Kalkensee - Kapitel 13



Das Licht des Morgens fällt sanft durch die halb geschlossenen Vorhänge, zeichnet helle Streifen über den Teppich und das große Bett.


Frau Schubert öffnet vorsichtig die Tür zum Schlafzimmer. Sie zögert kurz, weil sie sich verhört zu haben glaubt – die Tür stand gestern noch offen, aber das Bett war unberührt. Seit Elysia fort ist, hatte Valerian hier keinen Fuß mehr hineingesetzt.

 

Doch nun liegt er da.


Im Anzug, die Krawatte halb gelöst, der Kopf schräg zur Seite, als wäre er irgendwann in der Nacht einfach zusammengesunken. Sie tritt leise näher, das Tablett mit Kaffee in den Händen. Ein seltener Anblick: Valerian Auberon, sonst so kontrolliert, so makellos, wirkt in diesem Moment… verloren.

 

„Herr Auberon?“ sagt sie leise, fast flüsternd. „Es ist schon acht Uhr.“

 

Er bewegt sich nicht sofort, atmet tief, die Stirn leicht gerunzelt.
Erst nach einem Moment öffnet er die Augen, blinzelt ins Licht.


„Acht?“ wiederholt er tonlos, und seine Stimme klingt rau. „Schon?“

 

„Ja,“ sagt sie sanft. „Ich wollte Sie nicht wecken, aber… Sie haben heute Termine, nicht wahr?“

 

Er richtet sich langsam auf, fährt sich über das Gesicht. Der Anzug ist zerknittert, die Haare etwas zerzaust – für seine Verhältnisse beinahe ein Ausnahmezustand.


„Ich… muss wohl eingeschlafen sein,“ murmelt er und sieht sich um, als würde er sich selbst nicht erklären können, wie er hierherkam.

 

Frau Schubert stellt das Tablett auf den Nachttisch.


„Ich wundere mich nur,“ sagt sie vorsichtig, „dass Sie hier geschlafen haben. Das haben Sie seit Monaten nicht mehr getan.“

 

Valerian nickt, sein Blick wandert über das Zimmer – über die Kissen, die Vorhänge, den Nachttisch, auf dem noch immer das kleine, leere Schmuckkästchen steht, das einst Elysias gehörte.


„Ich weiß,“ sagt er leise. „Ich wollte nur… sehen, ob sich hier etwas verändert hat.“

 

Frau Schubert beobachtet ihn einen Moment, dann sagt sie sanft: „Es sieht alles noch aus wie damals, Herr Auberon. Aber vielleicht ist genau das das Problem.“

 

Er sieht zu ihr auf, und in seinen Augen liegt ein Schatten aus Müdigkeit und etwas, das fast wie Reue wirkt.


„Sie haben wahrscheinlich recht,“ murmelt er.

 

Sie nickt, holt leise Luft. „Sie sahen früher hier glücklich aus. Beide. Ich hab Sie selten so lachen sehen wie damals mit ihr.“

 

Ein schwaches, schiefes Lächeln huscht über sein Gesicht. „Das ist lange her, Frau Schubert.“

 

„Lange,“ sagt sie, „aber nicht vergessen.“

 

Valerian blickt auf die Uhr. Es ist tatsächlich kurz nach acht. Normalerweise wäre er längst im Wagen, unterwegs zu einem Termin, doch heute fühlt sich alles träge an. Er greift nach der Kaffeetasse, nippt daran, ohne wirklich zu schmecken. Dann lehnt er sich zurück und sagt leise:

 

„Ich habe gestern den Brief wiedergefunden. Von ihrem Anwalt.“

 

Frau Schubert senkt den Blick, nickt. „Ich dachte mir schon, dass das Sie noch beschäftigen würde.“

 

„Es ist vorbei,“ sagt Valerian, mehr zu sich selbst als zu ihr. „Und ich weiß nicht, ob ich das wirklich begreifen kann.“

 

Sie lächelt traurig, stellt ihm einen Teller mit Toast hin. „Manchmal braucht man Zeit, um loszulassen. Und Mut, um es zu akzeptieren.“

 

Er sieht sie an, nickt langsam. „Zeit… hab ich genug. Nur mit dem Mut hapert’s.“

 

Sie antwortet nicht, räumt leise auf, lässt ihn dann allein.

 

Valerian bleibt sitzen, das Tablett unberührt, den Blick ins Leere gerichtet. Das Zimmer fühlt sich fremd an – wie ein Ort, der ihm einmal gehört hat, aber längst nicht mehr seiner ist.


Und als er schließlich aufsteht, bleibt nur der leise Gedanke:


Vielleicht war es nie das Haus, das leer war. Vielleicht war es er.

 

 

 

Valerian steht später am Vormittag in seinem Büro, das Licht fällt kühl und klar durch die hohen Fenster. Der Tag läuft um ihn herum weiter — Sekretärinnen bringen Unterlagen, Telefone klingeln, jemand klopft an der Tür und bittet um Unterschriften.


Er nickt, gibt kurze, sachliche Antworten. Seine Stimme klingt ruhig, kontrolliert, so wie immer. Doch in seinem Inneren ist es leer. Seit dem Aufstehen hat er versucht, in Routine zurückzufinden. Er hat sich rasiert, den Anzug gewechselt, die Krawatte perfekt gebunden. Alles sitzt makellos, kein Knopf zu viel geöffnet, keine Bewegung zu unbedacht.


Aber die Fassade, die ihn früher stark machte, fühlt sich heute an wie eine Rüstung, die zu eng geworden ist. Er sitzt am Schreibtisch, blättert durch Verträge, sieht Zahlen, liest Worte — und nimmt doch nichts davon wirklich wahr.


Immer wieder taucht ihr Gesicht vor seinem inneren Auge auf.


Elysia.


Wie sie damals in der Küche stand, eine Hand am Kaffeebecher, die andere leicht zitternd. Wie sie ihn ansah, ohne Zorn, nur mit dieser stillen Entschlossenheit, die ihm damals Angst machte. Er schüttelt den Kopf, versucht sich zu konzentrieren.

 

„Reiß dich zusammen, Valerian,“ murmelt er.


Doch er merkt selbst, wie sinnlos das ist. Um sich abzulenken, greift er zum Telefon, wählt eine Nummer. Ein alter Bekannter aus München, ein Geschäftspartner. Sie reden über Projekte, über die Expansion der Hotelkette, über Zahlen. Valerian nickt, macht Notizen, seine Stimme ist ruhig — doch sobald das Gespräch endet, fällt die Stille wie ein Gewicht zurück.


Seine Hand zittert leicht, als er den Hörer auflegt. Er lehnt sich zurück, sieht hinaus. Der Himmel über der Stadt ist wolkenlos, das Leben da draußen läuft weiter, als wäre nichts geschehen. Er aber steckt fest, gefangen in einem Kreislauf aus Erinnerungen und Enttäuschung.


Er hat geglaubt, Arbeit könnte den Schmerz ersticken. Doch sie füllt nur den Tag — nicht die Leere in ihm. Er steht auf, geht zum Fenster, lässt die Finger über den Rahmen gleiten. Sein Spiegelbild im Glas sieht müde aus, blasser, älter.


„Du hast alles,“ sagt er leise zu sich selbst. „Alles, was du wolltest.“


Und doch spürt er, dass das nicht mehr stimmt. Er dreht sich um, greift nach dem Whiskyglas auf dem Schreibtisch. Nur ein kleiner Schluck, denkt er. Nur um die Gedanken zu glätten. Aber es bleibt nicht bei einem. Die Stunden verschwimmen, die Gläser auch.


Er redet kaum mit jemandem, sieht niemandem in die Augen. Als am Abend das Büro leer ist, sitzt er noch immer dort, das Jackett über dem Stuhl, der obere Hemdknopf offen, das Gesicht in den Händen. Er wollte stark sein. Er wollte beweisen, dass er sie nicht braucht.

 

Doch tief in ihm weiß er, dass er genau das tut. Und so sitzt er da, zwischen Akten und Akten, in einem Raum, der zu sauber, zu still, zu leer ist — und merkt, dass er allmählich in seine alten Muster zurückgleitet: Arbeit, Alkohol, Kontrolle.

 

Ein Kreislauf, der ihn vergessen lassen soll, aber stattdessen nur eines tut —
ihn daran erinnern, wie allein er wirklich ist.


Das Sonnenlicht fällt warm durch die großen Fenster des kleinen Büros. Der Duft nach Kaffee und Papier liegt in der Luft.


Elysia sitzt an einem schlichten Holztisch, gegenüber Frau Mertens, der Vermieterin, die mit einem freundlichen Lächeln den Vertrag vor sie legt.

 

„Dann wären wir soweit,“ sagt Frau Mertens und schiebt ihr einen Füller hin.

 

„Hier unten, bitte. Und hier noch einmal auf der zweiten Seite.“

 

Elysia nimmt den Füller in die Hand. Ihre Finger zittern leicht, nicht vor Unsicherheit – sondern vor Aufregung.


Sie sieht auf das Papier, die Buchstaben tanzen fast ein wenig in der Sonne:


„Mietvertrag – Wohnung, Brunnental, Rosenweg 8, 1. Etage.“

 

Ein unscheinbarer Satz, der doch alles bedeutet.


Freiheit. Neubeginn. Eigenständigkeit.

 

Sie unterschreibt. Erst zögernd, dann fester, entschlossener.
Als sie den Füller ablegt, atmet sie tief aus – fast, als hätte sie damit auch etwas anderes losgelassen.

 

Frau Mertens lächelt warm. „Herzlichen Glückwunsch, Frau Auberon.“


Elysia erwidert das Lächeln. „Nur Elysia, bitte.“


„Dann herzlichen Glückwunsch, Elysia.“

 

Die ältere Frau greift in ihre Handtasche, zieht einen kleinen Schlüsselbund hervor.


Ein goldener Schlüssel, schlicht, glänzend, und daran ein rundes Holzschildchen, auf dem in feiner Schrift steht: Rosenweg 8.

 

„Ihr Schlüssel,“ sagt Frau Mertens und legt ihn in Elysias offene Handfläche.


Elysia sieht ihn an – klein, unscheinbar, und doch schwer in ihrer Hand.

 

Sie lächelt. „Danke.“

 

„Ich glaube, Sie und diese Wohnung – das passt,“ sagt Frau Mertens, als sie aufsteht. „Man spürt, wenn jemand einen Ort wirklich zu schätzen weiß. Sie werden sich dort wohlfühlen.“

 

„Das hoffe ich,“ sagt Elysia leise, und ihr Lächeln erreicht diesmal auch ihre Augen.

 

Draußen wartet Phelia, die in der Sonne steht und ihr sofort entgegenstrahlt, als Elysia den Schlüssel hochhäl

t.
„Und?“ ruft sie, obwohl die Antwort längst klar ist.


Elysia nickt, das Lächeln breit, echt, fast kindlich. „Es ist offiziell. Ich hab’s unterschrieben.“

 

Phelia quietscht vor Freude, zieht sie in eine feste Umarmung. „Ich wusste es! Du gehörst da rein, in diese Wohnung. Ich helf dir beim Umzug, und wehe, du sagst nein!“

 

„Ich würd’s nicht wagen,“ lacht Elysia.

 

Sie gehen gemeinsam durch die kleine Straße, der Sommerwind spielt mit Elysias Haaren. Sie bleibt kurz stehen, dreht den Schlüssel zwischen den Fingern und sieht hinauf in den blauen Himmel.

 

Ihr Schlüssel. Ihre Wohnung. Ihr Leben.

 

Zum ersten Mal seit sehr langer Zeit fühlt sie sich nicht mehr als jemandes Ehefrau. Nicht mehr als Teil einer glänzenden Fassade. Sondern einfach nur als sie selbst.

 

„Bereit?“ fragt Phelia lachend.


Elysia nickt und steckt den Schlüssel in ihre Tasche.


„Ja,“ sagt sie. „Mehr als je zuvor.“

 

 

 

Die Nachmittagssonne glüht über Brunnental, als Elysia vor dem alten Backsteinhaus steht. Der Schlüssel liegt warm in ihrer Hand, und einen Moment lang betrachtet sie ihn, als könne er wirklich alles verändern. Dann atmet sie tief durch, steckt ihn ins Schloss und dreht ihn um.

 

Das leise Klicken klingt wie Musik.

 

Sie öffnet die Tür und tritt ein. Der Flur riecht nach frischer Farbe und ein leichter Windzug bewegt die Vorhänge. Die Wohnung ist leer, doch nicht kalt. Es ist, als würde sie auf sie warten. Elysia geht durch die Räume.
Das Wohnzimmer ist hell, mit großen Fenstern und einem kleinen Balkon, auf dem die Sonne in goldenen Streifen tanzt.


Das Schlafzimmer – schlicht, ruhig, mit hellen Wänden. Die Küche klein, aber gemütlich, und sie stellt sich sofort vor, wie dort der Duft von Kaffee und frischen Brötchen hängen wird.

 

Sie stellt ihre Tasche ab, öffnet das Fenster, lässt die warme Luft herein.
Draußen zwitschern Vögel, irgendwo bellt ein Hund. Zum ersten Mal seit Monaten hört sie keine Schritte auf Marmor, kein leises Klirren von Gläsern, keine Kommandos. Nur Leben. Ihr Leben.

 

Sie setzt sich auf den Boden, lehnt sich an die Wand und lächelt. Es gibt noch keine Möbel, kein Bett, keine Gardinen – und doch fühlt sie sich angekommen.

 

„Das ist meins,“ flüstert sie leise, und ihre Stimme klingt ungewohnt sicher.
Ihr Blick fällt auf den Schlüsselbund neben ihr. Ein kleiner, goldener Schlüssel. Der Anfang von allem.


In Falkensee liegt der Nachmittag friedlich über dem See. Das Wasser glitzert, Vögel ziehen ihre Kreise, und die Luft riecht nach Sommer und Kiefernharz.
Kian sitzt auf der Holzbank am Steg, das Hemd aufgeknöpft, den Blick aufs Wasser gerichtet.

 

Es ist sein Lieblingsort geworden. Hier denkt er nach – oder versucht es zumindest. Heute aber gelingt ihm das kaum. Seit Tagen kreisen seine Gedanken immer wieder um Elysia. Wie ein stiller Schatten, der ihn begleitet.
Er weiß, dass sie in Sicherheit ist, dass sie ihr Leben wieder aufbaut. Hannah hat das deutlich genug gesagt.


Und trotzdem fragt er sich, wie es ihr wirklich geht.

Ob sie manchmal an ihn denkt. An den Regen, an den Abend in seiner Küche, an die Stille zwischen ihnen, die irgendwie friedlich war. Er lehnt sich zurück, sieht auf die Wasseroberfläche, in der sich die Sonne bricht.


Liora hat er losgelassen, das Kapitel ist abgeschlossen. Aber mit Elysia… ist es anders. Da war nie ein Ende. Nur ein offener Punkt, der einfach stehen geblieben ist. Er lächelt leise, ohne Bitterkeit.Vielleicht muss es auch kein Ende geben. Vielleicht reicht es, zu wissen, dass sie irgendwo da draußen ist – und dass sie lebt, frei und hoffentlich glücklich.

 

Der Wind frischt auf, spielt mit seinem Haar. Kian atmet tief ein, spürt die Wärme auf seiner Haut und steht langsam auf.


„Vielleicht,“ murmelt er leise, „sehen wir uns eines Tages wieder.“

 

Er weiß, dass das Leben manchmal seltsame Wege geht. Und vielleicht, nur vielleicht, führt einer davon irgendwann wieder zu ihr.

 

Er lächelt, steckt die Hände in die Hosentaschen und geht den Pfad am See entlang, während die Sonne langsam über Falkensee sinkt – und irgendwo, nicht weit entfernt, eine Frau mit goldblondem Haar in ihrer neuen Wohnung den Himmel betrachtet, ohne zu wissen, dass in diesem Moment jemand an sie denkt.