Falkensee - Kapitel 32
Der Himmel ist grau, schwer und nass. Der Schnee der vergangenen Woche ist verschwunden, verwandelt in schmutzigen Matsch, der die Straßen glitschig und unfreundlich wirken lässt. TechSphere Solutions liegt wie immer im Halbdunkel des späten Tages, als die Mitarbeiter nach und nach aus dem Gebäude kommen.
Kian tritt als einer der Letzten hinaus. Seine Jacke ist offen, die Aktenmappe locker unterm Arm, ein zufriedenes, entspanntes Lächeln liegt auf seinem Gesicht. Neben ihm geht Ben – mit einer Kaffeetasse in der Hand.
„Ich schwöre dir, Hannah ist gerade das wandelnde Emotionspaket“, sagt Ben und schüttelt lachend den Kopf. „Gestern hat sie gleichzeitig geweint und gelacht, weil ich ihr eine Brezel mitgebracht habe.“
Kian prustet los. „Eine Brezel?“
„Eine Brezel!“, bestätigt Ben dramatisch. „Ich hab ihr die falsche Sorte mitgebracht. Salzbrezel statt Mohnbrezel. Ich sag dir, sie hat mich angeschaut, als hätte ich ihr den Hund geklaut.“
„Wie geht’s ihr sonst?“, fragt Kian warm.
„Gut. Also körperlich. Nur… alles andere schwankt wie ’ne Achterbahn“, sagt Ben mit einem leisen Lachen. „Und ich weiß nicht, ob ich lachen oder mitweinen soll.“
„Beides“, sagt Kian grinsend. „Das ist der Trick.“
„Ja super“, lacht Ben. „Du sagst das so locker. Du bist ja auch nicht der, der morgen wieder mit einer Torte um drei Uhr morgens diagnostiziert, dass seine Frau NICHT das richtige Kissen zum Schlafen hat.“
Kian schüttelt sich vor Lachen. „Okay, ganz ehrlich?“ Er deutet mit dem Kopf Richtung Parkplatz. „Ich bewundere euch. Wirklich.“
Ben verzieht den Mund. „Wenn du Elysia erstmal hierhergeholt hast und die Kinderfrage irgendwann kommt, dann reden wir weiter.“
Kian schiebt die Hände in die Jackentaschen und lächelt. „Ich würde es nicht ausschließen.“
Ben bleibt kurz stehen, blinzelt ihn überrascht an. „Alter… du meinst das ernst.“
Kian nickt. „Mhm. Ich meine das ernst. Sehr.“
Ben klopft ihm auf die Schulter. „Das freut mich sowas von für dich, das kannst du dir nicht vorstellen.“
Sie gehen weiter über den matschigen Parkplatz, der ehemals weiß vom Schnee war, jetzt nur noch graubraune Pfützen überall.
„Also, du fährst heute wieder nach Brunnental?“, fragt Ben.
„Ja. Wochenende bei ihr“, sagt Kian zufrieden. „Und ich freu mich drauf.“
„Kann ich mir vorstellen. Deine Augen glitzern ja richtig.“ Ben grinst breit.
Kian lacht, schiebt ihn halbwegs weg. „Halt die Klappe.“
„Nein! Ich will das genießen! Du bist verliebt wie ein Teenager an Valentinstag!“ Kian rollt mit den Augen, aber das breite Grinsen bleibt auf seinem Gesicht haften.
Was Kian nicht weiß:
Ein schwarzer SUV steht zwei Straßen weiter. Motor aus. Scheiben dunkel. Unauffällig. Kessler ist drin. Nicht nah genug, um Verdacht zu erwecken – aber nah genug, um zu sehen, dass Kian Sterling heute Abend wieder nach Brunnental fährt.
Kessler schreibt keine Nachricht. Noch nicht.
Er beobachtet. Er wartet. Er notiert.
Die Ruhe vor dem Sturm. Der letzte freie Atemzug.
Kians Wohnung ist hell, aufgeräumt und von der warmen Abendsonne, die sich noch durch die Wolken gekämpft hat, durchflutet, die in sanften Streifen durch die Vorhänge fällt.
Sein Handy steht auf einem kleinen Ständer auf der Kommode, die Kamera ist aktiviert. Auf dem Display erscheint Elysia – lächelnd, leicht verschmitzt, bequem auf ihrem Sofa sitzend. Ihre Haare fallen über die Schulter, sie trägt ein gemütliches Oversize-Shirt, und ihre Augen funkeln.
„Also?“, fragt sie grinsend. „Was nimmst du mit? Du hast doch bestimmt wieder die Hälfte vergessen.“
Kian lacht leise, während er die Schranktür aufzieht. „Gar nichts habe ich vergessen. Ich packe hochprofessionell und absolut vollständig.“
„Mhm“, macht Elysia und zieht eine Augenbraue hoch. „So wie letztes Mal, als du ohne Unterhosen angekommen bist?“
„Das war ein einmaliger Ausrutscher.“ Er zeigt demonstrativ seine Unterhosen in die Kamera. „Siehst du? Heute bin ich top vorbereitet.“
„Aha. Dann zeig mal deine Badehose.“
Kian friert in der Bewegung ein. „Meine was?“
Elysia lehnt sich näher an die Kamera. „Die Badehose, Kian. Für das neue Badeparadies. Ich freue mich schon die ganze Woche darauf! Sag nicht, du hast es vergessen.“
„Ich… ähm…“ Kian blickt suchend durch sein Zimmer. „Ich weiß, wo sie ist.“
„Mhm“, kommt es wieder skeptisch von Elysia. „Wo denn? In Falkensee oder in Brunnental?“
Kian rollt mit den Augen. „Vertrau mir. Ich finde sie.“
„Jetzt!“, fordert Elysia und zeigt streng mit dem Finger in die Kamera. „Los, such!“
Kian seufzt gespielt schwer und beginnt, in seiner Kommode zu wühlen. Er zieht ein T-Shirt heraus, ein Sportshirt und ein altes Netzshirt aus einem Fehlkauf.
Elysia prustet los. „Das sieht nicht nach einer Badehose aus.“
„Das ist die Tarnkappe“, sagt Kian trocken. „Ein Netzshirt und wie gemacht für das Schwimmbad. Ultra modern.“
„Kian!“, ruft sie lachend und hält sich die Hand vor den Mund. „Du bist unmöglich.“
„Aha.“ Er bleibt stehen, schaut direkt in die Kamera. „Aber du magst mich so.“
Elysia schmunzelt ein wenig – dann lächelt sie. „Vielleicht“, neckt sie. „Ein kleines bisschen.“
„Nur ein kleines bisschen?“ Kian kommt näher ans Handy, sein Blick ist spielerisch herausfordernd. „Nicht mehr?“
Sie beugt sich ebenfalls vor. „Vielleicht auch ein bisschen mehr.“
Kian schmunzelt. „Aha. Da haben wir’s.“
Sie schüttelt lachend den Kopf. „Jetzt such weiter, Mister Vergesslich.“
Kian wühlt weiter, während sie ihn beobachtet. Die Art, wie sie ihn mustert, wie sie lächelt, wie sie ihn korrigiert oder aufzieht – es macht ihn warm ums Herz.
„Ha!“ Er zieht plötzlich triumphierend die schwarze Badehose hoch. „Hier! In all ihrer Pracht.“
Elysia klatscht. „Gut. Dann kannst du ja doch offiziell einziehen.“
„Einziehen?“, fragt er grinsend. „Ist das etwa ein Angebot?“
Sie spielt überrascht. „Wer weiß…“
„Ich bin gleich da“, sagt er sanft, „und wir reden weiter darüber.“
Elysias Blick wird weicher. „Ich freu mich auf dich.“
„Ich mich auch.“
Sie plaudern noch, albern herum. Elysia gibt Kommentare zu jedem Kleidungsstück ab, das er einpackt. Es ist leicht. Warm. Zärtlich. So alltäglich – und doch voller Bedeutung.
Der Abend senkt sich über das große Haus der Auberons. Schwere, graue Wolken und eine beissende Kälte liegen über der Landschaft. Im Haus herrscht eine Stille, die viel zu laut ist für Valerians rastlose Gedanken.
Er steht am Fenster seines Arbeitszimmers, eine Hand gegen das kalte Glas gepresst. Er sieht nicht wirklich hinaus – seine Gedanken kreisen an einem anderen Ort. Bei Elysia. Und bei dem Mann an ihrer Seite.
Seine Kiefermuskeln sind so angespannt, dass es schmerzt. Die letzten zwei Tage waren eine Qual. Keine neuen Informationen, nur die nagende Gewissheit, dass Kian Sterling erneut zu ihr fahren wird. Heute. Wieder heute.
Er hat lange gewartet. Zu lange.
Er greift nach seinem Handy und wählt Kesslers Nummer. Es klingelt kaum zweimal.
„Auberon?“ Kesslers Stimme ist ruhig wie immer.
Doch was jetzt kommt, lässt selbst den abgebrühten Kessler kurz stocken. Valerians Stimme ist anders. Tiefe Wut, gespannte Entschlossenheit. Kein Funken Geduld mehr.
„Warum dauert das so lange?“, zischt Valerian. „Warum habe ich immer noch keine klare Information, keinen Zugriff, keine… Kontrolle?“
Kessler antwortet professionell: „Ich bin dran. Ich beobachte ihn. Ich...“
„Beobachten reicht nicht!“ Valerians Stimme schnellt scharf in die Höhe, bricht jedoch nicht – sie schneidet wie eine Klinge. „Ich will Ergebnisse. Jetzt. Nicht nächste Woche. Nicht morgen. Heute Abend.“
Kessler schweigt einen Moment. Er weiß, dass dieser Ton gefährlich ist.
Valerian fährt fort – leiser, aber ungleich kälter: „Er fährt zu ihr. Schon wieder. Und ich werde nicht zulassen, dass dieser Mann…“ Er ringt einen Moment mit der Fassung. Dann: „...dass er sie weiter gegen mich aufbringt.“
Kessler schaltet umgehend in den Modus eines Mannes, der weiß, wohin dieses Gespräch führt. „Was genau erwarten Sie von mir?“
Valerian wendet sich vom Fenster ab, seine Schritte sind hart, kontrolliert. Er bleibt mitten im Zimmer stehen.
„Ich erwarte“, sagt er langsam, jedes Wort schwer wie Blei, „dass dieser Mann kein einziges Mal mehr nach Brunnental fährt.“
Kessler fragt sachlich: „Sie wollen ihn blockieren? Aufhalten? Einschüchtern?“
„Mir. Ist. Egal. Wie.“ Valerians Stimme sinkt zu einem gefährlichen Flüstern.
„Hauptsache, er kommt nicht dort an. Er soll lernen, Abstand zu halten.“
Ein kalter Schauer läuft selbst Kessler über den Rücken – und er ist nicht leicht zu erschüttern.
„Hören Sie“, beginnt Kessler vorsichtig, „wenn ich...“
„Ich will nicht hören, wie schwierig etwas ist.“ Valerians Geduld ist komplett weg. Er klingt wie jemand, der sich an einem dünnen, reißenden Faden festhält. „Sie sollen es tun.“
Eine kurze Stille folgt. Dann: „Jedes Mittel ist recht“, sagt Valerian eisig. „Verstehen Sie mich? Jedes.“
Kessler atmet hörbar aus. Das ist ein Auftrag, vor dem selbst er einen Moment zögert.
„Wie Sie wünschen, Herr Auberon“, sagt er schließlich. Seine Stimme bleibt neutral – aber etwas in seinem Inneren spürt: Hier endet die Grenze zwischen Auftrag und Verbrechen.
„Gut“, sagt Valerian. „Und rufen Sie mich an, sobald es erledigt ist.“
Er beendet das Gespräch ohne Abschiedsfloskel. Das Handy fällt schwer auf den Tisch. Valerian atmet tief aus – ein harter, schmerzhafter Laut. Dann presst er die Hände gegen die Augen.
„Sie gehört zu mir“, murmelt er. „Und niemand... nimmt mir weg, was mein ist.“
Die Tür der Konditorei fällt hinter ihnen ins Schloss, und sofort schlägt ihnen die feuchte Abendluft entgegen. Der Himmel ist schwarz, schwer, wolkenverhangen. Laternen spiegeln sich im matschigen Boden, als hätten sie Mühe, überhaupt noch Licht zu erzeugen.
Phelia zieht die Mütze tiefer ins Gesicht und schnaubt. „Also ehrlich… kann’s nicht wieder richtig schneien? Dieser matschige Zwischenzustand macht mich wahnsinnig.“
Elysia lacht leise, zieht ihren Schal zurecht. „Ich weiß genau, was du meinst. Es ist irgendwie… trüb.“
„Trüb ist kein Wort dafür“, stellt Phelia fest und deutet dramatisch auf den graubraunen Matsch. „Das ist seelischer Verfall in Bodenform.“
Elysia prustet los. „Du bist unmöglich.“
„Ich bin ehrlich“, kontert Phelia und hakt sich bei ihr ein. „Aber du hast heute trotzdem gestrahlt wie eine Kerze auf ’nem Adventskranz. Also egal, wie grau der Boden ist – du bist’s nicht.“
Elysia errötet ein wenig, lächelt aber warm. „Ich... freue mich einfach“, gesteht sie. „Kian müsste in ungefähr zwei Stunden da sein.“
Phelia nickt wissend. „Ah, ja. Mister-Herzklopfen-und-größtes-Lächeln-auf-deinem-Gesicht.“
„Phelia!“, protestiert Elysia – halb lachend.
„Ist doch wahr!“ Phelia stupst sie an. „Seit Wochen läufst du herum wie eine frisch verliebte Hauptfigur in einer romantischen Serienfolge.“
„Bin ich vielleicht auch...“, murmelt Elysia, etwas kleiner werdend.
Phelia bleibt abrupt stehen, zieht sie sanft am Arm herum und sieht sie warm an. „Hey. Das ist gut so. Du hast es verdient.“
Elysia atmet tief ein, sieht kurz in den matschigen Schnee. Dann wandern ihre Gedanken zu Kian. Wie er sie ansieht. Wie er sie hält. Wie sie morgens neben ihm aufwacht. Wie leicht alles mit ihm ist. Wie richtig. Und wie ernst die Gespräche inzwischen geworden sind.
Leise sagt sie: „Ich glaube... ich möchte wirklich mit ihm zusammenziehen. Bald. Ich fühle mich bei ihm einfach... zu Hause.“
Phelias Augen weiten sich. „Oho! Das ist groß.“
„Ich weiß.“ Elysia lächelt zart. „Aber ich fühle mich so sicher bei ihm. Und unser Wochenende... es wird schön. Ich weiß es einfach.“
Phelia schmiegt sich wieder an Elysias Seite, und sie setzen ihren Weg fort. „Du wirst mir fehlen, wenn du irgendwann nach Falkensee gehst“, gibt Phelia zu. „Aber ich gönne dir das von ganzem Herzen.“
Elysias Blick wird weich. „Ich gehe ja nicht sofort. Und außerdem – ich würde dich jeden Tag anrufen.“
„Besser ist es“, sagt Phelia gespielt drohend. „Sonst komm ich persönlich vorbei und entführe dich.“
Sie lachen beide, während sie weiter durch das nasskalte Dunkel gehen. Das Licht der Laternen zeichnet goldene Kreise um sie herum. Der Abend ist grau, aber die Stimmung zwischen den beiden ist warm.
Und Elysia spürt, wie ihr Herz sich leichter anfühlt. Wie Vorfreude wie ein zarter Funke in ihr wächst. In zwei Stunden ist er da. Und dann... kann ihr Wochenende endlich beginnen.
Als sie die kleine Kreuzung im Wohnviertel erreichen, bleiben Phelia und Elysia stehen. Hier trennen sich ihre Wege, wie sie es jeden Abend tun, doch heute liegt eine besondere Wärme im Abschied.
„Meld dich mal, sagt Phelia und zieht ihren Schal höher in die feuchte Kälte.
„Mach ich“, lächelt Elysia. „Und danke für heute.“
„Immer, Süße. Und grüß Kian von mir.“
Sie umarmen sich kurz, warm und freundschaftlich eine Geste tiefer Verbundenheit, und dann trennen sich ihre Wege. Phelia verschwindet nach links, Elysia nach rechts, und die Straßenlaternen werfen lange, tanzende Schatten auf den nassen Asphalt, während jede von ihnen ihrem eigenen Weg folgt.
Elysia erreicht ihren Wohnblock. Die Stufen sind nass, überall liegt grauer Matsch. Sie atmet einmal tief die kalte, feuchte Luft ein, bevor sie den Schutz des Hauses sucht.
Der vertraute Briefkasten neben dem Eingang wirkt wie immer unscheinbar. Sie öffnet ihn, greift hinein. Rechnungen. Werbung. Und ein großer, weißer Umschlag.
Der Absender sticht ihr sofort ins Auge: Kanzlei Dr. Krüger & Partner. Ihr Herz macht einen Sprung. Keinen guten.
„Oh nein…“, flüstert sie, während sie den Umschlag festhält. Mit zitternden Fingern reißt sie ihn noch im Treppenhaus auf. Sie lehnt sich gegen die kühle Wand, braucht Halt, während das Papier laut in der Stille raschelt.
Ihr Blick fällt auf die Zeilen. Sie liest. Und liest. Und liest noch einmal. Dann ein drittes Mal, weil sie nicht glauben kann, was dort steht.
Sehr geehrte Frau Auberon,
hiermit teilen wir Ihnen mit, dass unser Mandant, Herr Valerian Auberon, seine Zustimmung zum laufenden Scheidungsverfahren zurückzieht. Eine einvernehmliche Scheidung ist somit vorläufig nicht möglich.
Mit freundlichen Grüßen
Kanzlei Dr. Krüger & Partner.
Elysia starrt auf das Blatt, als würde sich der Text gleich verändern, wenn sie nur lange genug hinsieht. Aber er verändert sich nicht.
Ihr Kopf rauscht. Ihre Füße fühlen sich plötzlich schwer an. Die Welt um sie herum verschwimmt in einem chaotischen Durcheinander aus Herzschlag, Angst und Entsetzen.
„Nein… nein… das kann er nicht machen…“, flüstert sie.
Aber sie weiß: Er kann. Und er hat es getan.
Das Papier zittert in ihren Händen. Sie presst die Lippen zusammen, versucht ruhig zu atmen. Doch da ist diese alte, bittere, kalte Angst, die sie seit Wochen nicht mehr gespürt hat. Sie kriecht langsam wieder hoch.
Valerian.
Er lässt nicht los. Und Elysia weiß in diesem Moment: Etwas Schlimmes kommt auf sie zu. Etwas, das sie längst hinter sich gelassen glaubte.
Elysia lehnt an der kalten Wand. Der Brief hängt schwer in ihrer Hand, das Papier knittert laut unter ihrem zitternden Griff. Sie spürt ihr eigenes Herz pochen – hart, unregelmäßig, unerträglich laut in der Stille des Flurs. Der Flur ist still. Viel zu still.
Warum jetzt? Warum wieder? Warum kann er mich nicht einfach gehen lassen?
Ein brennender Schmerz steigt ihr in die Brust, eine kalte Welle der Verzweiflung, die sie fast überwältigt. Erst nach einer ganzen Minute schafft sie es, die ersten tiefen Atemzüge zu nehmen, ihren Körper wieder unter Kontrolle zu bringen.
Sie zwingt sich aufzurichten, steckt den Brief mit mechanischer Präzision zurück in den Umschlag und geht langsam die Treppe nach oben. Schritt für Schritt. Jeder Schritt ist schwerer als der davor, als würde sie nicht nur ihr eigenes Gewicht, sondern auch die Last ihrer Vergangenheit mit sich tragen.
In der Wohnung schließt Elysia die Tür hinter sich, als wollte sie damit die ganze Welt aussperren. Es gelingt nicht.
Sie hängt ihren Mantel an die Garderobe, zieht die Stiefel aus, die Bewegungen sind mechanisch, ohne jegliches Gefühl. Ihre Finger sind kalt. Eiskalt.
Sie geht ins Wohnzimmer, lässt sich aufs Sofa sinken.
Dann nimmt sie ihr Handy. Ihr erster Instinkt wäre eigentlich: Kian anrufen. Aber sie will ihn nicht beunruhigen, während er fährt, sie weiß, dass er unterwegs ist und sich auf sie freut.
Sie schluckt. Schließt kurz die Augen. Ich brauche jemanden… jetzt sofort…
Dann tippt sie eine Nummer ein. Hannah – die beste Freundin. Hannah geht sofort ran.
„Elysia?“ Ihre Stimme ist warm, vertraut, sofort besorgt. „Alles okay? Du klingst...“
Elysias Stimme bricht. „Hannah… er… er lässt sich nicht scheiden…“ Die Worte kommen in Stücken, brüchig, gefiltert durch aufgestaute Tränen.
„Was?“, Hannahs Ton kippt sofort in Schock. „Was redest du? Wer... Valerian?“
Elysia presst die Hand gegen den Mund, um das Schluchzen zu dämpfen. „Ja… ich habe gerade den Brief bekommen… von seinem Anwalt… er zieht seine Zustimmung zurück… er… er macht alles rückgängig…“
„Oh Gott…“, haucht Hannah. „Oh, Elysia…“
Elysia hält das Handy mit beiden Händen, als wäre es das Einzige, das sie noch stabil hält.
„Ich dachte… ich dachte, es wäre vorbei… Ich dachte, ich bin frei…“
„Schatz…“, sagt Hannah leise, mit dieser Mischung aus Fürsorge und stillem Zorn. „Das bist du auch. Er kann dich nicht festhalten. Nicht wirklich.“
„Aber er tut es…“, flüstert Elysia. „Er tut es schon wieder…“
Tränen laufen ihr die Wangen hinunter, still, warm, unaufhaltsam.
Hannah spricht weiter, beruhigend, aber entschlossener: „Er will dir Angst machen. Das ist alles. Aber wir lassen das nicht zu. Du bist nicht mehr allein, hörst du mich? Du hast mich. Du hast Ben. Und du hast Kian.“
Elysia atmet zittrig ein. „Ich hab solche Angst…“
„Ich weiß“, sagt Hannah ehrlich. „Aber du musst keine Angst alleine durchstehen.“
Elysia lehnt sich zurück, hält das Handy fest ans Ohr und lauscht Hannahs ruhiger, präsenter Atmung. Der Brief liegt unspektakulär neben ihr auf dem Sofa. Weißes Papier. Schwarze Worte. Doch es sind Worte, die ihr Leben mit nur einem Satz wieder ins Wanken bringen.
Sie wischt die Tränen weg, aber neue kommen sofort nach. Ihre Stimme wird leiser, gebrochener.
„Was soll ich Kian sagen…? Was, wenn er denkt, ich bringe nur Chaos in sein Leben?“
Hannah antwortet ohne Zögern, ihre Stimme ist fest wie ein Fels: „Er wird dich in den Arm nehmen. Er wird für dich da sein. Glaub mir. Wenn einer dich versteht, dann er.“
Elysia schließt die Augen. Sie hofft so sehr, dass Hannah recht hat.
Kian fährt seit einer Stunde. Das Radio läuft leise, die Heizung strahlt angenehme Wärme in den Wagen. Er freut sich auf Elysia – mehr noch als sonst. Auf ihr Lächeln, ihre Umarmung, auf ein Wochenende, das sich anfühlt wie Zukunft.
Doch ein Gefühl kriecht langsam in seinen Nacken. Ein Gefühl, das er nicht zuordnen kann, das die sorglose Wärme stört.
Er wirft einen Blick in den Rückspiegel. Und da ist er. Der schwarze SUV. Kian blinzelt. Vielleicht Zufall. Vielleicht ein normales Auto aus dem Feierabendverkehr. Er fährt weiter. Der SUV hält den Abstand.
Fünf Minuten später wirft Kian wieder einen Blick nach hinten. Der SUV ist immer noch da. Unverändert. Gleichmäßige Geschwindigkeit. Unaufdringlich – aber konstant.
Ein leichtes, unangenehmes Kribbeln bildet sich in seinem Bauch. „Den kenn ich doch…“, murmelt er.
Er denkt zurück. Der Morgen, an dem er Elysia zur Arbeit gefahren hat. Der gleiche Wagen stand damals an ihrer Straße. Er erinnert sich an die dunkle Form, den verschneiten Lack, das Kennzeichen, das ihm damals schon nicht in die Region zu passen schien.
Er schluckt. Ein kalter Hauch streift sein Herz. Noch ein Blick in den Spiegel. Der SUV bleibt dran. Nicht nah, aber bewusst nah genug.
Kian schaltet das Radio aus, sein Körper wird augenblicklich angespannter. Die Geräuschkulisse reduziert sich auf Motorenbrummen und das leise Klackern der Heizung.
Er fährt rechts ran – nur leicht, um zu sehen, wie der SUV reagiert. Das Auto hinter ihm wird langsamer. Passt sich an. Bleibt zurück, überholt nicht.
Kian hebt die Augenbrauen. „Okay“, flüstert er, „das ist nicht normal.“
Er fährt wieder schneller. Der SUV hält mit.
Dieses Mal kriecht das Misstrauen tiefer. Wer auch immer das ist… er folgt mir.
Kian versucht ruhig zu bleiben, denkt nach. Soll er Elysia anrufen? Ben? Warten? Er greift nach seinem Handy, das in der Mittelkonsole liegt – zögert aber. Nicht während der Fahrt.
Er sieht erneut in den Spiegel. Der SUV ist noch da. Quietschend grau gegen den nassen Asphalt. Dunkel. Schwer. Ungut. Kians Herz schlägt schneller, aber sein Kopf wird klarer.
„Wenn du mir folgst…“, murmelt er, „dann werde ich rausfinden, warum.“
Er schaltet in den nächsten Gang, die Lichter schneiden durch die feuchte Abenddämmerung.
Der SUV folgt ihm, wie ein lautloser Schatten.
Kessler sitzt tief im Sitz seines schwarzen SUV, die Hände liegen locker am Lenkrad, das Gesicht verborgen im Schatten des dunklen Abends. Er kennt jede Regung auf der Straße, jedes verräterische Verhalten von Menschen, die beginnen, etwas zu ahnen.
Und er erkennt es sofort: Kian Sterling hat ihn bemerkt. Der Moment ist klein, aber eindeutig. Es ist die Art, wie Kian in den Rückspiegel schaut – nicht zufällig, sondern prüfend. Die Art, wie er leicht bremst, um zu sehen, ob der SUV reagiert, und wie sein Wagen dann wieder beschleunigt.
Kessler zieht ein Augenlid minimal hoch. „Er hat’s gemerkt“, murmelt er leise, bar jeder Emotion. Er reagiert nicht panisch. Nicht unvorsichtig. Nicht abrupt.
Er reduziert lediglich die Geschwindigkeit um ein paar Stundenkilometer, sodass der Abstand etwas größer wird. Er lässt bewusst keine Aggression erkennen, keine Hektik. Nur ruhige, professionelle Anpassung.
Das Wichtigste: Kian darf nicht wissen, dass es Absicht ist.
Kessler tippt leicht mit dem Finger auf das Lenkrad, nachdenklich. „Kluger Junge.“
Doch auch das ändert nichts am Auftrag. Und nichts an seiner Vorgehensweise. Er drückt einen kleinen Knopf an der Sonnenblende – eine Mini-Kamera, die nach vorn auf Kians Wagen gerichtet ist, zoomt leicht heran, ohne dass sich die Leuchte verändert.
Kian fährt minimal schneller. Nicht fliehend, aber eindeutig prüfend.
Kessler setzt einen kühlen, fast unmerklichen Plan um: Er bleibt sichtbar genug, um nicht aus Kians Wahrnehmung zu verschwinden, aber ausreichend weit weg, um harmlos zu wirken. Ein Auto, das zufällig die gleiche Strecke nimmt. Nichts weiter.
„Mach keinen Fehler, Kleiner. Nicht jetzt“, murmelt er in die Dunkelheit des Innenraums.
Dann greift er mit einer Hand sein Handy, ohne den Blick von der Straße zu nehmen, und tippt eine kurze, sachliche Nachricht an Valerian:
Sterling ist unterwegs. Ich bleibe dran. Er wird misstrauisch, aber kein Problem.
Er schickt die Nachricht ab, legt das Handy weg und bleibt ganz ruhig. Sein Blick folgt Kians Rücklichtern. Seine Gedanken bleiben klar: Wenn Sterling weiß, dass er verfolgt wird, muss die Methode angepasst werden. Ein Fehler jetzt wäre fatal – und Kessler macht keine Fehler.
Er hält perfekten Abstand. Nicht bedrohlich. Nicht auffällig. Ein normaler Wagen, in normalem Verkehr. Aber immer da. Immer hinter ihm. Wie ein kalter Schatten, der sich geduldig an die Fersen heftet.
Kian fährt weiter die Landstraße entlang. Der Himmel ist tiefgrau, die nasse Fahrbahn spiegelt die Scheinwerfer der Autos wie flüssiges Metall.
Im Rückspiegel sieht er ihn immer noch. Den schwarzen SUV.
Er testet weiter, subtil, aber entschlossen: Er fährt langsamer, und der SUV wird auch langsamer. Er fährt schneller, und der SUV hält mühelos mit. Er wechselt kurz die Spur, und der SUV bleibt wie ein kalter Schatten hinter ihm.
Kians Puls steigt. Er weiß jetzt: Das ist kein Zufall.
Seine Hände umklammern das Lenkrad fester, sein Atem geht schneller und flacher. „Okay... okay... ganz ruhig.“ Er versucht sich selbst zu beruhigen, doch die innere Unruhe wächst.
Er weiß, dass etwas nicht stimmt. Überhaupt nicht. Und er weiß, dass er Elysia warnen muss – aber nicht jetzt, nicht am Steuer, nicht, während er beobachtet wird.
Als ein Rastplatz-Schild vor ihm auftaucht, fällt die Entscheidung. Er fährt raus.
Kian blinkt, fährt auf den Rastplatz, der fast leer ist. Es regnet leicht, feiner Niesel, der im Licht der Laternen glitzert.
Er beobachtet im Rückspiegel: Der SUV fährt weiter. Er fährt nicht hinterher. Er fährt sogar ein Stück schneller, als würde er bewusst Distanz schaffen. Kian schluckt schwer. Das ist noch unheimlicher. Der Typ weiß genau, was er tut.
Er wartet einige Sekunden, dann atmet er tief ein und steigt aus. Im Laufen zieht er die Kapuze hoch und geht schnellen Schrittes Richtung Toilettenhäuschen. Er hört sein eigenes Herz in den Ohren schlagen. Er will nicht riskieren, dass jemand ihn hört.
Er geht hinein, schließt die Tür hinter sich. Leises Tropfen von der Decke. Ein schwaches Flackern der Lampe. Er holt sein Handy raus. Seine Hände zittern leicht. Er ruft Elysia an.
Es klingelt zweimal. „Kian?“ Elysias Stimme klingt warm.
Er atmet einmal tief durch. „Elysia… ich glaube… ich werde verfolgt.“
Stille. Dann: „Was? Von wem?“
Kian stützt eine Hand gegen das Waschbecken und zwingt seine Stimme ruhig zu bleiben.
„Ich weiß es nicht. Aber… der SUV. Der schwarze. Der, den wir bei dir gesehen haben. Er war die ganze Zeit hinter mir. Kilometerlang. Als ich rausgefahren bin, ist er nicht mit rausgefahren… aber er hat sich auffällig verhalten. Das ist kein normaler Verkehr.“
Elysia sagt eine Sekunde lang nichts. Nur ihr Atem ist hörbar. Dann bricht ihre Stimme ganz leise: „Kian… ich hab heute einen Brief bekommen.“
Er friert ein. Ein kalter, unangenehmer Stich geht durch seinen Magen. „Was für einen Brief?“
„Von Valerians Anwalt. Er zieht seine Zustimmung zur Scheidung zurück.“
Kian schließt die Augen. „Verdammt…“, flüstert er.
Elysia klingt plötzlich kleiner. Verletzlicher. „Kian… ich hab Angst.“
Er hebt den Kopf, atmet tief durch. Seine Stimme wird weich – aber entschlossen. „Ich komme trotzdem. Egal, was passiert. Ich bin gleich bei dir. Wir stehen das zusammen durch, ja? Du bist nicht allein.“
Elysia schluchzt leise. „Bitte pass auf dich auf.“
„Mach ich. Ich ruf dich gleich nochmal an. Ich will nur… sicher sein, dass der SUV wirklich weg ist.“
„Okay… bitte beeil dich.“
„Versprochen.“
Sie legen auf. Kian steckt das Handy ein, atmet tief ein – und geht wieder hinaus in die Nässe, die sich plötzlich kälter anfühlt als vorher.