen… ich glaube, da tut sich was.“
Elysia rückt näher an Kian und hört jedes Wort fast angespannt mit.
„Ben…“, sagt sie schließlich leise, und Kian schaltet den Lautsprecher an.
„Danke. Wirklich. Ich weiß nicht, was ich sagen soll.“
Bens Stimme wird warm. „Du musst gar nichts sagen, Lys. Du bist meine Freundin. Und ich lasse nicht zu, dass dieser Mann dir oder irgendjemandem, den ich liebe, etwas antut.“
Elysia schluckt und lächelt traurig. „Ich hab so viel Angst“, gesteht sie.
Ben antwortet sofort, fest: „Jetzt hast du weniger Grund dazu.“
Kian nickt zustimmend. „Das war ein großer Schritt“, sagt Kian. „Und er wird Konsequenzen haben.“
„Ja“, antwortet Ben. „Aber jetzt sind die Konsequenzen endlich auf seiner Seite, nicht mehr auf eurer.“
Einen Moment herrscht Stille – nicht unangenehm, sondern bedeutungsvoll.
Dann: „Ich wollte euch das nur sagen, bevor ich’s mir wieder anders überlege“, scherzt Ben.
Kian lacht leise. „Mach dir keine Sorgen, wir hätten irgendwann nachgebohrt.“
„Bitte nicht!“, ruft Ben gespielt entsetzt, und man hört Hannah im Hintergrund lachen.
Elysia lächelt. „Grüß Hannah von uns.“
„Mach ich. Wir reden später, ja?“
„Ja“, sagt Kian. „Danke nochmal. Für alles.“
Sie verabschieden sich, und Kian legt das Handy zur Seite. Er sieht Elysia an. Ihr Blick ist weich, aber tief bewegt. „Ein Schritt in die richtige Richtung“, sagt er leise.
Elysia nickt, legt die Stirn gegen seine Brust und atmet langsam aus. „Ja… endlich.“
Kaum hat Kian das Handy weggelegt, zieht er Elysia wieder unter die Wolldecke und drückt einen langen, liebevollen Kuss auf ihren Kopf. „Du bist unglaublich“, murmelt er.
Elysia lächelt und kuschelt sich tiefer an seine Brust.
Doch Kian, bleibt nicht still liegen. Er rutscht ein Stück näher, dann drückt er leicht mit der Hüfte gegen sie, so spielerisch, dass Elysia sofort leise auflacht.
„Kian!“, protestiert sie grinsend. „Wenn du so weitermachst, liegst du gleich allein auf der Couch.“
Er tut völlig entrüstet. „Ich? Dir Platz wegnehmen? Niemals.“ Er drängelt demonstrativ erneut ein kleines Stück gegen sie. Gerade so viel, dass sie ihn spürt, aber nicht genug, um sie wirklich zu verschieben.
Elysia schnaubt und schlingt plötzlich einen Arm um seine Schultern – und beißt ihm ganz leicht und frech in die Schulter.
„Autsch!“ Kian lacht laut und überrascht. „Was ist das denn?! Hast du mich gerade gebissen?!“
Elysia hebt den Kopf, ihre Augen funkeln. „Tja, ich hab dich gewarnt.“
Kian starrt sie gespielt empört an. „Du bist ja eine richtige Raubkatze!“
„Wenn du so weitermachst, kriegst du die Krallen zu spüren“, neckt sie und stupst ihn mit der Nase.
Er zieht sie näher an sich, sein Lachen warm und tief. „Weißt du…“, sagt er mit einem frechen Funkeln in den Augen, „…eine glückliche Frau macht hungrig.“
Elysia hebt eine Augenbraue und tut überrascht. „Ach ja? Und wie genau soll ich das bitte verstehen?“
Kian zieht sie halb unter sich, halb neben sich, sodass die Decke verrutscht und ihre Beine sich enger verschlingen. „So“, murmelt er und küsst sie sanft unter das Ohr, „dass ich von dir einfach nicht genug kriegen kann.“
Ihr Lachen wird weicher, tiefer – eines, das direkt aus dem Herzen kommt. Sie krallt spielerisch die Finger in sein Haar und zieht ihn ein Stück näher.
„Gut“, flüstert sie. „Ich will nämlich auch mehr.“
Kian grinst gegen ihre Haut. „Ich hab’s geahnt.“
Sie liegen eng miteinander verknotet auf der Couch, scherzen, lachen, küssen sich – und für eine lange, kostbare Weile gehört die Welt nur ihnen beiden.
Keine Angst. Kein Streit. Kein Valerian.
Irgendwann zwischen Lachen, Küssen und halb ernst gemeinten Drohungen knurrt plötzlich Elysias Bauch leise.
Kian hält inne, hebt den Kopf und grinst. „War das gerade ein Protest deinerseits?“
Elysia schnaubt gespielt empört. „Das war Hunger. Du hast mich hungrig gemacht.“
„Dann retten wir dich mal vor dem Hungertod“, sagt Kian dramatisch und schält sich unter der Wolldecke hervor.
Elysia steht ebenfalls auf, zieht sein Hemd über den nackten Körper. Es reicht ihr bis zur Mitte der Oberschenkel und riecht nach Kian – ein Duft, der sie weich werden lässt.
Kian bleibt kurz stehen und schaut sie an. „Du darfst das nie wieder ausziehen“, murmelt er.
Sie grinst. „Wenn du brav bist.“
Er lacht leise, greift nach seiner Jeans und zieht sie über, noch barfuß und mit zerzausten Haaren, dann nimmt er Elysias Hand. „Ab in die Küche. Chefkoch Sterling ist bereit.“
„Chefkoch?“, fragt sie skeptisch. „Wir kochen Spaghetti. Mit Fertigsauce. Aus dem Beutel, Kian.“
Er legt sich die Hand aufs Herz. „Manchmal verlangt das Leben nach kulinarischen Meisterwerken.“
„Genau“, sagt Elysia trocken. „Beutel-Pulver-Sauce á la Kian.“
Sie betreten die kleine, gemütliche Küche. Elysia öffnet den Schrank, fischt Spaghetti heraus. Kian nimmt den Topf vom Regal - mit etwas zu viel Schwung.
„Mach bitte nix kaputt“, neckt sie und stellt sich neben ihn.
„Ich habe alles im Griff“, behauptet er mit einer Überzeugung, die er absolut nicht hat.
Sie gießt Wasser in den Topf, Kian dreht den Herd auf. Dann steht er plötzlich dicht hinter ihr, legt die Arme seitlich neben sie auf die Arbeitsfläche.
„Du siehst wunderschön aus“, flüstert er an ihrem Nacken.
Sie dreht den Kopf, ihr Lächeln ist weich und glücklich. Doch sie stößt ihm leicht mit der Hüfte gegen die Seite. „Nicht ablenken, Mister. Wir wollen essen.“
„Stimmt… und ich habe großen Hunger.“ Er beugt sich vor. „Sehr großen.“
Elysia lacht, schiebt ihn weg und hält ihm die Tüte mit der Fertigsauce entgegen.
„Dann kümmere dich um deinen Teil. Du bist doch Chefkoch, hab ich gehört?“
Kian nimmt die Tüte wie ein wertvolles Artefakt. „Mit Stolz.“
Er reißt sie auf – und ein Teil des Pulvers staubt direkt auf die Arbeitsplatte.
Elysia lacht laut. „Wow. Ein Naturtalent.“
„Das gehört so“, behauptet Kian ernst. „Für den Geschmack.“
„Ach so? Für den Geschmack.“
„Ganz genau.“
Nudeln kochen. Sauce klumpt erst, wird dann glatt. Kian würzt übertrieben theatralisch mit einer Prise Salz.
Und Elysia merkt, wie warm es ihr ums Herz wird. Nicht wegen des Essens. Sondern weil dieser Mann, barfuß, nackter Oberkörper in ihrer Küche, lächerlich stolz auf seine Tüten-Sauce und verliebt von oben bis unten, ihre Welt plötzlich so unendlich leicht macht.
Der Himmel über Brunnental ist ein grauer, schwerer Deckel. Der Schnee der vergangenen Tage ist zu schmutzigem Matsch geworden, der sich an den Straßenrändern sammelt und die ganze Stadt in ein trübes, kaltes Licht taucht.
Valerians Wagen rollt über die Landstraße. Er fährt schnell – zu schnell – aber sein Blick ist fest, starr nach vorne gerichtet. Die Hände umklammern das Lenkrad so fest, dass die Knöchel weiß hervortreten.
Brunnental. Der Name allein lässt seinen Puls höher schlagen. Er biegt auf die Hauptstraße ein. Die Häuser wirken klein, eng beieinander, provinziell. Eine Welt, die er verachtet. Eine Welt, die Elysia ihn spüren ließ, obwohl sie es nie sagte.
„Du wolltest also hier neu anfangen…“, murmelt er, während sein Blick durch die Straßen schweift. „Ohne mich.“
Sein Magen zieht sich zusammen. Er fährt langsamer, als er die Ecke mit der kleinen Bäckerei passiert. Menschen stehen in dicken Jacken an der Ampel, ein Kind sieht zu ihm. Alles wirkt friedlich. Zu friedlich.
Valerian kneift die Augen zusammen. Elysia hatte hier gelebt. Sich bewegt. Gelacht. Gearbeitet. Und irgendwo hier – irgendwo hier – ist dieser Mann. Dieser Kian Sterling. Der Eindringling.
Er biegt in die Seitenstraße, die zu Elysias Wohnblock führt. Jedes Detail brennt sich in seine Wahrnehmung: die grauen Fassaden, die parkenden Autos, die kahlen Bäume im Wind.
Dann hält er an. Er sieht das Gebäude. Ihren Eingang. Die Haustür, durch die sie gegangen sein muss. Vielleicht erst heute Morgen.
Ein Ausdruck breitet sich über sein Gesicht aus – kein Zorn, kein Schmerz. Etwas Schlimmeres: eine kalte, absolute Entschlossenheit.
Er schaltet den Motor aus. Die Stille im Auto wirkt bedrohlich. Valerian greift in seine Manteltasche. Spürt das Gewicht. Kalt. Versteckt. Bereit.
Er atmet tief ein, als würde er sich sammeln. „Ich hole nur zurück, was mir gehört.“
Langsam öffnet er die Autotür. Ein eisiger Windstoß empfängt ihn, bläst ihm Haare ins Gesicht, zerrt am Mantel… aber er spürt ihn kaum.
Sein Blick bleibt auf den Eingang gerichtet. Kein Zögern. Kein Innehalten. Er tritt auf den Gehweg hinaus. Schließt die Autotür leise.
Um ihn herum geht das Leben weiter, ahnungslos. Doch Brunnental ist nicht mehr derselbe Ort wie vor wenigen Minuten.
Denn Valerian Auberon ist angekommen.
Valerian lehnt scheinbar beiläufig an seinem Wagen, doch sein Körper ist angespannt wie ein Draht. Der kalte Wind zerrt an seinem Mantel, wirbelt einzelne Schneereste über den Gehweg, doch er spürt davon nichts.
Sein Blick ist fest auf den Eingang von Elysias Wohnblock gerichtet. Regungslos. Wachsam. Wie ein Raubtier vor der richtigen Sekunde.
Er zieht den Mantel enger um sich und verschränkt die Arme – nicht aus Kälte, sondern aus Geduld. Geduld, die ihm eigentlich nie lag. Doch heute ist anders. Heute zählt nur eines: Der richtige Moment.
Die Straße ist ruhig. Ein älteres Ehepaar geht mit Einkaufstaschen vorbei, nickt ihm freundlich zu. Er ignoriert sie. Autos rollen langsam durch den Matsch. Ein Fahrradfahrer flucht leise. Alltagsgeräusche. Doch für Valerian klingt alles dumpf, verschwommen, unwichtig.
Sein Fokus liegt einzig auf der Tür. Auf dem Weg hinein. Auf dem Ort, an dem sie ist.
„Du kannst dich nicht für immer verstecken“, murmelt er leise, kaum hörbar.
Eine Viertelstunde vergeht. Vielleicht mehr. Die Zeit verschwimmt.
Dann endlich: Die Tür öffnet sich. Ein Mann tritt hinaus, eine Kapuze tief ins Gesicht gezogen, Kopfhörer auf den Ohren. Er bemerkt Valerian nicht. Schlendert an ihm vorbei, ohne einen einzigen Blick.
Die Tür fällt nicht sofort ins Schloss. Ein kleiner Spalt bleibt offen. Sekundenlang.
Das ist es. Der Moment, auf den Valerian gewartet hat.
Ohne Hast, aber zielgerichtet, stößt er sich vom Auto ab und geht los. Seine Schritte sind ruhig, kontrolliert.
Als er die Tür erreicht, hält sie der Wind noch gerade so offen. Er muss sie nicht einmal berühren, um hindurchzugleiten. Er tritt ins Treppenhaus. Der Geruch der Wände, der Klang der Schritte, die gedämpfte Wärme im Inneren – all das trifft ihn wie ein Schlag.
Hier wohnt sie also. Hier lebt sie. Hier liebt sie.
Seine Kiefermuskeln zucken. Valerian lässt die Tür leise hinter sich ins Schloss fallen.
Jetzt ist er drin. Und Brunnental weiß nicht, wie nah der Sturm wirklich ist.
Während Valerian unbemerkt in das Treppenhaus tritt, erfüllt die kleine Küche oben in Elysias Wohnung ein völlig anderer Klang: Lachen.
Kian steht am Herd, das Sieb in der einen Hand, die dampfenden Nudeln in der anderen. Elysia sitzt auf der Arbeitsplatte – immer noch in seinem viel zu großen Hemd – und beobachtet ihn amüsiert.
„Pass bloß auf, dass du dir nicht die Finger verbrennst, Chefkoch“, neckt sie.
Kian schnaubt gespielt empört. „Ich? Bitte. Ich bin Profi.“
Genau in dem Moment spritzt etwas Nudelwasser über seine Hand. „Au! Verdammt!“
Elysia lacht herzlich, fast schon schallend. „Ein Profi, hm?“
Kian hält sich theatralisch die Hand. „Das war… ein Test. Für die Sicherheit. Für die… Temperatur.“
„Ja, ja, natürlich.“ Elysia zieht ihn am Saum der Hose näher zu sich. „Komm her, du Held in der Küche.“
Er tritt zu ihr, legt die Hände neben ihren Beinen auf die Arbeitsplatte, sodass er sie einkreist. „Weißt du eigentlich“, beginnt er mit einem schiefen Lächeln, „wie unglaublich schön du aussiehst, wenn du mich auslachst?“
Sie schmunzelt, legt die Arme um seinen Hals. „Dann sollte ich das vielleicht öfter tun.“
„Bitte nicht zu oft. Mein Ego ist empfindlich.“
Elysia drückt ihm einen sanften Kuss auf die Lippe. „Du hast das größte Ego von uns beiden.“
Kian tut, als müsse er darüber nachdenken. „Hmm. Vielleicht. Aber immerhin hab ich dich.“
Elysias Lachen wird weicher. Sie lehnt ihre Stirn gegen seine. „Und ich hab dich.“
In diesem Moment gibt das Nudelwasser wieder Blasen von sich, als würde es sich beschweren, dass es vernachlässigt wird.
Elysia schmunzelt. „Wir sollten kochen, bevor wir alles anbrennen lassen.“
Kian löst sich von ihr – widerwillig – und geht zurück zum Herd, um die Nudeln abzuschütten. „Mir brennt nichts an“, murmelt er mit einem Augenzwinkern, „solange du hier bist.“
Elysia wirft ein Handtuch nach ihm. Er fängt es lachend auf.
Die Küche ist voller Wärme, voller Alltag, voller Liebe.
Sie haben keine Ahnung, dass sich nur wenige Meter weiter im Treppenhaus jemand befindet, der nichts davon erträgt.
Das Treppenhaus ist warm, aber Valerian spürt keine Wärme. Er steht reglos da, einen Schritt von der Wand entfernt, die Hände in den Manteltaschen vergraben. Sein Atem ist ruhig – viel zu ruhig für das, was in seinem Inneren brodelt.
Von oben dringen Geräusche zu ihm herunter. Stimmen. Zuerst unklar, verzerrt durch Beton und Türen. Dann lauter. Dann deutlich.
Elysias Stimme. Er kennt sie sofort. Dieser Klang – weich, hell, sanft vibrierend, wenn sie lacht. Früher hat sie ihn beruhigt. Heute trifft sie ihn wie ein Stich ins Fleisch.
Ein helles Lachen hallt die Treppen hinunter. Elysia. Lachend. Und eine zweite Stimme – männlich. Warm, tief, vertraut. Kian.
Valerian erstarrt. Er schließt die Augen einen Moment, und die Geräusche werden noch schärfer: Ihr Lachen. Sein Lachen. Ein warmer, vertrauter Ton zwischen ihnen – Intimität, Nähe, Leichtigkeit.
Etwas, das er seit Jahren nicht mehr hatte. Etwas, das er verloren hat. Etwas, das sie ihm genommen hat. Oder… wie er es in seinem verzerrten Denken sieht: etwas, das dieser fremde Mann ihm gestohlen hat.
Seine Kiefermuskeln verhärten sich. Seine Finger verkrampfen sich im Mantelstoff. Er macht einen Schritt auf die Treppe zu – langsam, leise, kontrolliert. Jedes Wort, jeder Laut bahnt sich seinen Weg durch die Stille zu ihm:
„Kian, du bist unmöglich!“ Elysias Stimme – leicht atemlos vor Lachen.
„Und du liebst es.“ Kians Antwort – verspielt, warm, viel zu intim.
Wieder dieses Lachen. Wie ein Echo aus der Vergangenheit, das er verloren hat. Valerian spürt, wie ihm heiß wird, obwohl die Luft kühl ist. Ein glühender, eifersüchtiger Zorn steigt in ihm auf.
Wie kann sie lachen? Wie kann sie glücklich sein, während er leidet? Wie kann sie ihn einfach ersetzen?
Er atmet flach ein. Sein Blick wandert nach oben, Stufe für Stufe. Er lauscht wie ein Jäger, der sein Ziel endlich lokalisiert hat. Die Stimmen kommen aus einem der oberen Stockwerke. Aus einer Wohnung über ihm. Ihre Wohnung.
Sein Herz schlägt schneller. Nicht aus Angst. Aus Entschlossenheit.
Er macht einen weiteren Schritt nach oben. Langsam. Bedächtig. Lautlos. Als würde jedes Geräusch ihn verraten.
Elysia spricht gerade etwas – die Worte sind zu gedämpft, um sie zu verstehen. Doch der Klang dahinter ist klar: Glück. Zufriedenheit. Zärtlichkeit.
Und das ist für Valerian unerträglich.
„Du gehörst zu mir“, formt sein Mund lautlos. „Nicht zu ihm.“
Seine Augen werden schmal. Er steigt weiter die Treppe hinauf. Stufe für Stufe. Dem Lachen entgegen. Dem Ort entgegen, an dem seine Welt – in seinen Augen – „korrigiert“ werden muss.
Und während oben Spaghetti gekocht und Witze gemacht werden, schleicht sich im Treppenhaus ein Schatten immer näher heran.
Valerian steht jetzt direkt vor Elysias Wohnungstür. Nur wenige Zentimeter trennen ihn von der Welt, die sie sich ohne ihn aufgebaut hat. Von der Wärme, der Nähe, dem Lachen, das er noch vor Minuten aus dem Treppenhaus gehört hat.
Er legt eine Hand an die Wand neben der Tür. Sein Atem geht flach, doch seine Augen sind vollkommen wach.
Innen dringt gedämpftes Stimmengewirr nach draußen. Kian. Elysia. Er versteht nicht jedes Wort – die Tür dämpft viel davon –, aber immer wieder dringen Fetzen durch: „…neue Stadt…“ „…vielleicht ein Neuanfang…“ „…wir beide…“ „…zusammen…“
Valerian schließt die Augen. Die Worte treffen ihn härter als jeder Schlag. Eine neue Stadt? Sie? Mit ihm?
Sein Magen zieht sich krampfhaft zusammen. Der Boden unter seinen Füßen scheint für eine Sekunde zu schwanken. Sie will weg. Mit einem anderen Mann. Sie will ein Leben mit ihm – und ohne Valerian.
Wieder dringen Worte nach draußen: „…weit genug weg…“ „…endlich sicher…“ „…unsere Zukunft…“
Valerians Atem stockt. „Unsere Zukunft.“ Das Wort hallt in seinem Schädel wie ein Donnerschlag. Seine Finger krallen sich in den Mantelstoff.
Sein Blick wird glasig, als könnte er durch die Tür hindurchsehen: Elysia, eingehüllt in Kians Hemd. Ihr Lachen. Der Duft von Essen. Zwei Menschen, die etwas planen, das sie glücklich macht. Und er hat keinen Platz mehr darin.
Nicht er, der sie „gerettet“, „geliebt“, „beschützt“ hat – so sieht er es jedenfalls. Die Realität dahinter blendet er vollkommen aus.
Der Klang ihrer Stimme ist sanft, warm – so warm, wie sie seit Monaten nicht mehr mit ihm gesprochen hat. Diese Wärme spürt er jetzt wie einen Schlag ins Gesicht.
Ein heißer Stich aus Eifersucht und Verletzung schießt durch ihn, wandelt sich in etwas Kälteres. Härteres. Etwas, das die Welt verzerrt.
Sie plant ein neues Leben. Ohne ihn. Mit einem Mann, der nicht einmal in ihre „Welt“ passt. Sein Kiefer spannt sich an.
Elysia sagt gerade etwas – ein Satz, nur halb verständlich: „…Kian… ich weiß, dass das der richtige Weg ist… wir… zusammen…“
Kian antwortet leise, aber Valerian hört genug, um den Sinn zu erfassen. Gemeinsame Pläne. Gemeinsame Entscheidungen. Ein gemeinsamer Ausweg.
Valerian steht vollkommen still. Seine Gedanken überschlagen sich nicht wie früher. Sie werden eher… klarer. Dunkler. Entschlossener.
Er fühlt nicht mehr den Schmerz. Nur noch das Lodern einer stummen, brennenden Überzeugung: Er verliert sie. Er verliert sie endgültig.
Und in Valerians zerstörter Logik gibt es dafür nur eine einzige Erklärung: „Er hat sie mir genommen“, flüstert er tonlos. „Er hat alles zerstört.“
Seine Hand gleitet unbewusst an den Mantel – dorthin, wo das Gewicht seiner Entscheidung verborgen liegt. Sein Atem wird ruhiger. Unnatürlich ruhig. Er legt den Kopf leicht zur Seite. Lauscht noch einmal. Drinnen lachen sie leise über etwas.
Valerian schließt die Augen. Und in diesem Moment bricht etwas in ihm – nicht laut, nicht dramatisch, sondern still, gefährlich, endgültig.
Valerian steht an der Wohnungstür wie eine erstarrte Statue. Das gedämpfte Murmeln hinter der Tür wird zu einer Art Hintergrundrauschen – bis plötzlich ein klarer Satz durch die Stille dringt.
Kians Stimme. Warm. Zärtlich. Überzeugt.
„Elysia… ich lasse dich nie wieder alleine.“
Valerian reißt die Augen auf. Der Satz trifft ihn wie ein Schlag. Wie ein Messer, das ihm jemand direkt ins Herz stößt.
Drinnen raschelt etwas – vermutlich Elysia, die sich an ihn lehnt, denn gleich darauf hört er sie leise lachen. Ein warmes, glückliches Geräusch.
„Ich dich auch nicht“, sagt sie weich.
Valerian blinzelt langsam. Sein Atem beschleunigt sich.
Nie wieder alleine.
Das war sein Satz. Seine Worte in besseren Zeiten. Worte, die er damals meinte. Worte, an die er sich geklammert hatte, als alles zerbrach. Und jetzt… jetzt sagt ein anderer Mann sie. In ihrer Wohnung. In seinem Leben.
Etwas Kaltes schießt durch Valerians Körper. Kein Zorn mehr. Kein Schmerz. Ein völliger emotionaler Ausstieg. Seine Gedanken werden plötzlich klar. Zu klar.
Eine verzerrte Logik baut sich in ihm auf wie ein Kartenhaus, das auf einer einzigen Überzeugung steht: Wenn er sie nicht alleine lässt – dann ist er der Grund, warum sie ihn, Valerian, verlassen hat.
Er hört weitere Worte: „Wir schaffen das. Zusammen.“
Das Wort „zusammen“ ruft einen scharfen, metallischen Geschmack in Valerians Mund hervor. Er spannt die Hände so fest, dass die Nägel in die Handflächen graben.
„Zusammen?“, wiederholt er tonlos.
Etwas in seiner Brust schnürt sich zu. Dann folgt der Satz, der endgültig alles in ihm zerstört:
Elysia, mit einer sanften, sicheren Stimme: „Mit dir fühle ich mich endlich sicher.“
Sicher.
Mit ihm. Mit diesem Mann. Nicht mit Valerian. Nicht mit dem, der ihr „alles gegeben hat“. Etwas bricht in ihm. Nicht laut. Aber endgültig.
Sein Atem wird anders. Tiefer. Kälter. Die Welt um ihn herum verschwimmt für einen Moment, während ein einziger Gedanke sich durch seinen Kopf brennt, klar, scharf und zerstörerisch: Er ist das Problem. Nicht sie. Er.
Valerian lehnt sich langsam von der Tür weg. Ein Zittern geht durch seine Hände – nicht vor Angst, sondern vor der Art Ruhe, die nur entsteht, wenn ein Mensch innerlich über eine Grenze getreten ist. Er sieht zur Tür. Sein Gesicht ist ausdruckslos geworden.
„Es reicht“, flüstert er. Ein Satz, der wie ein Urteil klingt.
Und gerade, als er sich einen Schritt zurückzieht, fällt drinnen ein leises Klirren, gefolgt von Elysias Lachen. Ein Lachen, das ihn früher einmal glücklich gemacht hätte. Heute ist es der Klang, der den letzten Rest seiner Menschlichkeit übertönt.
Etwas in Valerian brennt durch. Der letzte Rest Kontrolle, der ihn bisher zurückgehalten hat, zerreißt.
Ohne nachzudenken, ohne zu planen, hebt er die Faust und schlägt mit aller Kraft gegen die Wohnungstür.
BAM. BAM. BAM.
Die Schläge hallen durch das ganze Treppenhaus. Brutal. Ungeduldig. Voller Wut.
Elysia lässt fast die Gabel fallen. Ihr Körper erstarrt.
Kian zuckt heftig zusammen, dreht sich sofort zum Eingang. Dann folgt der zweite Schlag.
BAM!
Elysia presst die Hand auf ihren Mund, die Augen weit vor Panik. „Valerian…“, flüstert sie tonlos. Ihre Stimme ist kaum hörbar, aber das Grauen dahinter unüberhörbar.
Kian wendet sich ihr zu, sein Blick ernst, scharf. „Bist du sicher?“
Elysia nickt heftig. Tränen schießen ihr in die Augen. „Das ist er. Kian… das ist er… ich erkenne das… das Klopfen…“ Ihre Worte brechen.
Der nächste Schlag ist noch lauter. BAM! BAM!
Kian steht sofort auf. Er zögert keine Sekunde, keine einzige. Sein Gesicht versteinert. Er greift nach seinem Handy, tippt ohne hinzusehen die Notrufnummer.
„Bleib hier“, flüstert er zu Elysia. „Geh nicht zur Tür. Versteck dich, okay?“
Elysia kann kaum atmen, aber sie nickt.
Kian geht einige Schritte vom Tisch weg, dreht sich halb zur Tür, halb von Elysia weg – immer zwischen ihr und der Gefahr. Sein Daumen zittert, als der Anruf durchgeht.
Die Schläge an der Tür werden immer schneller, unkontrollierter. BAM-BAM-BAM!
Elysia krümmt sich leicht zusammen, hebt die Hände an ihre Ohren, als wolle sie den Klang aussperren, der ihre Vergangenheit wieder lebendig macht.
„112, Ihre Notrufzentrale. Was ist...“
„Hier ist Kian Sterling“, flüstert er, bemüht, nicht lauter zu sein als nötig. „Ich bin in Brunnental, bei meiner Freundin, er gibt den Straßennahmen und die Hausnummer an, und… ich glaube…“
Ein weiterer Schlag erschüttert die Tür. Kian schließt die Augen, senkt den Kopf und sagt es endlich: „Ich glaube, ihr Mann steht vor der Tür. Er ist gewalttätig, er verfolgt sie. Er schlägt gerade gegen unsere Tür.“
Er stockt, weil ein besonders heftiger Schlag durch die Wohnung dröhnt. BAM!
„Bitte schicken Sie sofort jemanden“, flüstert Kian heiser. „Es ist dringend.“
Die Stimme der Notrufzentrale wird sofort fokussierter. „Ist der Mann bewaffnet?“
Kian sieht Elysia an. Ihre Lippen formen stumm: Ja, bestimmt.
Er flüstert zurück ins Telefon: „Ja. Möglich. Wahrscheinlich.“
Das Klopfen wird jetzt zum Hämmern. BAM-BAM-BAM-BAM!!!
Elysia rutscht von der Kücheninsel auf den Boden, kauert sich zusammen, die Arme um den Körper geschlungen. Ihr Gesicht ist aschfahl.
Kian sieht sie, und etwas in ihm wird noch entschlossener. „Bitte beeilen Sie sich“, sagt er mit gepresster Stimme. „Bitte.“
Seine Atmung ist unkontrolliert. Sein Gesicht verzerrt. Er hämmert weiter, als wolle er die Tür mit bloßen Händen öffnen.
„ELY-SI-A!!“ Seine Stimme ist ein böses, raues Echo im Flur.
Dann wieder: BAM! BAM! BAM!
Drinnen fängt Elysia an zu zittern. Ihre Angst ist greifbar, wie ein kalter Schatten im Raum.
Kian geht zu ihr, kniet sich hin, nimmt ihr Gesicht in die Hände. „Hör mir zu“, flüstert er. „Die Polizei ist unterwegs. Ich bin hier. Ich lasse dich nicht allein. Niemals.“
Elysia schließt die Augen, atmet flach und schnell. Hinter ihnen dröhnt der nächste Schlag. Die Spannung steht wie ein Strom in der Luft.
Valerian hämmert gerade wieder gegen die Tür, als plötzlich Schritte über ihm und unter ihm hörbar werden. Zwei Wohnungstüren öffnen sich fast zeitgleich.
Ein Mann Mitte fünfzig, graue Haare, Schlafanzughose. Eine junge Frau mit Pferdeschwanz, die gerade einen Karton mit Altpapier rausbringen wollte. Beide schauen verwirrt – dann verärgert – zu Valerian.
„Was soll der Lärm hier?“, fragt der ältere Mann scharf. „Es ist später Abend – haben Sie ein Problem?“
Die junge Frau verschränkt die Arme. „Sie können nicht einfach Türen einschlagen! Das ist...“
„Halten Sie die Klappe“, knurrt Valerian, ohne sich umzudrehen. Sein Blick ist starr auf Elysias Tür gerichtet, sein Atem rau.
Der ältere Nachbar tritt einen Schritt näher. Langsam, aber bestimmt. „Hören Sie – ich weiß nicht, was hier los ist, aber...“
Valerian wirbelt herum. „Mischen Sie sich nicht ein!“
Sein Mantel flattert leicht durch die schnelle Bewegung – gerade so, dass der Nachbar den Schatten in der Manteltasche erkennen kann. Der Mann erstarrt. Sein Blick senkt sich unwillkürlich auf Valerians Hand. Die Haltung, die Spannung, der Winkel… Sein Gesicht wird blass.
„Okay… hören Sie… wir reden einfach ruhig, ja?“, sagt er mit beschwichtigender Stimme.
Die junge Frau tritt sofort zurück, erkennt am Ausdruck des Mannes, dass etwas nicht stimmt.
„Was haben Sie da?“, fragt sie leise, die Stimme zitternd.
Valerian hebt den Kopf, die Augen glasscharf. „Geht Sie nichts an.“
Der Mann hebt beide Hände langsam, defensiv, als würde er sagen: Ich bin keine Bedrohung. „Bitte… machen Sie nichts Unüberlegtes. Wir können...“
„Ich brauche von Ihnen GAR NICHTS!“, bellt Valerian, die Stimme nun völlig außer Kontrolle.