Falkensee - Kapitel 15
Valerian sitzt in seinem Arbeitszimmer, das Glas mit Whisky vor sich, halb geleert, die Rollläden halb geschlossen. Der Laptop steht offen, auf dem Bildschirm leuchten Zahlenkolonnen, aber seine Augen sind trüb vom ständigen Starren.
Es ist einer dieser Nachmittage, die sich endlos dehnen, ohne Anfang und ohne Ziel. Das leise Vibrieren seines Handys auf dem Schreibtisch reißt ihn aus seiner Lethargie. Er greift danach, träge, fast widerwillig. Eine unbekannte Nummer – und doch erkennt er sie sofort.
Er liest die Nachricht einmal, dann noch einmal.
Elysia:
Ich komme am Samstag, um meine Sachen zu holen. Bitte sei nicht da. Ich möchte das schnell erledigen. E.
Seine Finger verharren über dem Display. Ein kurzer Moment – wie ein Schlag in die Magengrube. Sie schreibt ihm. Nach all den Wochen. Nach all der Stille.
Doch nicht so, wie er es sich irgendwann insgeheim gewünscht hatte.
Keine Frage nach seinem Befinden.
Kein „Wie geht es dir?“
Nur eine sachliche Nachricht.
Ein Satz, der endgültiger klingt als jedes Scheidungsdokument. Er lehnt sich im Stuhl zurück, das Handy noch immer in der Hand. Ein Teil von ihm will sofort antworten, will sie sehen, reden, erklären, irgendetwas.
Doch dann liest er ihre Worte noch einmal: „Bitte sei nicht da.“
Sie will ihn nicht sehen.
Sie will nur holen, was ihr gehört, und dann endgültig verschwinden.
Ein bitteres Lächeln huscht über sein Gesicht.
„Bitte sei nicht da…“ murmelt er leise. „Ich war nie wirklich da, oder?“
Er legt das Handy beiseite, greift wieder nach dem Glas. Doch diesmal hält er es nur in seiner Hand. Er starrt auf die bernsteinfarbene Flüssigkeit, als würde sie ihm etwas verraten, das er überhört hat.
Frau Schubert klopft leise an der Tür. „Herr Auberon? Möchten Sie etwas essen?“
„Nein,“ sagt er nach einer Weile. „Ich… ich habe keine Zeit.“
„Haben Sie wieder gearbeitet?“ fragt sie mit ihrer sanften, mütterlichen Stimme.
Er antwortet nicht sofort.
Dann sagt er leise: „Nein. Nicht wirklich.“
Sie bleibt noch einen Moment stehen, dann nickt sie, sagt nichts mehr und geht wieder.
Als sie fort ist, nimmt Valerian das Handy noch einmal in die Hand. Er tippt einige Worte – löscht sie wieder. Tippt erneut – löscht sie wieder. Schließlich legt er das Gerät auf den Schreibtisch, schließt die Augen und flüstert:
„Wenn du gehst, dann bitte… tu’s wenigstens ohne Angst.“
Zum ersten Mal seit Langem trinkt er das Glas nicht aus. Er steht auf, öffnet das Fenster, und der kühle Abendwind trägt den Duft des Spätsommers herein –
so klar, dass er ihn fast schmerzt. Er weiß, dass sie kommt. Und dass er diesmal wirklich gehen lassen muss.
Der Mittwochvormittag ist ruhig. Durch die großen Fenster des Büros fällt spätsommerliches Licht, das sich auf den Schreibtischen und Monitoren spiegelt. Ein leises Summen von Geräten liegt in der Luft, vermischt mit dem rhythmischen Klackern von Tastaturen.
Kian sitzt konzentriert vor seinem Bildschirm, die Ärmel hochgekrempelt, den Blick fest auf den Code gerichtet. Neben ihm sitzt Ben, der heute ungewöhnlich still ist. Normalerweise reden sie viel – über Arbeit, über Sport, über das Leben. Aber heute nicht.
Ben hat seit dem Morgen ein unruhiges Gefühl in der Brust. Seit Hannah ihm gestern Abend erzählt hat, dass Elysia am Wochenende nach Falkensee kommt, spukt es ihm im Kopf herum. Er weiß, dass Hannah ihn gebeten hat, nichts zu sagen – aber jedes Mal, wenn er zu Kian sieht, spürt er diesen Konflikt in sich stärker werden. Diese stille Leere in Kians Blick, wenn er für einen Moment abschweift.
Das ist keine Gleichgültigkeit. Das ist Vermissen. Etwas, das nie ausgesprochen wurde, aber immer dagewesen ist. Ben seufzt, lehnt sich im Stuhl zurück und reibt sich über das Gesicht.
Kian bemerkt es und sieht kurz zu ihm hinüber.
„Alles okay bei dir?“
„Hm? Ja… Ja, schon.“
„Du wirkst, als würdest du gleich was beichten.“
Ben lacht leise. „Vielleicht sollte ich das sogar.“
Kian hebt die Augenbraue. „Das klingt nach Ärger.“
„Eher nach Gewissen.“
Ein paar Sekunden vergehen, nur das Summen der Klimaanlage ist zu hören.
Dann atmet Ben tief durch.
„Elysia kommt am Freitag nach Falkensee.“
Kian blinzelt.
„Was?“
„Ja. Sie kommt, um ihre Sachen aus dem Haus zu holen. Hannah hat’s mir gestern erzählt.“
Kian lehnt sich langsam zurück, der Blick auf den Bildschirm verschwimmt.
Er sagt nichts. Nicht sofort.
„Ich weiß, du redest nicht mehr viel über sie,“ fährt Ben fort, leiser. „Aber jedes Mal, wenn ihr Name fällt, seh ich’s dir an. Da ist noch was. Du kannst’s nicht abstreiten.“
Kian starrt eine Weile auf die Tischplatte, dann fährt er sich mit einer Hand über den Nacken.
„Ich… weiß gar nicht, was ich sagen soll.“
Seine Stimme ist ruhig, aber brüchig.
Ben nickt verständnisvoll. „Ich wollt’s dir einfach sagen. Nicht, damit du was tust. Nur… damit du’s weißt.“
Kian lehnt sich nach vorne, verschränkt die Hände, sieht auf seine Finger.
„Ich hab oft gedacht, dass ich sie nie wiedersehen werde,“ murmelt er. „Und irgendwie… hab ich mich damit abgefunden.“
„Aber?“ fragt Ben vorsichtig.
Kian lächelt schwach, fast traurig. „Aber manchmal frag ich mich, ob’s das wirklich war. Ob das alles ist, was von uns bleiben soll – eine Nacht Regen, ein paar Gespräche, und ein Abschied ohne Worte.“
Ben nickt langsam. „Vielleicht ist Freitag deine Antwort. Ob du sie sehen willst oder nicht.“
Kian blickt zum Fenster, wo die Sonne hell auf die Glasfront fällt. Ein Gedanke huscht durch seinen Kopf – schnell, widersprüchlich, schwer einzuordnen. Er weiß nicht, ob er hingehen sollte. Aber er weiß, dass er an diesem Wochenende nicht einfach so zur Tagesordnung übergehen kann.
„Danke, Ben,“ sagt er schließlich leise.
Ben klopft ihm auf die Schulter. „Ich sag Hannah nicht, dass du’s weißt. Aber wenn du sie sehen willst – tu’s. Vielleicht brauchst du das genauso wie sie.“
Kian nickt, sagt aber nichts mehr. Doch in seinem Inneren arbeitet es. Der Gedanke, dass sie zurück nach Falkensee kommt, dass sie wirklich wieder in dieser Stadt sein wird – lässt ihn nicht mehr los.
Und während Ben weiterarbeitet, sitzt Kian still da,
mit einem Blick, der irgendwo weit über den Bildschirm hinausgeht –
dorthin, wo all das begann.
Der Arbeitstag zieht sich wie Kaugummi. Kian sitzt noch an seinem Schreibtisch, doch seine Gedanken sind längst woanders. Immer wieder wandert sein Blick zu dem kleinen Fenster auf der rechten Seite, durch das er die Sonne langsam sinken sieht.
Ein goldener, ruhiger Abend kündigt sich an – einer von denen, die man normalerweise genießt. Doch in ihm ist keine Ruhe. Nur ein leises, unbestimmtes Ziehen. Als der letzte Kollege das Büro verlässt, klappt er seinen Laptop zu, schiebt den Stuhl zurück und steht auf. Er braucht Luft.
Draußen empfängt ihn die milde Spätsommerluft, ein weicher Wind trägt den Duft von Seegras und feuchter Erde mit sich. Er läuft ohne Ziel, die Hände in den Hosentaschen, den Blick nach vorne gerichtet. Automatisch führen ihn seine Schritte ans Wasser.
Der See liegt still vor ihm, glitzernd im goldenen Abendlicht.
Ein paar Kinder lachen in der Ferne, das Quaken der Frösche mischt sich mit dem Rascheln der Blätter. Kian setzt sich auf die Bank am Steg, dieselbe, auf der er schon so viele Abende verbracht hat.
Er nimmt einen Kieselstein vom Boden, wirft ihn ins Wasser. Die Wellen breiten sich in feinen Kreisen aus – leise, gleichmäßig, verschwimmend.
Sein Blick bleibt auf dem See, doch seine Gedanken treiben zurück.
Zu Elysia.
Zu der Nacht, in der sie durchnässt und zitternd an der Straße stand. Zu dem Moment, als er sie das erste Mal wirklich ansah – nicht als Fremde, sondern als jemanden, den er verstehen wollte, ohne zu wissen, warum. Er hatte sich geschworen, es ruhen zu lassen. Sie war weg, ihr Leben hatte sich weitergedreht, und er hatte seines wiedergefunden.
Aber jetzt…
Jetzt, da er weiß, dass sie zurückkommt, ist alles wieder da. Die Erinnerung. Das Gefühl. Diese unvollendete Stille zwischen ihnen. Er fährt sich über die Stirn, seufzt leise.
„Was würde es ändern?“ murmelt er. „Was bringt es, wenn wir uns wiedersehen?“
Die Antwort bleibt aus. Nur der Wind antwortet, indem er sanft durch die Bäume fährt. Er weiß, dass sie am Freitag kommt. Er weiß, wo. Und doch weiß er nicht, ob er den Mut hat, hinzugehen.
„Manchmal,“ sagt er leise zu sich selbst, „braucht man ein Ende, um wieder anzufangen.“
Ein paar Minuten lang bleibt er einfach sitzen, sieht auf das Wasser, das den Himmel spiegelt. Dann steht er auf, zieht die Jacke enger und geht langsam den Pfad zurück. Sein Herz pocht ruhig, aber fester als sonst.
Und irgendwo in ihm wächst der Gedanke, dass er sie vielleicht doch sehen muss – nicht, um etwas zu ändern, sondern um herauszufinden, ob da wirklich etwas zwischen ihnen ist. Etwas, das sich nie verabschiedet hat.
Der Freitagmorgen beginnt still. Elysia steht in ihrem Schlafzimmer, das offene Fenster lässt den Duft von Spätsommer herein. Auf dem Bett liegt eine Reisetasche, halb gefüllt. Sie sortiert Kleidungsstücke hinein: Jeans, ein Pullover, ihre Lieblingsbluse. Nichts Besonderes, nichts, das auffallen würde – schlicht, praktisch. Sie will nicht aufsehen erregen.
Ihre Hände zittern leicht, als sie den Reißverschluss ihrer Kulturtasche schließt.
Es ist nicht die Fahrt selbst, die sie nervös macht. Es ist der Ort. Das Haus.
Die Erinnerungen, die dort auf sie warten – unausweichlich, unausgesprochen.
Sie bleibt einen Moment stehen, blickt aus dem Fenster. Die Sonne steht über den Dächern von Brunnental, die Luft flirrt leicht. Es ist ein schöner Tag. Zu schön für das, was vor ihr liegt.
Ihre Gedanken wandern zu Valerian. Wie er wohl reagieren wird, wenn er sie wieder sieht – falls er überhaupt da ist. Er war wütend, verletzt, stolz. Aber tief in ihr weiß sie, dass er auch einsam ist. Und dass er, auf seine komplizierte Art, sie geliebt hat.
Elysia presst die Lippen zusammen.
Geliebt – oder besessen?
Manchmal wusste sie den Unterschied selbst nicht mehr. Sie hat sich so oft gefragt, wann es kippte. Wann aus Zuneigung Kontrolle wurde. Wann aus Nähe Enge wurde. Wann aus ihr ein Teil seines Lebens wurde, der funktionieren sollte – aber nicht atmen durfte.
Sie zieht den Reißverschluss der Tasche zu, das Geräusch klingt laut im stillen Raum. Dann setzt sie sich auf die Bettkante, fährt sich durch die Haare und atmet tief aus.
„Es ist nur ein Wochenende,“ sagt sie halblaut. „Nur, um abzuschließen.“
Aber die Worte fühlen sich hohl an. Denn in Wahrheit weiß sie nicht, was sie erwartet.
Ob Valerian sie ansprechen wird.
Ob er schweigen wird.
Ob sie überhaupt stark genug ist, diesem Haus noch einmal gegenüberzustehen – diesem Ort, der so viel Glanz und Schmerz zugleich in sich trägt.
Sie sieht auf ihre Hände, die im Schoß liegen, und zwingt sich zu einem schwachen Lächeln. Sie ist nicht mehr dieselbe Frau, die damals weggelaufen ist. Sie hat gearbeitet, gelebt, sich selbst wiedergefunden.
Und vielleicht – vielleicht – kann sie das Kapitel nun wirklich beenden.
Ein leises Vibrieren reißt sie aus den Gedanken.
Eine Nachricht von Hannah:
Freu mich auf dich! Ben grillt heute Abend, und das Gästezimmer ist vorbereitet. Fahrt vorsichtig.
Elysia lächelt. Diese kleinen Dinge geben ihr Halt. Sie greift nach der Tasche, zieht sie vom Bett, schlüpft in ihre Schuhe und wirft noch einen Blick in den Spiegel. Kein Luxus, kein Schmuck, kein aufwendiges Make-up. Nur sie selbst – ruhig, erwachsen, entschlossen.
„Na dann,“ flüstert sie, „auf in die Vergangenheit.“
Dann schließt sie die Tür hinter sich, und der Klang des Schlosses fühlt sich an wie das Echo einer alten Geschichte, die endlich ein Ende finden will.