Falkensee - Kapitel 12


Der Morgen ist warm und still, die Sonne steht warm über den Dächern von Falkensee. Kian steht vor Lioras Wohnungstür, die Hände in den Hosentaschen, und spürt, wie ihm der Schweiß im Nacken steht – nicht wegen der Hitze, sondern wegen der Worte, die er gleich sagen muss.

 

Zwei Tage sind vergangen seit jenem Abend. Zwei Tage, in denen er versucht hat, seine Gedanken zu ordnen, und sie sich nur noch mehr verheddert haben.
Er weiß, dass er ehrlich sein muss. Nicht, weil sie es verlangt, sondern weil sie es verdient. Er atmet tief durch, drückt auf die Klingel. Es dauert ein paar Sekunden, bis Schritte hinter der Tür zu hören sind. Dann öffnet Liora.


Sie trägt ein luftiges Kleid, ihr Haar ist unordentlich hochgesteckt, und ihre grünen Augen sind nicht mehr so offen wie sonst – eher wachsam, abwartend.

 

„Kian,“ sagt sie leise. „Was machst du hier?“

 

„Ich muss mit dir reden,“ antwortet er, ruhig, aber fest.

 

Sie lehnt sich leicht gegen den Türrahmen. „Jetzt auf einmal?“


Er nickt. „Ja. Ich… ich will ehrlich zu dir sein.“

 

Sie sieht ihn lange an, dann tritt sie einen Schritt zurück und lässt ihn in die Wohnung. Drinnen riecht es nach Kaffee. Alles ist ordentlich, liebevoll eingerichtet, wie sie selbst.

 

Kian bleibt stehen, die Hände ineinander verschränkt.


„Liora… ich weiß, dass ich dich verletzt habe,“ beginnt er langsam. „Das war nicht meine Absicht. Du bist mir wichtig, sehr sogar. Aber ich…“ Er zögert, sucht nach den richtigen Worten. „Ich kann dir im Moment nicht das geben, was du verdienst.“

 

Sie atmet hörbar aus, die Arme verschränkt. „Und das merkst du jetzt?“


„Ich hab’s schon länger gemerkt,“ gibt er leise zu. „Ich wollte es nur nicht wahrhaben. Du bist wundervoll, Liora. Klug, offen, echt. Aber ich wäre ein Lügner, wenn ich so tue, als wäre mein Kopf ganz frei.“

 

Sie schweigt, sieht ihn mit einem Blick an, der zwischen Wut und Enttäuschung schwankt.


„Das heißt also, es gibt da jemanden,“ sagt sie schließlich. Kein Vorwurf in der Stimme, nur müde Erkenntnis.

 

Kian schüttelt den Kopf. „Nein. Niemanden, mit dem ich zusammen sein will. Es ist… komplizierter. Da ist nur etwas, das ich noch nicht ganz loslassen kann. Und ich will dir nichts vormachen.“

 

Liora sieht zu Boden, streicht sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Ich hab’s geahnt,“ murmelt sie. „Schon an dem Abend, als du gezögert hast. Du warst da – und irgendwie auch nicht.“

 

„Es tut mir leid,“ sagt Kian leise.

 

„Weißt du,“ sagt sie nach einer Weile, „ich hätte lieber gehabt, du wärst ehrlich gewesen, bevor du’s versucht hast. Aber wenigstens hast du’s jetzt getan.“

 

Sie geht zum Fenster, sieht hinaus, und in ihrem Profil liegt ein Hauch von Traurigkeit, der ihm wehtut.


„Ich mochte dich wirklich, Kian. Sehr sogar. Aber ich hab keine Lust, gegen Gespenster anzukämpfen, die du noch mit dir rumträgst.“

 

„Ich weiß,“ sagt er, ehrlich, fast flüsternd. „Und du solltest das auch nicht müssen.“

 

Liora nickt langsam. „Dann sind wir uns wenigstens einig.“

 

Ein stiller Moment vergeht.


Kian möchte noch etwas sagen, aber jedes Wort würde jetzt nur unnötig klingen. Er geht zur Tür, bleibt kurz stehen und sieht sie an.


„Du hast jemanden verdient, der ganz da ist, Liora. Ich hoffe, du findest ihn.“

 

Sie lächelt schwach, traurig, aber aufrichtig. „Und ich hoffe, du lässt irgendwann los.“

 

Er nickt. Dann verlässt er die Wohnung, und die Tür schließt sich leise hinter ihm. Draußen blendet ihn das Licht. Er steht einen Moment still, atmet tief durch und spürt, wie etwas in ihm gleichzeitig leichter und schwerer wird.

 

Er hat das Richtige getan – aber manchmal ist das Richtige das, was am meisten weh tut.

 

Kian geht mit großen Schritte zwei Häuser weiter wo Ben wohnt. Er steht vor seiner Haustür und atmet einmal tief durch bevor er klingelt. 

 

Ben öffnet ihm fast sofort die Tür, barfuß, mit einem Kaffeebecher in der Hand und dem gewohnten, leicht skeptischen Blick.


„Na, du siehst aus, als hättest du einen dieser Tage,“ sagt er, tritt beiseite und winkt ihn rein.


„So ungefähr,“ murmelt Kian und folgt ihm in die Küche.

 

Der Duft von frischem Kaffee hängt in der Luft. Ben gießt ihm eine Tasse ein, setzt sich ihm gegenüber. „Also? Raus mit der Sprache. Du hast’s hinter dir, oder?“

 

Kian nickt, stützt die Arme auf den Tisch. „Ich war bei Liora. Hab’s beendet.“

 

Ben zieht die Brauen hoch. „So richtig?“


„So richtig,“ sagt Kian. „Ich konnte nicht länger so tun, als wär da mehr, als ich wirklich fühl.“

 

Ben lehnt sich an die Arbeitsplatte, verschränkt die Arme. „Sie war eine Gute.“


„Ist sie auch,“ murmelt Kian. „Aber sie hätte jemanden verdient, der mit dem Kopf und dem Herzen da ist. Nicht nur mit der Hälfte davon.“

 

Ben nickt, sagt nichts mehr dazu. Beide trinken schweigend.

Dann hört man Schritte auf dem Flur. Hannahs Stimme – hell, freundlich, ein bisschen gedämpft – dringt aus dem Wohnzimmer.

 

„Ja, genau… ich hab die E-Mail gesehen, das klingt gut… Ja, Elysia, natürlich! Ich geb’s dir morgen weiter…“

 

Kian hält unbewusst inne.


Er weiß, dass Hannah mit ihr in Kontakt steht – das war längst kein Geheimnis mehr. Und trotzdem:


Das Geräusch ihres Namens, ausgesprochen in einem so alltäglichen Satz, trifft ihn wie ein unerwarteter Stich.

 

Elysia.

 

Kein Gedanke, keine Erinnerung. Nur ein Name – und doch schlägt sein Herz einen Takt schneller.

 

Ben merkt es. Sein Blick geht kurz zu Kian, dann wieder weg, als wolle er so tun, als hätte er es nicht bemerkt.

 

„Sie telefonieren fast jeden zweiten Tag,“ sagt Ben schließlich ruhig, fast beiläufig. „Nur über Kleinigkeiten. Wie’s ihr geht, was sie so macht. Hannah sagt, sie wirkt… ruhiger. Angekommen.“

 

Kian nickt langsam, den Blick auf die dampfende Kaffeetasse gerichtet.


„Das ist gut,“ sagt er leise. „Das freut mich.“

 

Aber in seinem Inneren mischt sich in die Ruhe ein leises, undefinierbares Ziehen. Sie ist also wirklich da draußen. Lebt. Lacht. Spricht mit jemandem, während er hier sitzt und versucht, sie aus seinem Kopf zu verbannen.

 

Er hebt den Blick, lächelt kurz. „Sag ihr, dass sie sich ruhig melden darf, wenn sie irgendwann möchte. Ich würd mich… einfach freuen zu hören, dass es ihr gut geht.“

 

Ben sieht ihn an, nickt verständnisvoll. „Ich richte’s aus. Wenn der Moment passt.“

 

Kian lehnt sich zurück, nimmt einen Schluck Kaffee, und das Gespräch driftet zu Belanglosigkeiten ab.


Doch während sie reden, klingt in ihm immer wieder dieser eine Klang nach –
sanft, vertraut, unausweichlich:

 

Elysia. 

 

Die Stimmung in der Küche ist ruhig, fast angenehm vertraut. Ben lehnt an der Arbeitsplatte, während Kian auf seinem Stuhl sitzt, den Blick auf den dampfenden Kaffee gerichtet.


Hannah kommt aus dem Wohnzimmer, legt ihr Handy auf den Tisch und setzt sich zu den beiden. Ihr Lächeln ist freundlich, aber in ihren Augen liegt noch dieses aufmerksame Funkeln, das sie immer hat, wenn sie spürt, dass etwas in der Luft liegt.

 

„War das Elysia?“ fragt Kian ruhig, ohne Umschweife.

 

Hannah nickt. „Ja. Wir haben kurz über die Bäckerei gesprochen. Nichts Besonderes.“


„Ihr scheint oft zu telefonieren,“ sagt er.


„Fast jeden zweiten Tag,“ antwortet sie ehrlich. „Sie macht sich gut, wirklich. Sie klingt… freier. Gefasster. Ich glaube, sie kommt langsam wieder bei sich selbst an.“

 

Kian nickt, und ein leises Lächeln huscht über sein Gesicht. „Das freut mich. Wirklich.“


Er nimmt einen Schluck Kaffee, stellt die Tasse ab, zögert einen Moment.
Dann hebt er den Blick zu Hannah.

 

„Würdest du ihr… meine Nummer geben?“ fragt er ruhig. „Nur, falls sie irgendwann reden will. Ich will sie nicht stören – ich will einfach nur wissen, dass’s ihr gut geht. Von ihr selbst.“

 

Hannah runzelt die Stirn, legt den Kopf leicht schief. „Ich weiß nicht, Kian…“


„Ich mein’s nicht aufdringlich,“ fügt er hastig hinzu. „Kein Druck, kein ‚ruf mich an‘ – einfach nur, falls sie das will.“

 

Hannah seufzt leise, verschränkt die Hände auf dem Tisch.


„Ich versteh dich, ehrlich. Aber… ich weiß nicht, ob das jetzt der richtige Moment ist.“

 

Kian sieht sie fragend an. „Weil?“

 

„Weil sie sich gerade zum ersten Mal wirklich im Leben zurechtfindet,“ sagt Hannah sanft. „Sie ist ruhig geworden. Mutig, irgendwie. Sie arbeitet, sie lacht wieder. Und sie hat aufgehört, sich umzudrehen.“

 

Ihre Worte treffen ihn, ruhig, aber spürbar.

 

„Wenn du jetzt wieder in ihr Leben trittst – selbst mit den besten Absichten –, dann reißt du vielleicht was auf, das gerade erst verheilt.“

 

Kian schweigt, sein Blick sinkt auf den Tisch. Er weiß, dass sie recht hat. Und trotzdem tut es weh, es zu hören.

 

„Ich will ihr nichts nehmen,“ sagt er leise. „Nur… ich kann nicht so tun, als wäre mir egal, wie’s ihr geht.“

 

Hannah legt ihre Hand kurz auf seine. „Ich weiß. Und das ehrt dich."

 

Er lächelt matt, nickt. 

 

Ben, der bisher geschwiegen hat, sieht von einem zum anderen und murmelt:

 

„Klingt ganz schön erwachsen, ihr zwei.“


Hannah wirft ihm einen halb genervten, halb liebevollen Blick zu, bevor sie sich wieder Kian zuwendet.

 

„Ich verspreche dir, wenn sie jemals fragt – nach dir, nach irgendwas – dann geb ich ihr deine Nummer. Aber jetzt… lass sie bitte erstmal weiter atmen.“

 

Kian nickt, atmet tief durch, und für einen Moment liegt eine verständnisvolle Stille zwischen ihnen.

 

„Danke,“ sagt er schließlich. „Mehr will ich nicht.“

 

Hannah lächelt sanft. „Ich weiß.“

 

Er lehnt sich zurück, der Kaffee vor ihm längst kalt, und während sie über etwas Belangloses reden, spürt er, dass Hannah recht hat.


Manchmal heißt Fürsorge, nicht dazwischenzufunken.
Und doch, tief in ihm, hofft er leise – dass irgendwann der Moment kommen wird, an dem sie selbst wissen will, wie es ihm geht.


Der nächste Morgen ist klar und sonnig. Ein leichter Wind trägt den Duft von frischem Gebäck und Lindenblüten durch die Straßen von Brunnental. Elysia steht mit Phelia vor einem alten Backsteinhaus, das einen kleinen, charmanten Innenhof hat. Die Fensterrahmen sind weiß gestrichen, und auf der Fensterbank im Erdgeschoss stehen Tontöpfe mit Geranien.

 

„Hier also?“ fragt Elysia, während sie sich das Gebäude ansieht.


Phelia nickt und lächelt. „Ja. Die Vermieterin ist eine ältere Dame, ganz lieb. Ich hab ihr gesagt, dass du was Kleines suchst – ruhig, hell, nichts Extravagantes.“

 

Elysia lächelt. „Das klingt nach mir.“

 

„Eben,“ grinst Phelia. „Na los, komm. Ich hab schon geklingelt.“

 

Die Tür öffnet sich und eine kleine, rundliche Frau mit grauem Dutt und warmen Augen begrüßt sie.


„Guten Morgen, meine Damen. Sie müssen Frau von Kaltenthal sein?“


„Ja,“ sagt Elysia höflich und streckt die Hand aus. „Elysia, bitte.“

 

„Ich bin Frau Mertens,“ sagt die Vermieterin freundlich. „Kommen Sie rein, ich zeig Ihnen alles.“

 

Der Flur riecht nach Holz und frischer Farbe. Die Wohnung liegt im ersten Stock – zwei Zimmer, eine kleine Küche, ein Balkon mit Blick auf den Innenhof. Die Sonne fällt durch die großen Fenster und lässt den hellen Holzboden glänzen.

 

Elysia bleibt im Wohnzimmer stehen, die Hände locker ineinander verschränkt.
Das Licht, die Ruhe, die Weite – es fühlt sich sofort richtig an.

 

„Hier wär Platz für ein Sofa,“ sagt Phelia, während sie durch den Raum geht.

 

„Und das Schlafzimmer hat genug Platz für dein Bett und den alten Rattansessel von deinen Eltern.“

 

Elysia nickt, lächelt leicht. „Ja. Ich mag die Atmosphäre hier. Es ist… friedlich.“

 

Frau Mertens öffnet die Balkontür, ein Hauch Sommerluft strömt herein.
„Hier ist’s morgens besonders schön,“ sagt sie. „Die Sonne fällt direkt rein. Und die Nachbarn sind ruhig.“

 

Elysia tritt hinaus auf den Balkon. Unten im Hof ranken Rosen an einem kleinen Holzspalier. Sie lehnt sich gegen das Geländer, atmet tief ein und lächelt.

 

„Was meinst du?“ fragt Phelia.


Elysia dreht sich zu ihr um, und in ihrem Blick liegt ein Leuchten, das Phelia sofort bemerkt.


„Ich glaube,“ sagt sie ruhig, „das ist mein Anfang.“

 

Frau Mertens lächelt zufrieden. „Dann bin ich froh. So eine Mieterin wie Sie hätte ich gern.“

 

„Ich nehm sie,“ sagt Elysia leise, aber fest.

 

Phelia lacht und zieht sie in eine spontane Umarmung. „Ich hab’s gewusst! Ich hab’s einfach gewusst, dass du hier glücklich wirst.“

 

Elysia nickt, lacht ebenfalls, und für einen Moment fühlt es sich so an, als würde alles passen.


Nicht perfekt – aber ehrlich. Ein Zuhause, das sie sich selbst ausgesucht hat.

Als sie später mit Phelia durch die sonnige Straße zurückgeht, sagt sie nachdenklich:


„Ich hätte nie gedacht, dass Freiheit so leise sein kann.“


Phelia legt den Arm um ihre Schulter. „Leise, ja. Aber schön, oder?“

 

Elysia nickt, der Blick nach vorn gerichtet.


„Schön,“ sagt sie leise. „Wirklich schön.“


Valerian sitzt spätabends in seinem Büro. Die untergehende Sonne taucht den Raum in ein rötliches Licht, das über den glänzenden Mahagonischreibtisch wandert. Aktenstapel, Notizen, ein halbes Glas Whisky – alles ist ordentlich, makellos, fast zu perfekt. Nur die Müdigkeit in seinem Gesicht verrät, dass er seit Stunden arbeitet.

 

Er hat sich in die Arbeit geflüchtet, wie in eine Festung.
Meetings, Telefonate, Projekte – er hat jeden Tag bis obenhin gefüllt, damit kein Platz bleibt für Gedanken.


Kein Platz für sie.

 

Doch jetzt, in der Stille, wenn das Summen des Computers und das ferne Rauschen der Stadt die einzigen Geräusche sind, beginnt das zu bröckeln.


Er öffnet die unterste Schublade seines Schreibtischs, auf der Suche nach einer alten Mappe – und sieht den Brief. Ein weißer Umschlag, leicht zerknittert an den Ecken. Das Siegel des Anwalts. Seine Finger verharren darauf.


Er hatte ihn damals nach dem ersten Lesen einfach hineingelegt – nicht weggeworfen, aber auch nicht noch einmal angesehen. Doch jetzt zieht er ihn langsam heraus, legt ihn auf den Tisch, als würde er etwas Zerbrechliches berühren.

 

Er atmet tief durch, öffnet den Umschlag, liest die ersten Zeilen.
Die Worte sind sachlich, nüchtern:


„Im Auftrag meiner Mandantin, Frau Elysia Auberon geb. von Kaltenthal, reiche ich hiermit die Scheidung von Herrn Valerian Auberon ein…“

 

Er liest sie zweimal, dann legt er das Blatt beiseite. Es trifft ihn nicht wie ein Schlag – eher wie ein langsames, leises Einsinken. Wie kaltes Wasser, das sich unaufhaltsam über ihn legt.

 

Seine Hand umschließt das Whiskyglas, aber er trinkt nicht.
Er starrt nur hinein, sieht die Lichtreflexe tanzen, während in seinem Kopf die letzten Monate vorbeiziehen. Ihr Schweigen beim Frühstück. Ihre müden Augen. Die unausgesprochenen Sätze, die zwischen ihnen hingen wie dichter Nebel.

 

Er hatte geglaubt, es sei nur eine Phase. Dass sie Zeit brauchte. Dass sie zurückkommen würde, wenn er nur lange genug wartete. Aber jetzt wird ihm klar – sie kommt nicht mehr zurück.


Nicht zu ihm.


Nicht in dieses Haus.

 

Er lehnt sich zurück, legt den Kopf gegen die Lehne des Sessels und schließt die Augen. Zum ersten Mal seit Wochen spürt er keinen Zorn, keine Wut.
Nur Leere. Und darunter – ein Schmerz, den er sich nie eingestanden hat. Er hatte sie wirklich geliebt. Auf seine Weise. Aber seine Liebe war zu hart gewesen, zu kontrollierend, zu eng.


Er hatte sie festhalten wollen – und genau daran hatte er sie verloren. Ein leises Lächeln huscht über sein Gesicht, bitter und traurig zugleich.


„Du hast es geschafft, Elysia,“ murmelt er. „Du bist wirklich frei.“

 

Er stellt das Glas ab, steht auf und geht zum Fenster. Draußen glüht die Stadt im letzten Abendlicht, Autos ziehen wie Lichterspuren vorbei. Valerian sieht hinaus, die Hände tief in den Taschen, und zum ersten Mal seit Langem lässt er die Stille zu. Kein Fluchen. Kein Ärger. Kein Stolz. Nur das Eingeständnis, dass er sie verloren hat – und dass sie ohne ihn vielleicht glücklicher ist, als sie es je mit ihm war.

 

Valerian steht noch eine Weile reglos am Fenster, bis die Schatten im Raum länger werden und die Stadt draußen in Lichtpunkte zerfällt.
Dann dreht er sich langsam um, geht den Flur entlang. Seine Schritte hallen leise auf dem Parkett, jedes Geräusch wirkt zu laut in der stillen Villa.

 

Er bleibt vor der Tür ihres gemeinsamen Schlafzimmers stehen. Die Tür ist geschlossen – seit Wochen schon. Er hat sie kaum noch angerührt, hat lieber in einem der Gästezimmer geschlafen, auf der Couch gearbeitet, im Büro gedöst – überall, nur nicht hier.

 

Langsam legt er die Hand auf die Klinke. Zögert. Dann drückt er sie hinunter. Der Raum ist unverändert. Das große Bett, die cremefarbenen Vorhänge, der Duft ihres Parfums – schwach, aber noch da. Ein Duft, der ihn sofort zurückreißt in Nächte, in denen sie dicht neben ihm lag, schweigend, doch spürbar.

 

Er bleibt einen Moment in der Tür stehen, dann geht er langsam auf das Bett zu. Setzt sich auf die Bettkante. Die Matratze gibt leicht nach, und das Rascheln der Decke klingt fast wie eine Erinnerung.

 

Seine Hände ruhen auf den Knien, der Blick wandert über die Kissen, über ihren Nachttisch – leer, ohne ihr Buch, ohne ihr Glas Wasser, ohne sie.
Er spürt, wie sich ein dumpfer Druck in seiner Brust breitmacht.

 

Wo schläft sie jetzt?


Ob sie noch immer die linke Seite des Bettes wählt, so wie hier?


Ob sie morgens ihren Kaffee schwarz trinkt, so wie früher – oder ob jemand anders ihr jetzt welchen bringt?

 

Der Gedanke trifft ihn unerwartet hart.


Elysia… mit jemand anderem.

 

Er schnaubt leise, fährt sich mit der Hand durch die Haare. Er will diesen Gedanken nicht – aber er kommt trotzdem, mit einer plötzlichen, brennenden Wucht. Wie eine Flamme, die in einem Raum aufflackert, in dem längst alles trocken ist. Sein Kiefer spannt sich, die Hände ballen sich zu Fäusten. Das Bild in seinem Kopf – ein fremder Mann, ihre Stimme, ihr Lächeln – es ist wie ein Messer, das sich langsam dreht.

 

„Nein,“ zischt er leise. „Das… nein.“

 

Er steht auf, geht zwei Schritte, bleibt wieder stehen. Der Ärger pulsiert kurz in ihm – roh, kraftlos, sinnlos. Er stößt gegen den Nachttisch, nicht stark, aber laut genug, dass das Geräusch in der Stille schneidet.

 

Dann atmet er schwer aus, lässt sich wieder auf das Bett sinken. Der Zorn verfliegt so schnell, wie er gekommen ist – übrig bleibt nur dieser schmerzhafte Knoten in seiner Brust. Er presst die Hand über die Augen, flüstert kaum hörbar:


„Warum kannst du mich nicht einfach loslassen…?“

 

Doch er weiß, die Wahrheit ist eine andere.


Nicht sie hält ihn fest.


Er ist es selbst, der nicht loslässt.

 

Er sitzt lange so da - bis das Zimmer im Dunkeln liegt.