Falkensee - Kapitel 34



Der schwarze SUV rollt durch die nächtliche Landstraße. Die Scheinwerfer schneiden durch die Feuchtigkeit, als würde der Nebel selbst vor der Konzentration des Fahrers ausweichen.

 

Kessler sitzt angespannt hinterm Steuer, die Augen prüfend auf Kians Rücklichter gerichtet – bis sein Handy vibriert. Er wirft einen kurzen Blick darauf. Eine einzige, scharfe Nachricht. Von Auberon.

 

SOFORT STOPPEN. Beobachtung beenden. Keine Aktion. Brich ab und fahr zurück.

 

Kesslers Hände verkrampfen sich kurz ums Lenkrad. Er atmet tief ein, langsam aus. Ein Befehl ist ein Befehl. Aber dieser... kommt überraschend. Sehr überraschend.

 

Warum jetzt?

 

Er war kurz davor, in Position zu gehen. Kurz davor, die Gelegenheit zu nutzen, die er seit einer halben Stunde vorbereitet hatte. Die Zähne pressen sich unmerklich aufeinander.

 

„Verdammt…“, murmelt er leise.

 

Doch unter dem Ärger liegt etwas anderes. Etwas, das er nur ungern zugibt:

Erleichterung. Der Auftrag, den Valerian ihm eigentlich angedeutet hatte – der richtige Auftrag, der nie ganz ausgesprochen wurde – war gefährlich. Moralisch nicht mehr vertretbar. Rechtlich noch weniger.

 

„Vielleicht ist es besser so…“, sagt Kessler in die Stille.

 

Er greift an den Blinker, gibt Zeichen und fährt bei der nächsten Gelegenheit rechts ran. Er wartet, beobachtet den Verkehr.

 

Kians Wagen fährt immer weiter. In die Dunkelheit. Richtung Brunnental. Die roten Rücklichter werden kleiner – und verschwinden schließlich am Ende der Straße.

 

Kessler schaltet den Rückwärtsgang ein, wendet den SUV sauber und unauffällig. Dann fährt er in die entgegengesetzte Richtung. Er sieht noch einmal in den Rückspiegel. Niemand. Nur Dunkelheit.

 

Dann setzt er den Wagen in Bewegung. Zurück nach Falkensee. Zurück zu Auberon.

 

Doch in seinem Kopf dreht sich die Frage: Was zum Teufel ist bei Auberon passiert, dass er plötzlich abbläst? Und warum klingt der Befehl wie Panik?

 

Kian fährt weiter. Die Straße wird schmaler, und die ersten, warmen Lichter von Brunnental tauchen am Horizont auf.

 

Er blickt zum hundertsten Mal in den Rückspiegel. Nichts. Kein schwarzer SUV. Keine drohende Präsenz. Nur die ruhige, feuchte Nacht.

 

Er atmet ein – tief, erleichtert, fast erschöpft. Dann aus.

 

„Endlich…“, murmelt er. Seine Schultern sinken etwas ab, die quälende Anspannung der letzten halben Stunde lässt nach.

 

Der Ortseingang Brunnental erscheint. Er fährt hinein. Bald ist er bei ihr. Bei Elysia. Bei der Frau, die gerade alles in ihm zum Leben bringt, die Quelle all seiner Wärme und all seiner Sorgen.

 

Er greift nach dem Handy. Dieses Mal will er sie anrufen. Sagen, dass er gleich da ist. Dass alles in Ordnung scheint. Und dass er sie liebt.


Die Sirenen sind schon von weitem zu hören. Ihr heulendes Geräusch zerreißt die nächtliche Stille.

 

Ben und Frau Schubert stehen noch immer im Eingangsbereich, die Schultern gespannt. Valerian ist ein paar Schritte von ihnen entfernt, der Rücken durchgedrückt, die Hände zu Fäusten geballt, die er hinter seinem Rücken verbirgt.

 

Doch als die Blaulichter die Auffahrt grell erhellen, erstarrt er. Jetzt geht es los. Er atmet tief ein, ein harter, knapper Atemzug, und zwingt seine Gesichtszüge in eine kalte Neutralität – oder zumindest in etwas, das er selbst dafür hält, bevor die Welt zusehen kann.

 

Zwei Beamte steigen aus dem Streifenwagen, einer jünger, der andere sichtbar erfahrener. Sie gehen auf das Haus zu. Ben steht immer noch auf der Treppe und hält sich das Kinn. 

 

„Guten Abend“, sagt der ältere mit ruhiger, aber strenger Stimme. „Wir haben einen Notruf erhalten. Körperlicher Zwischenfall?“

 

Frau Schubert tritt sofort vor. Ihre Hände zittern, sie versucht, die Stimme zu kontrollieren – vergeblich. „Ja... ja, bitte... kommen Sie herein. Es... es war ein Streit und... Herr Auberon hat...“

 

„Frau Schubert.“ Valerians Stimme gleitet kalt über sie hinweg. „Ich denke, ich erkläre das am besten.“

 

Doch der ältere Polizist hebt die Hand. „Wir hören erstmal die Aussage der Person, die uns gerufen hat.“

 

Frau Schubert nickt schwach, atmet durch. „Ich... ich habe angerufen. Herr Auberon ist... sehr wütend geworden. Er hat Ben Maibach...“ Sie deutet auf Ben. „...die Kontrolle verloren. Er hat ihn geschubst... und dann geschlagen. Ich hatte Angst, dass etwas Schlimmeres passiert.“

 

Der jüngere Beamte macht sich sofort Notizen. Valerians Augen blitzen auf – aber er sagt nichts. Noch nicht. Valerian versucht die Fassade zu retten. 

 

„Das ist vollkommen übertrieben“, sagt er mit einem künstlich ruhigen Lächeln. „Wir hatten eine Meinungsverschiedenheit. Ein hitziges Gespräch. Nichts weiter.“

 

Der ältere Polizist verschränkt die Arme. „Sie haben ihn geschlagen? Ja oder nein?“

 

Valerian öffnet den Mund – und schließt ihn wieder. Ben sieht es. Die Polizei sieht es. Frau Schubert erst recht.

 

Dann presst Valerian hervor: „Er hat mich provoziert. Er ist in mein Haus eingedrungen. Ich habe lediglich versucht, ihn hinauszubitten. Dabei ist er gestolpert. Das war alles.“

 

Ben schnaubt leise. „Gestolpert, ja? Willst du denen auch sagen, dass ich meinen Kopf freiwillig in deine Faust bewegt habe?“

 

Der ältere Polizist dreht sich zu Ben. „Herr Maibach, was ist aus Ihrer Sicht passiert?“

 

Ben tritt einen Schritt vor. Dieses Mal ohne Pathos, ohne Übertreibung – nur ruhig, klar und absolut wahrheitsgetreu: „Ich bin hergekommen, um mit Valerian zu reden. Ich weiß, dass er Leute auf Elysia angesetzt hat und heute auch auf Kian. So etwas dulde ich nicht.“

 

Die Beamten tauschen einen Blick aus.

 

Valerian hebt sofort abwehrend die Hände. „Das ist absurd! Lächerlich! Er erfindet Dinge, um sich gut dastehen zu lassen!“

 

Ben fährt unbeirrt fort: „Und als Frau Schubert die Polizei rief, weil die Situation eskalierte, hat er mir eine verpasst – mit voller Absicht.“

 

Der jüngere Beamte mustert Bens geschwollenes Kinn. „Das sieht jedenfalls nicht nach ‚gestolpert‘ aus.“

 

Valerian verliert für einen Moment die Contenance. „Er lügt! Er ist nur hier, um mich zu diffamieren!“

 

Der ältere Polizist sieht Frau Schubert an. „Haben Sie gesehen, was passiert ist? Ganz genau?“

 

Frau Schubert nickt – erschöpft, verzweifelt, aber ehrlich. „Ja. Valerian hat Ben geschlagen. Und... und er war davor schon außer sich. Ich hatte Angst, dass er noch weiter geht. Er... er ist in keiner guten Verfassung.“

 

Valerian fährt herum. „FRAU SCHUBERT!“

 

Doch der erfahrene Polizist stellt sich zwischen sie. „Genug.“ Sein Ton ist fest.

 

„Herr Auberon, kommen Sie bitte einen Moment mit uns vor die Tür.“

 

„Das ist lächerlich...“

 

„Jetzt.“

 

Der zweite Polizist begleitet ihn nach draußen. Die Haustür fällt ins Schloss.

 

Frau Schuberts Augen füllen sich mit Tränen. „Es tut mir so leid“, flüstert sie.

 

„Ich hätte ihn früher stoppen müssen… all die Jahre…“

 

Ben legt kurz eine Hand auf ihre Schulter, eine Geste stillen Respekts. „Sie haben das einzig Richtige getan.“ Er atmet tief aus. Sein Kinn schmerzt, aber das ist egal.

 

„Und wissen Sie was?“, fügt er hinzu. „Heute haben Sie nicht nur mich beschützt. Sondern auch Elysia. Und Kian.“

 

Frau Schubert nickt – ein kleines, gebrochenes Lächeln erscheint.

 

Draußen murmeln die Polizisten mit Valerian. Er versucht, sich herauszureden, aber dieses Mal hat er eine Linie überschritten, die man nicht einfach weglächeln kann. Die Wahrheit liegt offen.

 

Und sie wird Folgen haben.

 

Die Beamten und Valerian kehren zurück ins Haus. Die Luft ist zum Schneiden dick.

 

Valerian wirkt gefasst – aber nur äußerlich. Seine Augen verraten die brodelnde Wut dahinter, eine ungesunde Mischung aus Demütigung und Zorn.

 

Der ältere Beamte spricht sachlich: „Wir müssen von allen Beteiligten die Personalien aufnehmen. Herren Maibach, Auberon – bitte.“

 

Ben bleibt ruhig, gibt alle Daten korrekt an. Sein Kinn pocht, doch er macht keine Szene. Er weiß: Die Wahrheit spricht für sich.

 

Valerian hingegen spricht abgehackt, als müsse er jedes Wort durch die Zähne pressen, um nicht erneut auszubrechen. Frau Schubert steht am Rand, die Hände gefaltet, die Knöchel weiß vor Anspannung.

 

Der jüngere Polizist erklärt: „Herr Maibach, wenn Sie möchten, können Sie eine Anzeige wegen Körperverletzung stellen. Der Schlag fällt eindeutig darunter. Sie haben dafür zwei Jahre Zeit, aber wir empfehlen, nicht zu lange zu warten.“

 

Ben nickt ruhig. „Ich überlege es mir, danke.“

 

Der ältere Beamte sieht ihn prüfend an. „Falls Herr Auberon Sie erneut belästigen sollte, rufen Sie sofort an. Wir nehmen das ernst.“

 

Ben erwidert nur: „Das weiß ich. Danke.“

 

Die Formalitäten sind schnell erledigt. Die Polizisten nicken Ben und Frau Schubert zum Abschied zu – deutlich freundlicher als gegenüber Valerian – und machen sich dann auf den Weg zur Tür.

 

Ben sagt kein Wort mehr. Er folgt ihnen hinaus, schweigend, ohne ein weiteres Mal zu Valerian zu sehen.

 

Draußen knallt die Haustür ins Schloss. Die Motoren des Polizeiwagen startet, Ben steigt in sein eigenes Auto.

 

Er fährt los. Langsam, aber mit einer entschlossenen Haltung.

 

Die Villa ist wieder still. Zu still.

 

Valerian steht mitten im Wohnzimmer, atmet schwer, die Hände zu Fäusten geballt. Er wirkt wie ein Hurricane, der sich gerade neu formiert, gefährlicher und fokussierter als zuvor.

 

Frau Schubert sammelt ihren Mut. „Herr Auberon…“, beginnt sie vorsichtig. „Bitte hören Sie mir zu. Das heute… das war falsch. Sie brauchen Hilfe. Sie können so nicht weitermachen. Elysia ist...“

 

Er dreht sich langsam zu ihr um. Sein Blick ist kalt. Eiskalt.

 

„Halten Sie den Mund.“

 

Frau Schubert stockt. „Ich meine es nur gut“, versucht sie erneut, leise, fast flehend. „Ich habe Sie wie einen Sohn gesehen, aber Sie...“

 

Valerian hebt die Hand – nicht zum Schlag, aber zum Schweigen. Und mit einer Stimme wie Glasbruch sagt er:

 

„Sie sind gefeuert.“

 

Die Worte treffen härter als jede Faust. Frau Schubert erstarrt. Ihre Lippen zittern.

 

„Was?“

 

„Sie haben mich verraten.“ Seine Stimme wird noch schärfer. „Indem Sie diese… Lüge unterstützt haben. Indem Sie die Polizei gerufen haben. Indem Sie sich gegen mich gestellt haben.“

 

„Ich wollte Sie schützen!“, ruft sie verzweifelt.

 

„Sie sind gefeuert.“ Er wiederholt es. Langsam. Unwiderruflich.

 

Frau Schubert schließt die Augen. Ein schwerer, schmerzhafter Atemzug. Sie senkt den Kopf. Nicht aus Scham, sondern aus Trauer um das, was er geworden ist.

 

„Das werden Sie bereuen, Herr Auberon“, sagt sie leise. „Nicht heute. Aber bald.“

 

Dann dreht sie sich um und verlässt den Raum – und Valerian bleibt allein zurück. Mit seiner Wut. Seinen Schatten. Seinen Entscheidungen. Und der Gewissheit, dass die Grenzen um ihn herum immer enger werden.


Die letzten Kilometer ziehen ruhig an ihm vorbei. Der schwarze SUV ist tatsächlich verschwunden, nicht einmal ein Scheinwerfer ist irgendwo hinter ihm zu sehen. Kein Schatten, kein Verdacht. Nur die nasse Straße, die dunklen Bäume links und rechts und die Lichter von Brunnental, die immer näher rücken.

 

Kian atmet ein zweites Mal tief durch. Endlich. Der Druck auf seiner Brust löst sich, die Anspannung in seinen Schultern fällt ab.

 

Er murmelt leise, fast zu sich selbst: „Alles gut… ich bin gleich bei ihr.“

 

Der Zufall, das Glück oder einfach nur der Ausgang eines gescheiterten Auftrags – egal, was es war: Die unmittelbare Gefahr hat sich verflüchtigt.

 

Und Kian fährt weiter. Immer weiter. Richtung Wärme. Richtung Zuhause – oder zumindest dem, was sich immer mehr danach anfühlt.

 

Kian biegt in die vertraute Straße ein, die Straßenlaternen werfen gelbliche Lichter auf den nassen Asphalt. Er fährt vor den Wohnblock, den er inzwischen fast schon im Schlaf findet. Hier hat er Woche für Woche gestanden, gewartet, gehofft, gelacht.

 

Heute steht er nicht lange da. Kaum hat er eingeparkt, kaum den Motor abgestellt, kaum den Sicherheitsgurt gelöst - fliegt die Haustür auf.

 

Elysia stürmt heraus. Ohne Mantel, ohne darauf zu achten, ob es nass oder kalt ist. Ihr Gesicht ist gerötet, ihre Augen glänzen. Man sieht sofort: Sie hat sich Sorgen gemacht. Viele.

 

„Kian!“, ruft sie, schon bevor sie bei ihm ist.

 

Er steigt gerade aus dem Auto, dreht sich kaum zur Seite... Und da ist sie schon. Sie fällt ihm um den Hals. Arme fest um ihn geschlungen. Ihre Wangen sind warm und nass – von Tränen.

 

Kian schließt sofort die Arme um sie. Drückt sie fest an sich. Er schließt die Augen. Jetzt ist alles egal. Jetzt ist nur sie wichtig.

 

„Hey… hey, ich bin da“, flüstert er gegen ihre Haare. „Ich bin okay.“

 

Sie presst ihr Gesicht gegen seine Schulter. „Ich hatte solche Angst…“, murmelt sie heiser. „So, so große Angst…“

 

Kian streicht beruhigend über ihren Rücken, seine Stimme ruhig, warm, ehrlich: „Es ist nichts passiert. Wirklich nicht. Der Wagen war plötzlich weg, und die restliche Fahrt war absolut ruhig.“

 

Sie löst sich ein kleines Stück von ihm, nur so weit, dass sie ihm ins Gesicht sehen kann. Ihre Augen suchen seine. Überprüfen sie. Überzeugen sich, dass er wirklich unversehrt ist.

 

„Ich habe so gehofft, dass du einfach gleich hier bist…“

 

Kian lächelt, weich und liebevoll. „Und ich bin hier.“

 

Elysia atmet zittrig aus und lässt die Stirn gegen seine sinken. „Ich lasse dich heute nicht mehr los.“

 

Kian schmunzelt leise. „Dann mach das nicht.“

 

Er nimmt ihr Gesicht sanft in beide Hände und küsst sie – zärtlich, beruhigend, voller Erleichterung. Der Kuss schmeckt nach Zuhause. Nach Wiedersehensglück. Nach dem Gefühl, endlich sicher zu sein.

 

Die Welt um sie herum wird still. Nur sie. Nur dieser Moment. Und der Wunsch, einander nie wieder gehen lassen zu müssen.

 

Kian und Elysia gehen zurück ins Haus, engumschlungen hinauf zu ihrer Wohnung. Einen Moment lang bleibt es still. Nur ihr beider Atem ist zu hören, noch ein wenig zu schnell vom Wiedersehen und der Angst, die nur mühsam abklingt.

 

Elysia beobachtet ihn unauffällig. Wie er die Schultern lockert. Wie er einmal tief durchatmet. Wie er versucht, den Weg hierher – und alles, was daran merkwürdig war – innerlich abzuschließen.

 

Sie will ihn nicht sofort überschütten. Sie weiß, dass er erst landen muss.

 

„Setz dich“, sagt sie leise und zeigt aufs Sofa.

 

Kian nickt und sinkt darauf, lehnt sich zurück. Elysia bringt ihm ein Glas Wasser, setzt sich neben ihn, aber mit etwas Abstand – ihm Raum gebend.

 

Er trinkt einen Schluck, stellt das Glas ab. Dann legt er den Kopf zur Seite und sieht sie an. „Du machst dir immer noch Sorgen.“ Das ist keine Frage.

 

Elysia faltet die Hände im Schoß. Sie ringt einen Moment um Worte. „Ich… ja.“ Ihre Stimme ist brüchig. „Weil ich weiß, zu was Valerian fähig ist.“

 

Kians Miene wird ernst. Er rutscht ein Stück näher. „Elysia… du hast mir nie wirklich erzählt, was zwischen euch war. Nicht… alles.“

 

Sie schließt kurz die Augen. Als müsste sie sich sammeln. Dann nickt sie.

 

„Weil ich es nicht erzählen konnte. Nicht am Anfang. Nicht bevor ich wusste, dass…“ Sie sieht ihm in die Augen. „…dass du bleibst.“

 

Kian nimmt ihre Hand. Behutsam. Wartend.

 

Elysia atmet tief ein, und die Worte kommen langsam, schwer: „Valerian hat mich nie geschlagen.“ Sie lässt eine kleine Pause. „Aber… er hat Dinge getan. Worte gesagt. Dinge kontrolliert. Menschen aus meinem Leben gedrängt. Laut. Wütend. Unberechenbar.“

 

Kian spürt, wie sich etwas in ihm zusammenzieht. „Du hattest Angst vor ihm.“ Das erkennt er nun klar.

 

Ihre Augen füllen sich mit etwas, das zwischen Traurigkeit und Erleichterung liegt. „Ja“, flüstert sie. „Nicht immer. Aber oft. Er wollte bestimmen, wen ich sehen darf, wo ich hingehe, wie ich mich verhalte. Und wenn ich etwas wollte, das nicht in sein Bild passte, dann…“ Ihr Blick senkt sich. „…hat er mich wie eine Fremde behandelt. Oder wie ein Kind, das man zurechtweisen muss. Er konnte so… verletzend werden.“

 

Kian greift ihre andere Hand dazu, hält sie fest. „Warum hast du mir das nicht früher gesagt?“

 

„Weil ich mich schäme“, antwortet sie sofort – und genau das erschüttert Kian. „Weil ich dachte, ich hätte es verdient. Oder…“ Ihre Stimme bricht. „…weil ich dachte, ich wäre selbst schuld daran, dass er so geworden ist.“

 

Kian schließt kurz die Augen, um die Wut zu zähmen, die in ihm aufflackert – nicht gegen sie, nie gegen sie, sondern gegen den Mann, der sie so zerbrochen hat.

 

„Elysia“, sagt er ruhig, warm, fest. „Nichts davon ist deine Schuld. Nichts.“

 

Eine Träne löst sich und rollt über ihre Wange. Kian wischt sie sanft weg.

Sie schluckt und setzt fort: „Ich wusste… dass er gefährlich werden kann. Emotional. Und wenn er verletzt ist… noch mehr.“ Sie sieht ihn flehend an.

„Und jetzt ist er sehr verletzt.“

 

Kian nickt. „Ich weiß. Ich hab in den letzten Tagen gemerkt, dass etwas nicht stimmt. Und heute… war es zu deutlich, um Zufall zu sein.“

 

Sie greift seine Hände fester. „Kian… was ist auf der Fahrt passiert?“

 

Er holt tief Luft. „Es war derselbe Wagen. Der SUV vom Mittwoch. Er war wieder hinter mir. Hat mich verfolgt. Und ich glaube… er hat uns beobachtet.“

 

Elysia schließt die Augen und vergräbt das Gesicht in seinen Händen. „Oh Gott… Valerian…“

 

Kian zieht sie behutsam in seine Arme. „Ich bin hier“, murmelt er. „Und ich gehe nirgendwohin.“

 

Sie atmet bebend gegen seine Brust. Nach einem Moment hebt sie den Kopf.

 

„Wir müssen uns etwas überlegen. Einen Plan. Ich will dich nicht in Gefahr bringen.“

 

Kian legt seine Stirn an ihre. „Du bringst mich nicht in Gefahr. Valerian ist derjenige, der Grenzen überschreitet. Und wir stehen das zusammen durch. Mit deinen Freunden. Mit Ben. Mit Hannah.“

 

Sie nickt, Tränen in den Augen, aber zum ersten Mal seit Stunden auch etwas anderes: Hoffnung.

 

„Okay“, flüstert sie. „Dann… zusammen.“

 

Kian lächelt sanft. „Zusammen.“

 

Und er kümmert sich nicht darum, wer draußen im Regen vielleicht noch immer lauern könnte. Denn in diesem Moment zählt nur eines: Dass sie endlich anfangen, die Wahrheit gemeinsam zu tragen. Und nicht mehr allein.

 

„Ich war bei Valerian“, beginnt Ben, ohne Umschweife.

 

Kian spannt sofort an. „Was? Warum gehst du alleine zu diesem Typen?“

 

„Weil er seine Leute auf dich angesetzt hat!“, schießt Ben zurück. „Weil Elysia Angst hatte und Hannah panisch wurde und ich nicht einfach rumsitzen konnte.“

 

Kian fährt sich mit der Hand durchs Haar, ungläubig, fassungslos. „Okay… und? Was ist passiert?“

 

Ben lacht trocken. Kein fröhliches Lachen. Eines, das sagt: Es war schlimm.

 

„Was passiert ist? Er ist komplett ausgerastet. Er hat mich geschubst, angeschrien wie ein Irrer… und als Frau Schubert die Polizei gerufen hat, hat er mir eine verpasst. Mit voller Wucht.“

 

Elysia stößt hörbar die Luft aus, die Hand vor den Mund geschlagen. Kian friert regelrecht ein.

 

Kians Wut flammt auf

 

„Er hat WAS?!“ Seine Stimme donnert durch den Raum. Er steht abrupt auf, als müsste er sich bewegen, um den Druck in ihm loszuwerden. Elysia greift nach seiner Hand, versucht ihn zurückzuholen, aber er ist schon in Bewegung – aufgewühlt, rasend.

 

„Ben! Warum hast du ihn nicht ANZEIGT?“

 

„Weil ich erst mit euch reden wollte“, antwortet Ben. „Außerdem - wehe, du hättest gesehen, wie er drauf war… der war am Rand vom Durchdrehen.“

 

Kian schnaubt. „Gerade deshalb HÄTTEST du ihn anzeigen müssen!“

 

Elysia steht nun ebenfalls, legt ihre Hand auf Kians Rücken, versucht ihn zu erden.

 

Ben seufzt schwer. „Ich weiß. Vielleicht mach ich’s auch noch. Aber… ich wollte erstmal weg da. Ich war voll Adrenalin, Alter. Und ehrlich gesagt: Ich wusste nicht, wie weit er noch geht.“

 

„Er ist schon zu weit gegangen!“, brüllt Kian zurück.

 

Er läuft im Wohnzimmer auf und ab, Hände zu Fäusten geballt. „Er lässt mich verfolgen, er terrorisiert Elysia, er schlägt dich – und wir sollen einfach warten, bis was noch Schlimmeres passiert?!“

 

Sein Blick geht zu Elysia. Sie sieht klein aus in diesem Moment. Angespannt, voller Angst, aber auch voller Sorge um ihn.

 

Kian senkt seine Stimme etwas, aber nur der Ton – nicht die Intensität. „Ben… ich kann das so nicht stehen lassen.“

 

Ben nickt. „Ich weiß. Und ich hab’s auch nicht vor. Ich wollte nur, dass du es von mir hörst, nicht von irgendwem sonst. Aber Mann, du musst vorsichtig sein. Der Kerl ist gefährlich.“

 

„Ich weiß, wie gefährlich er ist“, sagt Kian dunkel.

 

Sein Blick trifft Elysia. Sie sieht es in seinen Augen: Er wird sie um jeden Preis schützen.

 

Ben seufzt erneut, dieses Mal fast resigniert. „Ich wollt dich nicht reinreiten, aber… du musst wissen, womit wir es zu tun haben.“

 

Kian atmet hart aus. „Danke, dass du hingegangen bist, Ben. Aber das nächste Mal – ruf mich an. Ich komme. Ich lass dich nicht allein mit so einem Irren.“

 

„Versprochen.“

 

Kian nickt langsam. Die Wut sinkt etwas, aber sie glüht weiter in ihm wie ein Schwelbrand.

 

„Ruh dich aus“, sagt er schließlich. „Wir reden morgen.“

 

„Mach ich. Passt auf euch auf.“

 

Kian nimmt sein Handy vom Tisch und legt auf. 

 

Stille fällt über das Wohnzimmer. Kian starrt auf den dunklen Handydisplay, der Atem geht hart.

 

Elysia tritt vor ihn, legt beide Hände an seine Wangen. „Kian… bitte.“

 

Ihre Augen halten seinen Blick fest.

 

„Ich weiß, dass du wütend bist. Ich weiß, dass du Ben schützen willst und mich auch. Aber du darfst jetzt nicht unüberlegt handeln.“

 

Er drückt seine Stirn gegen ihre. „Er hat Ben geschlagen… Er hat UNS beschattet… Und er wird nicht einfach aufhören.“

 

Elysia schluckt. „Nein“, sagt sie leise. „Aber wir werden ihm nicht den Krieg erklären. Wir werden uns schützen – schlau, nicht kopflos.“

 

Kian zieht sie in eine feste Umarmung. Seine Stimme ist ein raues Flüstern:

 

„Ich lass nicht zu, dass er dir etwas antut.“

 

„Ich weiß“, flüstert sie zurück. „Deshalb muss das jetzt durchdacht passieren.“

 

Und sie weiß: Dies ist erst der Anfang eines Sturms, der über sie hinwegziehen wird. Aber sie ist nicht mehr allein.