Falkensee - Kapitel 4
Der nächste Morgen beginnt wie immer – doch fühlt sich alles anders an. Die Sonne scheint gedämpft durch die Vorhänge, die Uhr tickt ruhig, und der Duft von Kaffee hängt in der Luft.
Elysia sitzt am Tisch, elegant wie immer, aber in ihrem Blick liegt etwas Neues – etwas Festes.
Valerian blättert in seiner Zeitung, die Tasse neben ihm halb leer. Das Rascheln der Seiten füllt die Stille, die sie seit Monaten umgibt. Bis heute.
„Muss das eigentlich jeden Morgen sein?“ fragt Elysia plötzlich, ohne den Blick von ihrem Brötchen zu heben.
Valerian senkt langsam die Zeitung. „Was meinst du?“
„Das.“ Sie deutet mit einem kleinen Kopfnicken auf die Zeitung. „Dieses ewige Rascheln. Dieses Schweigen. Dieses… so tun, als wäre ich gar nicht hier.“
Er blinzelt irritiert. „Ich lese Nachrichten. Das habe ich immer getan.“
„Ja,“ sagt sie ruhig, „und ich habe immer daneben gesessen und so getan, als wäre das in Ordnung.“
Sein Blick verengt sich. „Willst du jetzt ernsthaft über meine Morgenroutine diskutieren?“
„Nein,“ sagt sie leise, aber deutlich. „Ich will einfach nur reden. Oder wenigstens das Gefühl haben, dass ich nicht nur ein Teil deiner Dekoration bin.“
Valerian legt die Zeitung zusammen, zu schnell, zu laut. „Elysia, was soll das? Du weißt genau, dass ich morgens Zeit brauche, um in Ruhe zu lesen.“
„Dann lies,“ sagt sie gelassen und trinkt einen Schluck Kaffee. „Aber tu es allein. Wenn du sowieso nicht mit mir reden willst, musst du auch nicht darauf bestehen, dass ich hier sitze.“
Er starrt sie an, fassungslos. „Wie redest du mit mir?“
„Ehrlich,“ sagt sie ruhig. „Vielleicht zum ersten Mal seit Jahren.“
Seine Kiefermuskeln spannen sich, seine Stimme wird lauter. „Ich habe genug von diesem Ton! Du vergisst wohl, wem du das alles hier zu verdanken hast!“
Elysia hebt langsam den Blick, und ihre Augen treffen seine.
„Nein,“ sagt sie mit sanfter Stimme. „Ich erinnere mich nur endlich daran, dass ich auch etwas verdiene – Respekt.“
Für einen Moment herrscht absolute Stille.
Valerian wirkt, als wolle er etwas sagen, etwas entgegnen – doch ihre Gelassenheit nimmt ihm die Worte.
Sie steht einfach auf, nimmt ihre Tasse und stellt sie in die Spüle.
„Ich fahre heute in die Stadt,“ sagt sie ruhig, ohne ihn anzusehen.
„Ohne mich zu fragen?“
„Ich wusste nicht, dass ich das muss.“
Er will etwas erwidern, aber sie ist bereits auf dem Weg zur Tür.
Seine Stimme hallt hinter ihr her, laut, schneidend, bedeutungslos.
Elysia lächelt leise, fast unmerklich.
Sie hat keine Angst mehr.
Zum ersten Mal seit langer Zeit hat sie das Gefühl, dass sie atmet.
Elysia geht nicht sofort. Sie spürt noch, wie Valerians Worte in der Luft hängen, kalt und schwer – aber diesmal bleiben sie nicht an ihr haften. Sie atmet tief durch, dreht sich um und verlässt die Küche, während er noch redet. Oben im Schlafzimmer ist es still. Das Bett ist ordentlich gemacht, die Sonne fällt weich auf die hellen Vorhänge. Sie steht einen Moment davor, sieht sich selbst im Spiegel – elegant, perfekt, fremd.
Dann löst sie langsam den Gürtel ihres Kostüms, streift die Bluse ab und legt sie sorgfältig aufs Bett. Ein Kleidungsstück nach dem anderen – jedes wirkt wie eine alte Haut, die sie ablegt. Sie öffnet den Schrank, zieht eine Jeans heraus, ein schwarzes, schlichtes Langarmshirt, und schlüpft hinein. Das Gefühl ist befreiend. Kein Seidentuch, keine Pumps – stattdessen Turnschuhe, bequeme, leicht verwaschene, die sie seit Ewigkeiten nicht getragen hat. Vor dem Spiegel steckt sie sich die Haare locker hoch, ein paar Strähnen fallen ins Gesicht.
Dann nimmt sie ihre kleine Schminktasche, wischt die alte, perfekte Fassade fort – und malt sich neu: weniger Farbe, weniger Kontrolle, mehr sie selbst.
Sie lächelt ihr Spiegelbild an. Zum ersten Mal seit Langem erkennt sie die junge Frau wieder, die sie einmal war. Nicht die Frau, die man ausstellt.
Sondern die, die lacht, rennt, atmet. Sie greift nach ihrer Handtasche und geht die Treppe hinunter.
Valerians Stimme ist aus dem Wohnzimmer zu hören – schneidend, laut.
„Wenn du jetzt gehst, Elysia, dann musst du mit Konsequenzen rechnen!“
Sie bleibt kurz stehen, ohne sich umzudrehen. Dann sagt sie ruhig, fast freundlich:
„Dann tu, was du tun musst.“
Seine Worte folgen ihr bis zur Tür, lauter, wütender:
„Und sieh zu, dass du mir in den nächsten Tagen nicht über den Weg läufst!“
Elysia öffnet die Haustür.
Warme Luft schlägt ihr entgegen, der Himmel ist sonnig und weit. Sie lächelt.
„Das war sowieso mein Plan.“
Dann schließt sie die Tür hinter sich, steigt die Stufen hinunter und geht die Auffahrt hinab. Jeder Schritt fühlt sich leichter an. Der Wind spielt mit einer losen Haarsträhne, sie steckt die Hände in die Taschen ihrer Jeans und atmet tief ein.
Zum ersten Mal seit Jahren fühlt sie sich – jung. Nicht die Frau, die sie sein sollte. Sondern die, die sie wieder werden will. Und als sie den Weg zur Stadt hinuntergeht, spürt sie etwas, das sie fast vergessen hatte:
Freiheit.
Die Stadt empfängt sie mit Geräuschen und Farben, die ihr vorkommen, als würde sie sie zum ersten Mal hören und sehen. Autos rauschen vorbei, Kinder lachen, eine Straßenmusikerin spielt eine fröhliche Melodie auf der Geige.
Elysia läuft durch die Innenstadt, die Hände in den Taschen.
Der Wind trägt den Duft von frischem Gebäck, Kaffee und Pommes mit sich. Zum ersten Mal seit Langem hat sie kein Ziel.
Und genau das fühlt sich herrlich an.
Sie bleibt vor einem kleinen Laden stehen – einer dieser Boutiquen, die zwischen Buchhandlungen und Cafés eingeklemmt sind, mit Schaufenstern voller bunter Kleidung, die niemand „stilvoll“ nennen würde, aber die nach Leben aussieht. Sie zögert kurz – dann tritt sie ein.
Drinnen duftet es nach Stoff und Holz. Eine Verkäuferin begrüßt sie mit einem ehrlichen Lächeln.
„Etwas Bestimmtes?“
„Nein,“ sagt Elysia. „Einfach nur… etwas Echtes.“
Sie stöbert durch die Ständer, ihre Finger gleiten über Jeansstoffe, Baumwollshirts, bunte Sommerkleider.
Dann findet sie etwas, das sie überrascht: einen kurzen Jeansrock. Etwas, das sie früher getragen hätte. Etwas, das sie immer mochte. Ein kleines Lächeln huscht über ihr Gesicht. Sie geht in die Kabine, zieht sich um – und als sie in den Spiegel sieht, muss sie fast lachen.
Die Frau, die sie dort sieht, sieht jung aus. Frei. Nicht wie die Frau, die am Morgen noch im goldenen Käfig saß.
Als sie wieder hinausgeht, kauft sie den Rock, eine schlichte Bluse, ein paar Accessoires – nichts Luxuriöses, nur Dinge, die sich nach ihr selbst anfühlen.
Draußen in der Sonne holt sie sich ein Eis. Vanille mit Erdbeersoße. Sie geht langsam weiter, eine Tüte in der einen Hand, das Eis in der anderen, und lächelt einfach. Ein ehrliches, ungekünsteltes Lächeln, das aus dem Innersten kommt. Passanten schauen sie an, nicht weil sie elegant wirkt – sondern weil sie leuchtet.
Elysia merkt es nicht. Sie denkt nur: So muss sich Freiheit anfühlen.
Sie bleibt an einem Schaufenster stehen, betrachtet ihr Spiegelbild zwischen bunten Kleidern und Sommerhüten. Ihr Haar ist vom Wind zerzaust, ein Tropfen Eissauce klebt an ihrem Finger, und sie lacht leise über sich selbst.
Es ist ein kleiner, unscheinbarer Moment – aber in ihrem Innern fühlt es sich an, als hätte sie nach Jahren wieder Sonne auf der Haut.
Valerian steht im Arbeitszimmer, das Handy am Ohr, die Kiefermuskeln angespannt. In ihm tobt noch immer ein Sturm.
„Wie bitte?“
Die Stimme seines Chauffeurs klingt unsicher am anderen Ende.
„Ich… habe sie heute Morgen nicht gesehen, Herr Auberon. Soll ich...“
„Ja, Sie sollen!“ schneidet Valerian ihn ab, scharf wie ein Messer. „Sie wissen, was für ein Wagen ihr gehört. Suchen Sie die Stadt ab. Einkaufsstraßen, Cafés, alles. Ich will, dass Sie sie finden und nach Hause bringen, verstanden?“
„Natürlich, Herr Auberon. Sofort.“
„Und informieren Sie mich, sobald Sie sie gefunden haben – kein Wort zu irgendwem, ist das klar?“
Er legt auf, zu heftig. Das Handy fällt beinahe vom Tisch. Er atmet kurz aus, zwingt sich zur Ruhe – vergeblich. Seine Frau war nie aufsässig gewesen. Nie.
Und jetzt läuft sie einfach weg, mitten am Tag, als wäre sie … frei? Allein der Gedanke bringt sein Blut zum Kochen.
Er greift wieder zum Handy, wählt eine Nummer nach der anderen.
Zuerst ihre Eltern – niemand weiß etwas. Ihre Mutter klingt besorgt, ihr Vater gereizt, als Valerian zu erklären beginnt.
„Elysia ist emotional, das wissen Sie,“ sagt er kalt. „Ich will nicht, dass sie sich öffentlich lächerlich macht.“
„Lächerlich?“ wiederholt ihre Mutter fassungslos. „Sie ist Ihre Frau, Valerian, kein Kind.“
„Dann benehmen Sie sich bitte auch wie eine,“ entgegnet er und beendet das Gespräch.
Er läuft unruhig durchs Zimmer, zieht sich die Manschetten zurecht, greift wieder zum Telefon.
Hannah Thiel.
Allein der Name lässt ihn die Stirn runzeln. Es klingelt.
„Thiel,“ meldet sich eine Stimme, warm, leicht amüsiert.
„Hier ist Valerian Auberon,“ sagt er betont ruhig.
Eine Pause. Dann: „Oh. Der Ehemann.“
„Ich möchte wissen, ob Sie wissen, wo Elysia ist.“
„Elysia?“ Hannahs Stimme klingt betont unschuldig. „Ich nehme an, irgendwo, wo sie endlich mal durchatmen kann.“
„Das war keine Antwort auf meine Frage,“ sagt er scharf.
„Und das war keine Frage, sondern ein Befehl,“ erwidert sie kühl. „Und die nehme ich nicht entgegen.“
Valerian presst die Lippen zusammen. „Hören Sie, Frau Thiel, ich dulde es nicht, dass Sie...“
„Oh, ich glaube, Sie dulden eine Menge Dinge nicht,“ unterbricht sie ruhig. „Aber wissen Sie was? Ich bin ehrlich gesagt froh, dass sie mal das tut, wonach ihr der Sinn steht – und nicht, was Sie von ihr erwarten.“
Er stockt, seine Stimme sinkt in gefährliche Kälte. „Sie überschreiten eine Grenze.“
„Nein,“ sagt Hannah leise, aber bestimmt. „Ihre Frau hat das getan. Endlich.“
Er will etwas erwidern, aber sie legt auf.
Valerian steht reglos da, die Hand noch am Handy, das Kinn angespannt, der Blick finster. Er hasst Kontrollverlust – und jetzt verliert er sie. Mit einem wütenden Stoß schiebt er den Stuhl zurück, geht zum Fenster.
Draußen scheint die Sonne - hell und klar, als würde der Himmel ihn verspotten.
„Du glaubst, du kannst einfach gehen?“ murmelt er leise. „Wir werden ja sehen.“
Die Sonne steht inzwischen hoch am Himmel. Die Stadt glänzt im milden Frühlingston, die Luft riecht nach frisch gebackenen Waffeln und Blumen vom Wochenmarkt.
Elysia schlendert durch die Straßen, ihre Einkaufstüten baumeln leicht in der Hand. Ihr Schritt ist federnd, fast beschwingt, und sie kann sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal einfach nur so gegangen ist – ohne Ziel, ohne Eile, ohne zu wissen, dass jemand zu Hause auf sie wartet, um sie zu kritisieren. Sie bleibt an einem kleinen Straßencafé stehen. Holztische, bunte Stühle, ein paar Menschen in der Sonne. Sie setzt sich, bestellt einen Cappuccino und genießt die Wärme auf ihrer Haut.
Gerade als sie den ersten Schluck nimmt, hört sie eine vertraute Stimme.
„Elysia?“
Sie blickt auf – und braucht einen Moment, um die Stimme einzuordnen.
Ben steht da, leger gekleidet, Sonnenbrille im Haar, eine Einkaufstüte in der Hand.Er sieht sie an, als hätte er einen Geist gesehen.
„Ben?“
„Ich glaub’s ja nicht.“ Er lacht überrascht. „Ich hätte dich fast nicht erkannt!“
Sie lacht leise. „Das ist wohl ein gutes Zeichen.“
„Definitiv. Du siehst … anders aus. Ich mein, ich hab dich sonst nur in...“
„Designer-Kleidern und Perlenohrringen?“ unterbricht sie ihn mit einem schiefen Lächeln.
„Genau das wollte ich diplomatisch ausdrücken.“
Elysia schmunzelt. „Na, heute bin ich einfach nur ich.“
Er mustert sie, freundlich, ehrlich. „Steht dir. Wirklich.“
Sie bedankt sich leise und deutet auf den freien Stuhl. „Setz dich. Willst du einen Kaffee?“
„Immer. Koffein ist mein zweiter Vorname.“
Er bestellt sich einen Espresso, sie plaudern über Belangloses – das Wetter, den Frühling, die Stadt. Aber zwischen den Worten liegt etwas Echtes.
„Ich muss sagen,“ sagt Ben schließlich, „ich hätte nie gedacht, dich so … normal zu treffen. Ich mein, im besten Sinn. Du wirkst … lebendig.“
Elysia lacht, sieht ihn mit einem fast jugendlichen Funkeln in den Augen an.
„Vielleicht bin ich das heute auch zum ersten Mal seit Langem.“
Die Sonne fällt ihr auf die Schultern, ihr Lachen klingt leicht, frei.
Ben beobachtet sie, wie sie das Haar aus dem Gesicht streicht, die Hand um ihre Kaffeetasse legt – entspannt, als wäre sie in einer anderen Welt.
„Was hat dich hierher verschlagen?“ fragt er schließlich.
„Das Leben,“ sagt sie leise. „Oder die Flucht davor.“
Er nickt, sagt nichts weiter. Aber innerlich spürt er, dass etwas in dieser Frau gerade neu erwacht – etwas, das man nicht mehr zurück in den Käfig stecken kann.
Sie unterhalten sich noch eine Weile, lachen, erzählen kleine Anekdoten. Die Sonne wärmt die Tische, das Licht tanzt auf ihren Gesichtern.
Für Elysia fühlt sich dieser Tag an wie ein Neuanfang. Sie weiß nicht, dass die Fäden ihres neuen Lebens sich längst leise verweben.
Die Sonne steht warm über der kleinen Caféterrasse, die Tassen klirren, eine leichte Brise trägt den Duft von Vanille und Kaffee durch die Luft. Elysia lehnt sich zurück, lacht über einen von Bens trockenen Kommentaren, und für einen Moment fühlt sich alles leicht an. Einfach. Echt.
Dann hört sie hinter sich eine vertraute Stimme.
„Na das ist ja ein Zufall!“
Sie dreht sich um – Hannah steht da, in heller Bluse und Jeans, das Haar zu einem lockeren Zopf gebunden. Sie strahlt über das ganze Gesicht.
„Ihr zwei zusammen? Das ist ja mal eine schöne Überraschung!“
Ben winkt. „Feierabend?“
„Gerade eben,“ sagt sie und setzt sich zu ihnen. „Ich hab euch schon von weitem lachen hören. Dachte mir, das kann nur gut sein.“
Elysia lächelt – doch noch bevor sie etwas sagen kann, sieht Hannah sie ernst an.
„Ich wollte dich eigentlich später anrufen… aber jetzt bist du ja hier.“
Elysia runzelt die Stirn. „Was ist?“
Hannah zögert, sieht kurz zu Ben, dann wieder zu ihr.
„Dein Mann hat mich angerufen.“
Elysia erstarrt.
„Was?“
„Vorhin. Er war… nicht gerade freundlich. Wollte wissen, wo du bist. Ich hab ihm natürlich nichts gesagt.“
„Natürlich,“ murmelt Ben leise.
Elysias Finger krallen sich um die Kaffeetasse. „Er hat dich angerufen?“
„Ja. Und er klang… wütend. Sehr wütend. Er meinte irgendwas von Verantwortung, von Grenzen, von...“
„Konsequenzen,“ fällt Elysia ihr ins Wort, die Stimme scharf.
„Genau das Wort hat er benutzt.“
Die Ruhe, die sie noch vor Minuten gespürt hat, zersplittert. Ihr Herz klopft schneller. Sie sieht sich unwillkürlich um – durch die Reihen der Tische, über die Straße, hinüber zum kleinen Parkplatz.
„Elysia,“ sagt Hannah leise, „du musst jetzt nicht gleich...“
„Doch,“ sagt sie schnell. „Du kennst ihn nicht, wenn er so ist. Er wird mich suchen lassen.“
Ben lehnt sich vor. „Warte. Suchen lassen? Du meinst...“
„Sein Chauffeur. Oder jemand aus der Firma. Er kann es nicht ertragen, keine Kontrolle zu haben.“
Ihre Stimme zittert leicht, aber in ihren Augen liegt mehr Wut als Angst.
Sie sieht zu Hannah. „Warum hat er dich angerufen? Weil er weiß, dass du die Einzige bist, die noch zu mir steht. Er will dich einschüchtern.“
Hannahs Blick wird weich. „Lass ihn reden. Er hat keine Macht, wenn du ihm keine gibst.“
„Das sagst du so leicht,“ flüstert Elysia, die Hände noch immer fest um die Tasse geschlossen.
„Weil du’s hören musst,“ antwortet Hannah sanft.
Elysia atmet tief durch, versucht, die Fassung wiederzufinden. Aber der Zauber des Nachmittags ist gebrochen. Das Lachen, die Sonne, die Leichtigkeit – alles verschwimmt in einem dumpfen Druck in ihrer Brust. Sie blickt wieder zur Straße, wo gerade ein schwarzer Wagen langsam vorbeifährt.
Nur ein Auto, wahrscheinlich.
Aber ihr Herz stolpert trotzdem.
Ben bemerkt ihren Blick, folgt ihm kurz, dann sagt er ruhig:
„Wenn du willst, bleib ich bei dir, bis du sicher bist, dass er dich nicht findet.“
Sie sieht ihn an – überrascht, dankbar, unsicher.
„Danke,“ sagt sie leise. „Aber ich… ich muss nachdenken.“
Sie steht auf, greift nach ihren Tüten, und in der Bewegung klirrt die Kaffeetasse leicht gegen den Teller. Ihr Puls rast.
Hannah legt eine Hand auf ihren Arm. „Elysia, bleib ruhig.“
„Ich bin ruhig,“ sagt sie tonlos. „Aber ich weiß, was jetzt kommt. Und diesmal lauf ich nicht zurück.“
Sie wirft einen letzten Blick auf den Straßenzug, wo die Sonne warm über den Dächern liegt – doch in ihren Augen liegt kein Frühling mehr. Nur Entschlossenheit.
Elysia steht gerade auf, die Einkaufstüten in der Hand, als sie ihn sieht.
Ein Mann in dunkler Kleidung, breit gebaut, die Jacke offen, das Funkgerät sichtbar am Gürtel. Er kommt zielstrebig über die Straße, den Blick fest auf sie gerichtet. Ihr Herz setzt einen Schlag aus. Sie erkennt das Logo auf seiner Brusttasche sofort – Auberon Hotels.
Hannah merkt, wie Elysia erbleicht. „Was ist los?“
Elysia antwortet nicht. Ihre Finger klammern sich fester um die Tüten.
„Elysia Auberon?“ ruft der Mann, laut genug, dass sich mehrere Köpfe umdrehen.
„Ich soll Sie nach Hause bringen.“
Die Worte treffen sie wie ein Schlag.
„Nein,“ sagt sie sofort, leise, aber klar. „Ich geh nicht mit Ihnen.“
„Ich hab den Auftrag, Sie sicher zurückzubringen, Ma’am.“
Er kommt näher. Zu nah.
Hannah erhebt sich sofort, stellt sich neben Elysia. „Sie hören ihr wohl nicht richtig zu. Sie geht nirgendwo hin.“
„Ich hab Anweisungen,“ sagt der Mann, unbeirrt. „Ihr Mann...“
Doch weiter kommt er nicht. Denn plötzlich steht jemand zwischen ihnen.
Kian.
Er war gerade um die Ecke gebogen, mit einem Pappbecher Kaffee in der Hand, wollte nur Hallo sagen – hatte Ben erkannt, und dann sie. Diese Frau aus dem Regen. Und in der nächsten Sekunde sieht er den Sicherheitsmann, der nach ihrem Arm greift. Ohne zu zögern stellt er sich dazwischen. Seine Stimme ist ruhig, aber fest.
„Ich glaub, die Dame hat gesagt, sie will nicht.“
Der Sicherheitsmann verzieht das Gesicht. „Das geht Sie nichts an, Freundchen. Ich mach nur meinen Job.“
„Dann suchen Sie sich einen anderen. Hier hat keiner um Hilfe gebeten.“
Kian steht ruhig da, groß, sicher, die Schultern leicht angespannt. Er sieht den Mann direkt an – nicht aggressiv, aber unmissverständlich.
„Treten Sie bitte zur Seite,“ sagt der Sicherheitsmann und versucht, an ihm vorbeizukommen.
Kian weicht keinen Zentimeter. „Nein.“
Ben ist inzwischen aufgestanden, erkennt die Situation sofort. „Hey, beruhigen wir uns mal. Niemand schleppt hier irgendwen irgendwohin.“
Der Mann schaut kurz zu Ben, dann wieder zu Kian. Zwei gegen einen. Und Elysia steht dazwischen, blass, aber standhaft.
„Sagen Sie Ihrem Chef,“ sagt Kian ruhig, „dass seine Frau ihren eigenen Willen hat. Und dass er besser dran ist, wenn er das akzeptiert.“
Ein paar Passanten bleiben stehen. Die Atmosphäre ist gespannt. Der Sicherheitsmann sieht ein, dass er hier nichts ausrichten kann, greift zum Funkgerät und murmelt etwas Unverständliches hinein. Dann wendet er sich ab, geht mit schnellen Schritten davon. Einen Moment lang bleibt alles still.
Elysia steht da, noch immer atemlos, die Finger zittern leicht.
Kian dreht sich zu ihr um.
„Alles in Ordnung?“ fragt er ruhig.
Sie sieht ihn an – und erkennt ihn. Die braunen Augen, der Ausdruck, diese ruhige Wärme.
„Sie?“ flüstert sie, fast ungläubig.
Er nickt leicht. „Ich. Wir scheinen uns öfter über den Weg zu laufen.“
Ben blinzelt, überrascht. „Moment – ihr kennt euch?“
Kian sieht kurz zu ihm, dann wieder zu Elysia. „Ein bisschen Regen verbindet eben.“
Hannah, die die ganze Zeit still beobachtet hat, lächelt leise – dieses wissende, warme Lächeln, das alles sagt, ohne Worte zu brauchen.
Elysia atmet tief durch. Zum ersten Mal seit Stunden fühlt sie sich sicher.
„Danke,“ sagt sie leise zu Kian.
Er schüttelt den Kopf. „Kein Problem. Ich mag’s einfach nicht, wenn jemand nicht gefragt wird, was er will.“
Und dann, ganz langsam, hebt sich ihre Anspannung. Die Sonne scheint wieder warm, das Café füllt sich mit Stimmen, als wäre nichts geschehen. Aber für Elysia hat sich etwas verändert. Endgültig.