Falkensee - Kapitel 35
Der Morgen legt ein kaltes, bleiches Licht über die Villa. Ein Licht, das nicht wärmt, sondern jede Ecke schonungslos offenbart.
In einem der oberen Zimmer sitzt Frau Schubert auf dem Rand ihres schmalen Bettes. Ihre Reisetasche liegt geöffnet vor ihr. Sie faltet Kleidung, langsam, mechanisch, als würden ihre Hände sich ohne ihren Kopf bewegen.
Tränen laufen ihr über die Wangen. Leise, unaufhaltsam. Sie wischt sie nicht weg. Sie lässt sie einfach fallen. Denn heute... heute ist nach zehn Jahren etwas zerbrochen, von dem sie immer geglaubt hat, dass es unerschütterlich sei.
Ein Hemd. Ein Strickjäckchen. Ihre Schürzen. Bücher, die sie abends gelesen hat, wenn das Haus still wurde. Ein Foto ihrer verstorbenen Schwester. Alles verschwindet in der Tasche. Alles, was sie hier hatte. Alles, was sie hier war.
Sie schluckt fest, als ihre Augen zur Tür wandern – die Tür, die sie vor einem Jahrzehnt zum ersten Mal geöffnet hat, als sie eingestellt wurde. Als sie dachte, sie sei angekommen. Dass sie gebraucht werde.
„Ich wollte dir nur helfen…“, flüstert sie in den leeren Raum hinein. „Nur verhindern, dass du etwas tust, was du später bereust.“
Sie erinnert sich an die Jahre: Wie Valerian anfangs freundlich war, verschlossen, aber respektvoll. Wie er Elysia mit diesem fast jungenhaften Stolz vorgestellt hatte. Wie er lachte – damals noch echt. Wie sie dachte, sie würde diese beiden begleiten, durch gute und schlechte Zeiten. Sie hatte nie Kinder. Valerian war ihr Ersatz. Und Elysia… war wie eine Tochter geworden.
Doch dann wurde er härter. Kontrollierender. Unnahbarer.
Und gestern… Gestern hat er sie angesehen, als wäre sie ein Feind. Nicht der Mensch, der ihm jahrelang das Haus warm gehalten hat. Nicht die Frau, die nachts aufblieb, wenn er schlaflos durch die Gänge lief. Nicht die einzige Person, die ihm je widersprochen hat, ohne Hintergedanken.
Ein weiterer Koffer schnappt zu. Frau Schubert setzt sich hin. Ihr Blick verschwimmt.
„Warum hast du mich so angesehen?“, murmelt sie in den leeren Raum hinein, die Hände im Schoß verschränkt. „Ich wollte dich doch nur stoppen. Ich hab dich doch nur schützen wollen. Dich… und sie.“
Ein Schluchzen entweicht ihr, leise und gebrochen. „Warum… warum konntest du nicht einfach einmal auf mich hören, Valerian?“ Ihre Stimme bricht.
Sie steht auf, mit wackligen Knien, und sieht sich ein letztes Mal im Zimmer um. Sie ist nicht bereit zu gehen – aber sie muss.
Die Haustür unten knallt – Valerian ist wach. Sie erstarrt. Dann greift sie ihre Tasche, nimmt all ihren Mut zusammen und geht den Flur entlang. Jeder Schritt ist ein Abschied.
Als sie die Treppe hinuntersteigt, hört sie Valerian im Wohnzimmer herumlaufen, laut, gereizt – offenbar telefonierend. Sie bleibt am Fuß der Treppe stehen. Sie hört nicht genau zu. Will es nicht. Sie ist zu verletzt.
„Leb wohl, Junge…“, flüstert sie. „Ich hoffe, du findest dich selbst wieder. Irgendwann.“
Ihre Hand streicht ein letztes Mal über das kalte Holzgeländer. Dann verlässt sie das Haus.
Kein Wort von ihm. Keine Entschuldigung. Keine Erklärung. Nur die Stille der kalten Villa hinter ihr.
Und eine Frau, die ihr Herz schweren Herzens zurücklässt.
Valerian steht im Arbeitszimmer, eine Tasse Kaffee in der Hand, die er nicht trinkt. Seine Augen sind gerötet vom Schlafmangel, die Schatten darunter tief und unruhig.
Sein Blick schweift aus dem großen Fenster, das auf den Innenhof führt. Er sieht Bewegung. Er blinzelt – und erstarrt.
Frau Schubert. Mit zwei schweren Koffern in den Händen. Langsam, Schritt für Schritt, geht sie die Auffahrt hinunter, vorbei an der frisch gesäuberten Steintreppe, die sie jahrelang gepflegt hat. Valerian richtet sich auf. Die Hand um die Tasse verkrampft sich.
„Was…?“ Das Wort entweicht ihm kaum hörbar.
Er beobachtet sie, wie sie immer kleiner wird, bis sie schließlich vor dem Tor stehen bleibt. Sie stellt einen Koffer ab, schließt das Tor hinter sich – und geht.
Einfach so.
Das Tor fällt ins Schloss. Ein dumpfer Laut hallt durch die Villa.
Der Schlag der Erkenntnis
Valerian spürt, wie sein Brustkorb eng wird. Als drücke etwas Schweres darauf. Eine Last, die er verdrängt hatte. Er dreht sich langsam im Zimmer um. Der riesige Raum wirkt… kalt. Still. Fremd.
Er geht einige Schritte, seine Schuhe klacken auf dem Parkett. Die Villa – seine Villa – war nie wirklich gemütlich. Aber sie war nicht leer. Er hatte Elysias Lachen darin gehört. Ihre schnellen Schritte die Treppe hinunter, wenn sie spät zur Arbeit musste. Ihr Summen, wenn sie in der Küche stand. Ihre Stimme, wenn sie zu laut Musik anmachte.
Er hatte die Wärme gefühlt, die sie in diese kalten Räume gebracht hatte.
Und als sie ging… war Frau Schubert noch da. Das letzte bisschen Zuhause, das ihm geblieben war.
Und jetzt…
Er steht nun im Flur, den Blick ins Leere gerichtet. Er ist allein. Ganz allein.
Zum ersten Mal seit Jahren trifft ihn diese Erkenntnis mit voller Wucht. Und sie tut weh. Mehr, als er erwartet hatte.
Aber er erlaubt es sich nicht, diesen Schmerz zu fühlen. Er erstickt ihn. Presst ihn in die dunkelsten, tiefsten Winkel seines Geistes, wo er zu etwas anderem wird.
Seine Stimme ist kaum ein Raunen, aber sie füllt die gesamte Leere: „Sie hat mich verraten.“
Er sagt es noch einmal, härter, verzweifelter: „Sie hat mich verraten.“
Ein Zittern fährt durch seine Hände. Er stellt die Tasse ab, die viel zu laut auf dem Glastisch klirrt.
„Alle verraten mich…“, murmelt er. Elysia. Frau Schubert. Ben. Dieser ganze verdammte Ort, der ihn nie akzeptiert hat.
„Aber ich lasse sie nicht einfach gehen.“ Sein Atem geht schneller. Er ballt die Fäuste. Seine Augen verengen sich.
Die Einsamkeit dreht sich in seinem Inneren zu etwas Dunklem um. Zu etwas, das ihn antreibt, statt ihn zu brechen.
Er blickt noch einmal zum leeren Tor hinaus.
„Ihr alle… ihr werdet sehen.“
Ein letztes Flüstern, vergiftet von gekränkter Liebe und unkontrollierter Wut:
„Elysia gehört zu mir.“
Das Licht des Tages fällt gedämpft durch die geschlossenen Vorhänge. Ein blasser, milchiger Schein legt sich über das Schlafzimmer, lässt die Kanten weicher wirken und taucht alles in eine sanfte Ruhe.
Elysia erwacht als Erste. Sie liegt eingerollt in Kians Armen, ihr Kopf an seiner Brust, sein Atem warm an ihrem Haar. Seine Hand liegt locker auf ihrer Taille, als hätte sein Körper im Schlaf entschieden, sie nicht loszulassen. Und sie will sich auch nicht lösen. Nicht jetzt. Nicht heute.
Die Nacht war kurz, voller Gespräche, stiller Gedanken und nicht ausgesprochenen Ängsten. Sie hatten lange wachgelegen, einander gehalten, immer wieder versichert, dass sie zusammen stark sind.
Und doch – die Sorge bleibt. Elysia spürt sie tief in ihrem Bauch. Wie ein leiser Druck. Aber sie sagt nichts. Nicht jetzt. Sie hebt den Kopf leicht und sieht zu ihm auf. Kian öffnet die Augen, blinzelt, und als er sie sieht, breitet sich ein weiches, müdes Lächeln über sein Gesicht aus.
„Guten Morgen“, murmelt er rau, verschlafen.
Elysia erwidert das Lächeln. „Guten Morgen.“
Er streicht ihr langsam über den Rücken, seine Finger sind warm, beruhigend, vertraut. Sie rutscht etwas näher, wenn das überhaupt möglich ist – ihr Körper sucht ihn, seinen Halt, seine Wärme.
Kian senkt seinen Kopf ein wenig und gibt ihr einen sanften Kuss auf die Stirn. Sie schließt die Augen, genießt den Moment, als wäre er ein sicherer Hafen.
Dann hebt sie das Gesicht leicht, ihre Lippen streifen seine. Ein Kuss. Zart, liebevoll.
Kian erwidert ihn vorsichtig, seine Hand gleitet langsam über ihren nackten Rücken, zeichnet kleine Kreise auf ihrer Haut.
„Bist du okay?“, flüstert er.
Elysia nickt. Aber ihre Augen erzählen eine Geschichte, die viel komplizierter ist.
Er merkt es natürlich. Doch er fragt nicht weiter. Er zieht sie einfach näher an sich, schlingt die Arme enger um sie und drückt sie an sich.
„Lass uns diesen Moment einfach für uns behalten“, sagt er leise.
„Ja…“, haucht sie. „Nur für uns.“
Ihre Finger streichen sanft über seinen Oberarm, über die warme, entspannte Haut. Kian fährt mit der Hand durch ihr Haar, langsam, fast meditativ. Sie liegen so da, Körper an Körper. Die Sorge bleibt unbewegt in einer Ecke ihres Bewusstseins, aber für diesen Moment lassen sie sie dort.
Hier zählt nur der Mensch, den sie im Arm halten. Die Wärme. Die Nähe.
Elysia hebt sich ein wenig, küsst ihn erneut – diesmal ein bisschen länger, ein bisschen tiefer, ein bisschen mehr „ich bin so froh, dass du da bist“.
Kian lächelt. „Ich will jeden Morgen so aufwachen“, flüstert er, kaum hörbar.
Elysias Herz schlägt schneller. „Ich auch.“
Und für einen kostbaren Augenblick existiert nur das: ihre Liebe.
Nachdem sie noch eine Weile im Bett gekuschelt haben, stehen sie langsam auf.
Kian zieht sie an der Hand ins Bad und öffnet die Duschkabine. Er stellt das Wasser an und steigt in die Dusche. Elysia folgt ihm. Der warme Wasserdampf füllt das Zimmer in wenigen Sekunden, weich und hüllend.
Elysia schmiegt sich an ihn, legt die Arme um seine Taille, und Kian zieht sie sanft an sich. Ihre Bewegungen sind langsam, liebevoll. Keine Eile. Nur Zärtlichkeit.
Kian streicht ihr das Wasser aus dem Gesicht und küsst sie, bevor er mit den Fingerspitzen über ihre Schulterblätter fährt. Elysia lächelt und erwidert seinen Kuss, ihre Hände gleiten über seine Brust und seinen Rücken.
Für ein paar Minuten vergessen sie alles um sich herum. Es gibt keinen Valerian. Keine Verfolgung. Keine Angst. Nur sie. Unter warmem Wasser. Nah, vertraut und ineinander verankert.
Sie trocknen sich ab, lachen über seine wild durcheinanderstehenden Haare, ziehen bequeme Kleidung an und gehen gemeinsam in die Küche. Während Elysia Kaffee kocht, rührt Kian Eier in einer Pfanne um. Er sieht sie über die Schulter hinweg an und zwinkert.
„Wir könnten heute etwas Schönes machen. Nur wir zwei. Einfach abschalten.“
Elysia stellt zwei Tassen hin. „Ich würde gern raus... vielleicht spazieren gehen oder in das neue Badeparadies. Etwas, das uns gut tut.“
Kian nickt begeistert. „Das klingt perfekt.“
Sie frühstücken nebeneinander, Beine berührend, immer wieder kleine Berührungen, Küsse, Lächeln, die zeigen, wie sehr sie sich nach normalem, ungestörtem Alltag sehnen.
Doch irgendwann wandert Elysias Blick zum Couchtisch. Dort, wo der Brief vom Anwalt liegt. Der Moment kippt leicht.
Kian folgt ihrem Blick. „Wir müssen darüber reden, hm?“
Elysia nickt langsam. „Ja...“
Sie steht auf, holt den Brief und setzt sich wieder neben ihn. Der Umschlag wirkt schwerer, als er sein dürfte. „Ich kann nicht glauben, dass er die Scheidung verzögert“, sagt sie leise. „Ich dachte... vielleicht lässt er irgendwann los.“
Kian legt eine Hand auf ihre, sanft, aber bestimmt. „Er wird nicht loslassen. Nicht freiwillig.“
Sie schluckt. „Ich weiß.“
Kian richtet sich etwas auf, sein Blick wird klarer, fester. „Elysia... du solltest deinem Anwalt alles erzählen.“
Sie sieht ihn irritiert an. „Alles?“
„Ja.“ Er nickt entschlossen. „Dass Valerian dich beschatten lässt. Dass er jemanden auf mich angesetzt hat. Dass du dich bedroht fühlst.“ Er drückt ihre Hand. „Das sind Dinge, die ein Gericht nicht ignorieren wird. Es könnte den Prozess beschleunigen. Und es könnte dir helfen, rechtliche Schritte einzuleiten, wenn nötig.“
Elysia sieht auf ihre Hände. „Ich wollte nie, dass es so weit kommt...“ Ihre Stimme ist brüchig. „Ich wollte einfach nur Frieden.“
Kian lehnt seine Stirn an ihre. „Und genau deshalb musst du jetzt handeln. Damit du diesen Frieden bekommst.“
Sie atmet tief ein und hebt langsam den Blick zu ihm. „Du hast recht... ich werde dem Anwalt heute schreiben.“ Eine Pause. „Ich hab so Angst, Kian.“
Er nimmt sie sanft in die Arme. „Ich weiß. Aber du bist nicht allein. Nicht mehr. Und wir gehen da zusammen durch. Schritt für Schritt.“
Elysia schließt die Augen und lässt sich von seiner Stärke halten.
Valerian sitzt in seinem Ledersessel, unbeweglich, den Blick auf einen Punkt an der Wand gerichtet, als würde er durch sie hindurch in eine andere Welt sehen. Oder in eine Vergangenheit, die nicht zurückkommt.
Elysias Lachen. Ihre warmen Hände. Ihre Stimme, die ihn einst milder machte.
Alles verschwunden.
Frau Schubert, die einzige Person, die ihn seit Jahren wirklich kannte... fort.
Er ist allein. Das Echo davon hallt schmerzhaft durch seinen Kopf. Aber es verwandelt sich nicht in Trauer. Sondern in etwas anderes. Etwas Kaltes. Präzises. Zielgerichtetes.
Valerian richtet sich langsam auf. Seine Finger streichen über die Tischkante, als würde er eine Entscheidung fühlen, bevor er sie ausspricht.
„Wenn sie nicht zurückkommt…“, murmelt er leise. Er legt den Kopf leicht schief. „…dann liegt das nicht an ihr.“
Eine Pause. Ein langer, vibrierender Atemzug.
„Es liegt an ihm.“ Die Worte füllen den Raum wie Rauch. „Dieser… Sterling.“
Sein Gesicht verfinstert sich. Nicht laut, nicht impulsiv – dieses Mal ist es leise, gefährlich. Eine Wut, die nicht mehr explodiert, sondern friert. Scharf wie Glas. Tödlicher.
Er erinnert sich an das Video. Wie Kian Elysia hochhebt. Wie sie lacht, strahlt, glüht – mit einem Mann, der nichts ist, im Vergleich zu dem, was Valerian ihr einst geboten hat. In seinen Augen jedenfalls.
Er sieht erneut Kians Gesicht vor sich. Nicht lachend diesmal. Sondern als Ziel.
Valerian atmet tief durch. „Wenn er weg wäre…“, sagt er leise, kaum hörbar. „…wäre alles anders.“
Ein Gedanke, der zunächst wie ein Schatten ist. Dann wie ein Flüstern. Und dann wie ein Plan.
Sein Blick wird scharf, der Kiefer angespannt. Er steht auf. Langsam. Ruhig. Geht zum Fenster. Betrachtet die leere Auffahrt, auf der Frau Schubert vor vor einer Weile verschwunden ist.
„Ich werde ihn nicht gewähren lassen.“
Er zieht das Handy aus der Tasche. Der Bildschirm spiegelt sein Gesicht – hart, gezeichnet, ohne Wärme. Sein Daumen bewegt sich über die Kontakte. Bleibt über einem Namen stehen: Kessler.
Ein Muskel unter seinem Auge zuckt.
„Es ist noch nicht vorbei“, flüstert er.
Dann tippt er. Noch keine Nachricht. Noch kein Befehl. Aber der Gedanke ist da.
Und Gedanken wie dieser... verschwinden bei Valerian nicht. Sie wachsen. Bis sie zur Handlung werden.