Falkensee - Kapitel 28
Es ist noch dunkel, als Elysia die Haustür hinter sich schließt.
Die Kälte trifft sie sofort – ein scharfer Biss in die Wangen, der sie wach macht.
Der Schnee knirscht unter ihren Stiefeln, ein vertrauter Klang, der den kleinen Ort noch stiller wirken lässt.
Sie zieht den Schal etwas höher und startet ihren Weg zur Bäckerei.
Der Himmel ist klar, ein Hauch von Rosa schimmert am Horizont – ein Wintermorgen, wie man ihn in Brunnental gewohnt ist.
Und doch fühlt sich alles leichter an. Weicher. Wärmer. Denn in ihrem Kopf ist nur ein Gedanke:
Kian.
Seine Stimme vom gestrigen Abend klingt ihr noch im Ohr. Diese tiefe Wärme, die immer da ist, wenn er spricht. Seine schalkhaften Bemerkungen, die sie zum Lachen gebracht haben. Sein Blick, der sie über den Bildschirm hinweg so angesehen hat, als wäre sie das schönste, was er je gesehen hat.
Und sein Vorschlag. Die gemeinsame Wohnung. Ein kleiner Traum, der seit letzter Nacht in ihr glüht wie eine Kerze. Sie lächelt, ohne es zu merken.
Als sie die Tür öffnet zur, schlägt ihr warme Luft entgegen – und der Duft von frischem Brot, Vanillegebäck und frisch gebrühtem Kaffee. Ihr Lieblingsduft.
Elysia schließt einen Moment die Augen und atmet tief ein. Der Tag kann beginnen.
Phelia ist schon da, wedelt mit einem Küchentuch herum und versucht lachend, den Ofen zu bändigen.
„Guten Morgen, Schneeflocke!“ ruft sie fröhlich.
„Morgen“, lächelt Elysia zurück und hängt ihre Jacke auf.
„Du siehst ja strahlender aus als der Schnee im Sonnenlicht.“, merkt Phelia an und stemmt die Hände in die Hüften.
„Hat jemand gestern einen sehr netten Abend gehabt?“
Elysia wird rot, aber grinst.
„Vielleicht.“
Phelia quietscht wie immer, wenn sie etwas Romantisches wittert.
„Ah! Kian! Der Süße!“
„Psst!“, lacht Elysia. „Er ist nicht süß.“
„Er ist ULTRAsüß“, widerspricht Phelia und schiebt ihr ein Tablett in die Hände.
„Und ich wette, er hat dich gestern wieder mit diesen Blicken angeschaut… den Kian-Blicken.“
Elysia muss schon vom Gedanken her schmunzeln.
„Vielleicht hat er das.“
„Siehste! Ich wusste es!“, ruft Phelia und tänzelt zur Kaffeemaschine.
Elysia lächelt. Und während sie die ersten Brötchen in die Auslage räumt, fällt ein weißer Lichtstrahl durch das Fenster – ein neuer Tag beginnt.
Der Vormittag läuft ruhig an. Ein paar Kunden kommen, ein paar gehen.
Draußen beginnt es wieder zu schneien – leise, stetig, dicke Flocken, die Brunnental in Watte hüllen.
Phelia steht an der Kaffeemaschine, während Elysia die Auslage mit frischen Brezeln füllt.
„Weißt du, was ich nicht verstehe?“ fragt Phelia plötzlich und sieht nach draußen.
„Dass du morgens schon so viel redest?“, neckt Elysia zurück.
„Sehr witzig“, sagt Phelia und zeigt mit dem Daumen Richtung Fenster. „Nein. Der Schnee. Jetzt schneit es wieder und zu Weihnachten? Da regnet’s wahrscheinlich wieder wie jedes Jahr.“
Elysia lacht.
„Wahrscheinlich. Wie immer. Das Wetter schafft es nie, weiße Weihnachten hinzukriegen.“
„Als würde das Wetter uns veräppeln“, murmelt Phelia und wischt sich die Hände an der Schürze ab.
Doch dann bleibt ihr Blick hängen. Sie verengt die Augen.
„Sag mal… der steht da immer noch.“
„Wer?“, fragt Elysia, ohne aufzusehen.
„Der schwarze Wagen.“
Jetzt schaut Elysia doch auf.
„Welche Wagen?“
„Na der da hinten, beim Parkstreifen.“
Phelia tritt ans Fenster, die Stirn leicht gekräuselt.
„Der stand gestern schon da. Und heute wieder. Hat sich keinen Millimeter bewegt, glaub ich.“
Elysia richtet sich auf, wischt sich die Hände ab und geht zu ihr.
„Vielleicht ein Pendler?“, sagt sie unbeschwert. „Oder jemand von der Baustelle.“
„Mit so einem Auto?“, fragt Phelia skeptisch.
„Also, schau ihn dir doch an.“
Elysia stellt sich neben sie ans Fenster. Draußen fällt der Schnee dichter, und durch die Flocken sieht sie: den dunklen SUV. Schwarz und auffällig. Er steht dort, als würde er nicht parken – sondern warten.
Elysia legt den Kopf leicht schräg.
„Ja… komisch ist es schon ein bisschen.“
„Sag ich doch“, murmelt Phelia. „Der stand gestern Nachmittag schon da, als ich Feierabend gemacht hab.“
Elysia zieht die Augenbrauen zusammen, aber nicht aus Angst – eher aus Verwunderung. Sie wappnet sich innerlich schon gegen Phelias Dramatik.
„Vielleicht hat jemand Verwandtschaft hier“, sagt Elysia. „Oder jemand hat sein Auto stehen lassen, weil er abgeholt wurde.“
Phelia überlegt.
„Hm… ja, könnte sein.“
Doch sie sieht nicht überzeugt aus.
Elysia aber lächelt beruhigend und tippt ihr gegen die Schulter.
„Ich denke nicht, dass das irgendwas Wichtiges ist.“
„Ich auch nicht“, sagt Phelia. „Aber… auffällig ist er trotzdem.“
Elysia blickt noch einmal hinaus. Der Wagen bleibt still. Ohne erkennbares Leben darin. Ein harmloser Anblick. Sie dreht sich wieder um.
„Komm, wir müssen arbeiten. Die Leute wollen gleich ihr zweites Frühstück.“
Phelia nickt langsam, aber ihr Blick geht noch einmal kurz zum Fenster.
„Komisch bleibt es trotzdem.“
Doch für Elysia bleibt der SUV einfach nur ein Auto im Schnee.
Dass jemand darin sitzt – und auf sie wartet – ahnt sie nicht.
Die Mittagszeit naht, und für einen Moment ist endlich Ruhe in der Bäckerei.
Phelia kümmert sich hinten um den Ofen, während Elysia den Müll rausbringt und kurz frische Luft schnappt. Draußen ist es noch immer kalt, der Schnee fällt feiner, fast wie kleine glitzernde Punkte.
Elysia wickelt ihren Schal enger um den Hals, als ihr Handy vibriert.
Kian ruft an.
Ein Lächeln breitet sich sofort über ihr Gesicht aus. Sie nimmt den Anruf an und lehnt sich kurz an die Hauswand neben der Tür, während der Dampf ihres Atems in kleinen Wolken aufsteigt.
„Hallo du“, sagt sie weich.
Am anderen Ende klingt Kians Stimme warm und ein bisschen verschlafen.
„Ich hab gehofft, dass du kurz Zeit hast.“
„Hab ich immer für dich“, antwortet sie und lächelt.
Er lacht leise, und der Klang legt sich wie warmer Honig über ihr Herz.
„Wie läuft der Tag?“
„Gut“, sagt Elysia. „Etwas voll, aber schön. Und ich hab den ganzen Morgen an unsere Idee gedacht.“
„Unsere Wohnungsidee?“, fragt er sofort.
„Mhm.“
„Ich auch.“
Sie lächelt, schiebt eine Strähne hinters Ohr.
„Ich glaube, es könnte wirklich funktionieren, Kian.“
„Ich weiß“, sagt er. „Und ich will dich nicht drängen. Ich will einfach nur… mit dir zusammen sein. Ohne Kilometer dazwischen.“
Elysia wird warm ums Herz.
„Ich möchte das auch.“
Auf dem abseits stehenden schwarzen SUV öffnet sich leise ein Fenster ein paar Zentimeter. Gerade genug, dass man hindurch filmen kann. Drinnen sitzt Kessler. Sein Handy ist bereits in der Hand. Die Kamera läuft.
Er zoomt langsam heran, als sie das Handy an ihr Ohr drückt, als sie lächelt. Als sie mit dem Fuß kleine Halbkreise in den Schnee zeichnet. Er dokumentiert. Seine Augen bleiben kühl.
„Ich überlege, ob ich am Wochenende einfach rüberfahre. Oder…“ Kian macht eine kurze Pause. „Ich nehme mir morgen frei und komme heute Abend.“
Elysias Augen werden groß.
„Wirklich?“
„Wenn du willst.“
Das Lächeln auf ihren Lippen ist so weich, so echt, dass selbst Kessler einen Moment lang blinzeln muss.
„Ich würde das sehr wollen“, flüstert sie.
„Gut“, sagt Kian. „Dann mach dich auf mich gefasst.“
Sie lächelt.
„Ich freue mich.“
Sie verabschieden sich nach ein paar weiteren liebevollen Worten. Elysia senkt das Handy, hält es einen Moment an ihre Brust, atmet tief durch. Ihr Herz ist leicht. Ihr Lächeln warm.
Sie dreht sich um, geht zurück in die Bäckerei – und hat nicht einmal bemerkt, wie der SUV-Motor leise summt. Wie ein Mann im Inneren des Wagens eine Nachricht schreibt:
Zielperson gesichtet. allein. Telefoniert. Glücklich.
Ich bleibe dran.
Der Nachmittag ist ruhig. Der Winter hat die Stadt grau eingehüllt, und im Büro von Kian und Ben summt nur der Computer leise.
Ben sitzt wie immer halb in seinem Stuhl hängend, während er an einem Energy-Drink nippt.
Kian hingegen wirkt auffallend… guter Laune. Er lehnt sich vor, stützt die Ellenbogen auf den Tisch und tippt etwas in sein Handy. Ein Lächeln huscht über seine Lippen.
Ben beobachtet ihn einen Moment. Dann sagt er trocken:
„Du grinst wie jemand, der heute Abend nicht allein einschlafen wird.“
Kian schaut hoch.
„Hä? Was?“
„Ach komm“, sagt Ben und wirft ihm ein verschmitztes Grinsen zu. „Ich kenne dieses Gesicht. Das ist dein ‚Ich häng mich gleich ins Auto und fahre zu Elysia‘-Gesicht.“
Kian lacht – ein warmes, unbeschwertes Lachen.
„Okay, erwischt. Ja. Ich fahre heute Abend zu ihr.“
„Wusste ich’s doch!“, ruft Ben triumphierend und setzt sich nun aufrecht hin.
„Und wann bist du morgen wieder da?“
Kian lehnt sich entspannt zurück.
„Erst am Vormittag.“
„Aha.“ Ben nickt. „Ich trag’s in den Kalender ein: ‚Kian – nicht verfügbar wegen Liebe‘.“
Kian rollt mit den Augen.
„Sehr witzig.“
„Erzähl“, fordert Ben nun, ernsthaft interessiert. „Du hast diesen Blick. Diesen… Zukunfts-Blick.“
Kian räuspert sich, doch ein sanftes Strahlen lässt sich nicht verbergen.
„Ich hab Elysia gestern gesagt, dass ich… über eine gemeinsame Wohnung nachdenke.“
Ben’s Mund fällt halb offen.
„Oha. Das ist ein großer Schritt. Aber genau das was ich gesagt hebe.“
„Ich weiß“, sagt Kian und spielt nervös mit einem Stift. „Es fühlt sich richtig an. Und ich wollte offen sein. Ihr zeigen, dass das hier nicht nur… Wochenend-Romantik ist.“
Ben nickt langsam, mit ungewohnt ernster Miene.
„Und? Wie hat sie reagiert?“
Kian lehnt sich vor, die Arme auf dem Tisch verschränkt, seine Stimme weicher.
„Sie hat sich gefreut. Richtig gefreut. Aber… wir nehmen uns Zeit. Wir wollen darüber reden. In Ruhe. Und vor allem – wo wir wohnen wollen.“
Ben pfeift leise.
„Drei Stunden zwischen euch… das ist kein Spaziergang.“
„Nein“, bestätigt Kian. „Deshalb ist es wichtig, dass wir den richtigen Ort finden. Und dass wir beide uns sicher fühlen. Sie hat viel erlebt…“
Ben nickt ernst.
„Ich weiß. Aber sie vertraut dir. Das sieht man.“
Kian lächelt.
„Ja. Das tut sie.“ Er atmet tief ein, als würde allein dieser Gedanke ihn wärmen. „Ich fahre heute zu ihr, wir reden weiter drüber. Vielleicht noch nicht alles konkret… aber wir gehen Schritt für Schritt. Langsam. Ohne Druck.“
Ben nickt.
„Gute Entscheidung. Und ich sag’s dir ganz ehrlich: Wenn jemand mit dir zusammenziehen sollte, dann Elysia. Die macht dich zu einem besseren Menschen.“
Kian grinst.
„Ich weiß.“
„Und noch wichtiger: Sie bringt dich nicht dazu, jeden Morgen schlecht gelaunt hier reinzukommen.“
Kian lacht laut.
„Das warst DU.“
Ben legt die Hand aufs Herz.
„Ich? Ich bin ein Sonnenschein.“
„Ben, du bist das personifizierte Novemberwetter.“
„Hey!“, ruft Ben empört. „Ich bin mindestens März!“
Kian schüttelt lachend den Kopf.
Es ist später Nachmittag in Falkensee. Die Wohnung ist warm, gemütlich, überall liegen Babyzeitschriften, die Hannah in einem Anflug von Nestbauzwang gekauft hat. Hannah sitzt auf dem Sofa, die Füße hochgelegt, eine Tasse Kräutertee in den Händen. Ihr Bauch ist inzwischen deutlich sichtbar, rund – und zurzeit äußerst aktiv.
Ben kommt gerade aus der Küche, ein Glas Wasser in der Hand.
Als er den Raum betritt, sieht er sofort:
Hannah hat den Gesichtsausdruck einer Frau, die jeden Moment wieder eine ihrer „Schwangerschafts-Emotions-Wellen“ haben könnte. Er setzt sich neben sie.
„Alles ok bei dir?“, fragt er vorsichtig.
„Ja… ich glaube“, murmelt Hannah und streichelt ihren Bauch. „Er oder sie tritt heute wieder wie irre.“
„Wird ein Fußballstar“, grinst Ben.
Hannah verdreht die Augen.
„Oder einfach nur nervig wie sein Vater.“
Ben tut so, als sei er tief getroffen.
„Autsch.“
Doch dann wird sein Blick etwas ernster.
„Ich muss dir etwas erzählen.“
Hannah richtet sich sofort minimal auf.
„Ist es schlimm? Wenn es schlimm ist, sag es langsam. Sehr langsam.“
Ben schmunzelt.
„Nein, nein. Keine Panik. Es ist eher… schön. Also hoffentlich.“
„Ben, sag es einfach!“
Er atmet tief durch.
„Kian hat Elysia gestern gesagt, dass er sich vorstellen kann, mit ihr zusammenzuziehen.“
Hannahs Augen werden sofort riesig. Ihre Finger klammern sich an die Sofakante.
„Nein! Wirklich?!“
„Ja“, sagt Ben und lächelt. „Sie haben darüber gesprochen. Sie beide wollen sich Zeit lassen, aber… es fühlt sich gut an für die beiden.“
Und dann passiert es. Hannahs Gesicht entgleitet. Ihre Unterlippe beginnt zu zittern.
„Oh mein Gott…“, wimmert sie.
Ben seufzt innerlich.
Da ist es. Die Hormonwelle.
„Ich… ich… das ist… so schön!“ Sie bricht in Tränen aus – laut, herzzerreißend, komplett unvermittelt.
Ben zieht sie langsam an sich.
„Hey hey hey… alles gut.“
„Nein! Nicht alles gut!“ schniefte Hannah. „Ich vermisse sie so schrecklich! Jeden. Einzelnen. Verdammten. Tag! Sie wohnt in diesem kleinen Brunnental und ich bin hier in Falkensee und ich kann nicht mal spontan vorbeifahren! Und jetzt zieht sie vielleicht noch weiter weg! Oder nach sonstwohin! Und ich werde sie nie wieder sehen!“
Ben drückt sie sanft an sich.
„Hannah, Schatz… Brunnental ist dreieinhalb Stunden weg, kein halber Kontinent.“
„Für mich ist das ein halber Kontinent!“, schluchzt sie.
„Und niemand hat gesagt, dass Elysia wegzieht“, ergänzt er. „Kian könnte auch nach Brunnental ziehen.“
Hannah schnieft heftig, wischt sich grob über die Augen.
„Meinst du… das könnte sein?“
Ben nickt.
„Ja. Die beiden wollen in Ruhe darüber reden. Sie entscheiden gemeinsam, was für sie am besten ist.“
Hannah atmet tief durch, der Bauch hebt und senkt sich merklich.
„Ich… ich freue mich ja wirklich für sie. So sehr. Aber… ich vermisse sie einfach.“
Ben streichelt beruhigend über ihren Rücken.
„Das ist okay. Du bist schwanger. Da darf man alles fühlen.“
Hannah leise, mit bebender Stimme:
„Ich will, dass sie glücklich ist… aber ich will sie auch bei mir haben.“
„Beides geht“, sagt Ben warm. „Sie bleibt deine beste Freundin. Sie ruft sowieso dreimal am Tag an.“
Hannah lacht kurz, durch ihre Tränen hindurch.
„Das stimmt.“
„Vielleicht“, sagt Ben vorsichtig, „rufst du sie heute einfach mal an.“
Hannah nickt – und direkt wieder laufen zwei Tränen.
„Ich heule schon wieder!“, jault sie.
„Ja, ich weiß“, sagt Ben trocken. „Ich bring dir noch ein Taschentuch.“
Und trotz allem – in ihrem Herzen freut sich Hannah wirklich. Für Elysia und Kian. Auch wenn es wehtut, nicht bei ihr zu sein.