Falkensee - Kapitel 5
Das leise Klicken der Tür hallt durch das hohe Foyer, als der Sicherheitsmann zurückkehrt. Valerian steht am Fenster seines Arbeitszimmers, das Telefon in der Hand, aber er redet nicht. Er hört. Wartet.
„Und?“ fragt er schließlich, ohne sich umzudrehen. Die Stimme ist ruhig, aber messerscharf.
Der Mann räuspert sich. „Ich habe Ihre Frau gefunden, Herr Auberon. In der Innenstadt. Sie saß mit zwei Personen in einem Café.“
„Und?“
„Ich… habe versucht, sie anzusprechen. Sie wollte nicht mitkommen.“
Valerian dreht sich langsam um.
„Wollte. Nicht. Mitkommen.“
Die Wort klingen aus seinem Mund wie Gift.
Der Sicherheitsmann nickt unsicher. „Ich hab… versucht, sie zu überzeugen, aber da war jemand...“
„Jemand?“
„Ein Mann. Ich weiß nicht, wer er war. Er hat sich dazwischen gestellt. Meinte, die Dame wolle nicht gehen. Ich… wollte keinen Aufruhr verursachen.“
Einen Moment herrscht Stille.
Dann stößt Valerian das Telefon mit der flachen Hand vom Schreibtisch. Es knallt auf den Boden.
„Sie lassen sich also von einem Fremden vorschreiben, was Sie tun dürfen?“
Seine Stimme ist ruhig, aber so gefährlich ruhig, dass sie schlimmer wirkt als Schreien.
„Herr Auberon, es waren Leute dort, Zeugen, ich...“
„Raus!“
Der Mann zuckt zusammen. „Aber...“
„Raus, bevor ich Ihnen zeige, wie ich mit Unfähigkeit umgehe!“
Der Sicherheitsmann flieht beinahe aus dem Raum, die Tür fällt laut hinter ihm zu.
Valerian bleibt stehen, atemlos, die Hände zu Fäusten geballt. Er sieht sein Spiegelbild in der Fensterscheibe – die perfekte Silhouette des erfolgreichen Geschäftsmanns. Aber darunter flackert etwas: Wut. Ohnmacht. Angst.
Sie widersetzt sich mir. In aller Öffentlichkeit.
Er greift nach seiner Jacke, wirft sie sich über die Schultern.
Die Knöpfe der Manschetten klicken, als er sie schließt – präzise, mechanisch, fast rituell. Er ruft nach seinem Fahrer. Keine Antwort. Natürlich, der Chauffeur sucht noch nach ihr.
Valerian kneift die Augen zusammen, greift nach den Autoschlüsseln. Dann eben selbst. Er fährt sich durchs Haar, holt tief Luft, aber die Wut lässt sich nicht zähmen. Sie brennt in ihm, heiß und unkontrolliert.
„Ich hole sie zurück,“ murmelt er. „Und dann wird sie verstehen, wem sie dieses Leben verdankt.“
Mit schnellen Schritten verlässt er das Haus, die Tür knallt hinter ihm. Draußen blendet ihn das Sonnenlicht, grell, unangenehm warm. Die Welt da draußen fühlt sich zu laut, zu lebendig an. Eine Welt, die ohne seine Erlaubnis weiterläuft. Er steigt in den Wagen, startet den Motor. Die Reifen quietschen auf dem Kies. Während er losfährt, presst er die Hände ans Lenkrad, die Kiefermuskeln angespannt. Sein Herz schlägt hart, gleichmäßig.
Sie läuft nicht weg.
Nicht vor ihm.
Nicht ohne Konsequenzen.
Die Sonne spiegelt sich in den glänzenden Fassaden der Innenstadt, der Himmel ist klar, die Straßen belebt. Menschen schlendern an Schaufenstern vorbei, Kinder lachen, der Frühling liegt in der Luft. Nur einer passt nicht in dieses Bild.
Valerian Auberon.
Schwarz gekleidet, das Gesicht hart, die Augen kalt. Er parkt seinen Wagen am Straßenrand, steigt aus und schließt die Tür mit einem entschlossenen Klick. Sein Blick gleitet über die Menge – kontrollierend, prüfend, jagend. Er weiß, dass sie hier irgendwo sein muss.
Er spürt es.
Er geht die Hauptstraße entlang, an Boutiquen und Cafés vorbei, sein Schritt schnell, zielgerichtet. Menschen weichen ihm unbewusst aus. Etwas an seiner Haltung wirkt… gefährlich.
Nur ein paar Straßen weiter sitzt Elysia mit Kian, Ben und Hannah wieder im Café. Sie hatte sich auf Kians Zureden hin noch einmal gesetzt, um etwas zu trinken, zur Ruhe zu kommen.
Kian spricht leise mit Ben, Hannah rührt gedankenverloren in ihrem Latte – da merkt sie plötzlich, wie das Lächeln auf ihren Lippen erstarrt. Ein Blick in die Menge genügt. Ihr Herz macht einen Satz. Die Haltung, der Anzug, dieser Schritt. Sie kennt ihn.
Valerian.
„Oh nein…“ haucht sie.
Elysia sieht sie fragend an, doch als sie Hannahs Blick folgt, erstarrt sie.
Kian merkt sofort, dass etwas nicht stimmt.
„Was ist los?“
„Mein Mann,“ flüstert Elysia. „Er ist hier.“
Kians Miene verändert sich sofort – ruhig, konzentriert, aber entschlossen. Er steht auf, greift beiläufig nach ihren Einkaufstüten, dann nach ihrer Hand.
„Kommen Sie,“ sagt er leise. „Jetzt.“
„Kian...“
„Vertrauen Sie mir.“
Ben steht ebenfalls auf, stellt sich unauffällig an den Rand des Tisches, um Hannah Zeit zu geben.
„Ich lenke ihn ab,“ murmelt er.
Hannah nickt ihm zu, während sie Elysia zuraunt: „Links, durch die Passage. Dann gleich die Seitenstraße runter. Geh!“
Elysia steht auf, zögert keine Sekunde mehr. Kians Griff ist fest, aber ruhig.
Er zieht sie mit sich, durch die kleine Seitenpassage zwischen zwei Gebäuden, vorbei an einem Blumenladen, dessen Duft den Stadtgeruch überdeckt.
Ihr Herz hämmert, die Sonne blendet, Stimmen verschwimmen.
Er läuft zügig, nicht rennend, aber zielstrebig – gerade schnell genug, um in der Menge zu verschwinden.
„Er hat Sie nicht gesehen,“ sagt Kian ruhig, ohne stehen zu bleiben.
„Sind Sie sicher?“
„Ja. Ich kenn diesen Blick. Der sucht, aber er sieht nur, was er sehen will.“
Sie bleibt kurz stehen, atmet schwer, ihre Hand zittert noch in seiner.
Er legt die Einkaufstüten auf eine Bank in einer schattigen Gasse.
„Sie sind sicher, fürs Erste.“
Elysia sieht ihn an – verwirrt, aufgewühlt, aber auch dankbar.
„Sie hätten das nicht tun müssen.“
„Doch,“ sagt er schlicht. „Man lässt niemanden allein, wenn Gefahr in der Nähe ist.“
In der Ferne rauscht die Stadt. Das Sonnenlicht fällt durch die Äste über ihnen, tanzt auf dem Pflaster.
Elysia schließt kurz die Augen, atmet durch – und merkt erst jetzt, dass sie seine Hand noch immer hält.
Währenddessen bleibt Valerian einige Straßen weiter stehen. Er sieht sich um, blickt in Gesichter, an Schaufenstern vorbei, in Cafés hinein. Aber sie ist verschwunden.
Er spürt, wie die Kontrolle ihm entgleitet – ein Gefühl, das er verachtet. Er kneift die Augen zusammen, murmelt leise:
„Dann spiele ich eben nach meinen Regeln.“
Er zieht das Handy aus der Tasche und wählt eine Nummer.
Seine Stimme ist ruhig, eiskalt.
„Ich will wissen, wo sie ist. Heute noch.“
Sein Blick streift über die Straßencafés, über die Menge, die sich in der Sonne bewegt. Dann bleibt er hängen – auf einem vertrauten Gesicht.
Hannah.
Sie sitzt noch immer am Tisch, die Hände um ihre Kaffeetasse gelegt, den Kopf leicht gesenkt, als wolle sie unauffällig wirken. Aber er erkennt sie sofort. Seine Schritte werden langsamer, präziser, gefährlich ruhig. Er geht direkt auf sie zu. Die Sonne blendet, doch seine Augen sind kalt wie Stahl.
„Hannah.“
Hannah hebt langsam den Kopf, lächelt dünn.
„Herr Auberon. Was für ein Zufall.“
„Ein Zufall?“ Seine Stimme ist ruhig, doch sie zittert vor unterdrückter Wut. „Sie sitzen hier, genau da, wo meine Frau sicher eben war – und wollen mir erzählen, das sei ein Zufall?“
„Vielleicht ist Falkensee einfach klein,“ sagt Hannah kühl und lehnt sich in ihrem Stuhl zurück.
Er beugt sich leicht vor, die Hände auf die Tischkante gestützt.
„Wo ist sie?“
„Wer?“
„Spielen Sie nicht mit mir.“
„Ich spiele nicht. Ich trinke Kaffee.“
Ihre Stimme ist ruhig, aber ihre Hände zittern leicht.
Valerian beugt sich noch näher, so nah, dass sie seinen Atem spürt.
„Wenn Sie glauben, Sie könnten sich zwischen mich und meine Frau stellen, dann täuschen Sie sich gewaltig.“
„Wenn Sie glauben, Sie besitzen sie, dann Sie sich auch.“
Seine Miene verhärtet sich. „Sie wissen, dass ich Ihnen Schwierigkeiten machen kann. Ich brauche nur einen Anruf.“
„Dann rufen Sie,“ sagt sie leise. „Aber erwarten Sie nicht, dass irgendjemand hier für Sie parat steht, wenn’s ernst wird.“
Für einen Moment steht die Luft still zwischen ihnen – wie vor einem Gewitter.
Dann steht jemand neben ihr auf.
Ben.
Er schiebt sich ruhig zwischen sie und Valerian, seine Haltung locker, aber eindeutig schützend.
„Ich glaub, Sie haben sich verlaufen,“ sagt er leise, aber gefährlich fest. „Das hier ist ein Café, kein Verhörzimmer.“
Valerian funkelt ihn an. „Wer sind Sie?“
„Jemand, der genug hat von Männern, die glauben, sie hätten das Recht, andere zu kontrollieren.“
„Passen Sie auf, wie Sie mit mir reden...“
„Nein, Sie passen auf,“ faucht Ben. „Sonst vergesse ich, dass ich in der Öffentlichkeit bin.“
Hannah erhebt sich langsam, stellt sich neben Ben.
„Sie sollten gehen, Valerian,“ sagt sie ruhig. „Elysia will das nicht mehr. Und Sie wissen das ganz genau.“
Einen Moment lang herrscht gespannte Stille.
Valerian sieht beide an – diese Frau, die ihn verachtet, und diesen Mann, der es wagt, ihn herauszufordern. Dann hebt er das Kinn, kalt, berechnend.
„Sie wissen nicht, mit wem Sie sich anlegen.“
„Vielleicht,“ sagt Ben leise, „aber Sie wissen’s jetzt.“
Valerian atmet durch, zwingt sich zu einem Lächeln, das keins ist. Dann dreht er sich abrupt um und geht – schnellen, festen Schritts. Die Menschen weichen ihm aus, niemand spricht ihn an. Er verschwindet in der Menge, doch seine Wut bleibt zurück, schwer und drohend.
Kian öffnet die Tür seines Hauses am See.
Die Nachmittagssonne steht tief, warmes Licht fällt über den Holzboden.
„Kommen Sie rein,“ sagt er ruhig.
Elysia zögert kurz, dann tritt sie ein. Der Raum ist hell, schlicht, gemütlich – nichts Überflüssiges, nichts, was schreit. Nur Ruhe. Er nimmt ihr die Tüten ab, stellt sie beiseite.
„Setzen Sie sich. Wollen Sie was trinken? Wasser? Tee?“
„Wasser wäre schön,“ sagt sie leise.
Er verschwindet kurz in der Küche.
Elysia bleibt stehen, sieht sich um. Große Fenster, der See gleich dahinter, leises Licht, das in goldenen Streifen über den Boden fällt. Es riecht nach Kaffee, Holz und etwas Vertrautem.
Als Kian zurückkommt, reicht er ihr das Glas.
„Hier.“
„Danke.“
Sie nimmt es, ihre Finger berühren flüchtig seine. Ein kurzer Stromstoß – kaum spürbar, aber echt.
„Sie zittern noch,“ sagt er ruhig.
„Ich weiß,“ murmelt sie. „Ich dachte, ich hätte keine Angst mehr. Aber wenn man jahrelang gelernt hat, still zu sein, ist Weglaufen schwieriger, als man denkt.“
Kian nickt, setzt sich auf die Armlehne des Sofas, den Blick auf sie gerichtet.
„Weglaufen ist kein Zeichen von Schwäche. Manchmal ist’s der erste Schritt zur Freiheit.“
Sie sieht ihn an – und da sind wieder diese Augen.
Warm, ruhig, voller Verständnis. Genau das, was sie all die Jahre vermisst hat.
„Ich weiß nicht, was ich jetzt tun soll,“ flüstert sie.
„Vielleicht einfach mal nichts,“ sagt er leise. „Atmen. Warm werden. Und nachdenken, was Sie wollen – nicht, was jemand anderes von Ihnen erwartet.“
Sie lächelt schwach, hebt das Glas und nimmt einen Schluck. Das Wasser schmeckt schlicht, klar, ehrlich. Wie alles hier. Draußen kräuselt der Wind die Oberfläche des Sees, Licht glitzert auf den Wellen.
Elysia lehnt sich zurück und atmet tief durch. Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlt sich Stille nicht bedrohlich an. Sondern wie ein Versprechen.
„Elysia?“
Sie hebt langsam den Blick.
„Ich will dir nicht zu nahe treten,“ sagt er ruhig. „Aber… was war das vorhin? Der Typ sah nicht aus, als hätte er bloß einen Irrtum aufklären wollen.“
Elysia atmet tief ein. Ihr Blick fällt auf das Glas Wasser, das sie mit beiden Händen umfasst. Die Finger umklammern es, als müsse sie sich daran festhalten.
„Das war… jemand, den mein Mann geschickt hat,“ sagt sie leise.
Kian blinzelt, überrascht, sagt aber nichts.
Sie lächelt bitter. „Ich weiß, wie das klingt. So, als wäre ich jemand, der sich in Dramen verliert. Aber…“ Sie verstummt, die Stimme versagt.
Kian lehnt sich ein Stück vor, ruhig, mit dieser leisen Geduld, die er an sich hat.
„Du musst mir nichts erzählen, was du nicht willst,“ sagt er sanft. „Ich hab nur gesehen, dass du Angst hattest. Und dass du’s nicht gewohnt bist, Hilfe anzunehmen.“
Sie sieht ihn an – und für einen Moment weicht die Anspannung aus ihren Schultern.
„Er… ist ein Mann, der Kontrolle braucht,“ flüstert sie. „Über alles. Über mich. Über mein Leben. Ich dachte, das wäre Liebe, am Anfang. Dieses Beschützen, dieses Planen, dieses ‚Ich weiß, was gut für dich ist‘…“
Sie verstummt wieder.
Kian nickt nur, kein Wort des Mitleids, kein übertriebener Kommentar. Nur stilles Zuhören.
„Irgendwann war nichts mehr übrig von mir,“ sagt sie nach einer Weile, kaum hörbar. „Nur noch das, was er wollte. Die Frau, die er auf Fotos zeigen konnte. Die still lächelt, wenn andere hinschauen.“
Kian sieht sie an, und in seinem Blick liegt nichts als Verständnis.
„Und heute,“ sagt er leise, „hast du aufgehört, still zu lächeln.“
Elysia schließt die Augen, atmet tief durch. Ein Zittern läuft über ihre Lippen – kein Weinen, eher eine Mischung aus Erleichterung und Erschöpfung.
„Ich weiß nicht, was ich jetzt tun soll,“ sagt sie schließlich.
„Du musst nichts tun,“ antwortet er ruhig. „Manchmal reicht’s, einfach da zu sein. Einen Moment lang du selbst zu sein, ohne Angst davor, was das auslöst.“
Sie öffnet die Augen, sieht ihn an – wirklich an. Die braunen Augen, in denen keine Forderung liegt, nur Wärme.
„Warum tust du das?“ fragt sie plötzlich. „Warum hilfst du mir, obwohl du mich kaum kennst?“
Kian lächelt leicht, ein schiefes, ehrliches Lächeln.
„Weil du aussiehst, als hätte dir schon lange niemand mehr zugehört.“
Ein langer Moment vergeht. Dann lehnt Elysia sich zurück, das Glas noch immer in den Händen, und zum ersten Mal seit Langem wirkt sie – ruhig. Nicht sicher. Aber ruhiger.
Kian blickt zum Fenster, sieht hinaus. Der Himmel spiegelt sich golden im Wasser, und auf der anderen Seite, kaum sichtbar hinter den Bäumen, kann man ihr Haus erkennen. Er dreht sich zu ihr um.
„Du kannst hierbleiben, wenn du willst,“ sagt er ruhig, fast beiläufig, als würde er über das Wetter sprechen.
Elysia hebt den Kopf. „Wie bitte?“
„Ich hab ein Gästezimmer,“ fährt er fort, mit einem leichten Lächeln. „Nicht groß, aber gemütlich. Und ehrlich gesagt, wäre mir wohler, wenn du nicht allein wärst.“
Sie sieht ihn an, überrascht, unsicher.
„Ich… das ist lieb, aber das geht nicht,“ sagt sie leise. „Ich wohne direkt da hinten. Von hier aus kann man mein Haus sehen.“
Sie deutet mit dem Kopf zum Fenster, wo in der Ferne die Dächer der Villa zwischen den Bäumen hervorschimmern.
Kian nickt langsam. „Ja, ich weiß.“
„Wenn er merkt, dass ich nicht zu Hause bin…“
„Dann weiß er’s sowieso schon,“ sagt er ruhig, aber ohne Härte.
Elysia senkt den Blick, spielt nervös mit dem Rand ihres Ärmels.
„Ich will dich nicht in etwas hineinziehen, das dich nichts angeht.“
„Zu spät,“ sagt Kian mit einem leisen Schmunzeln. „Ich steh schon mittendrin. Und ehrlich gesagt, hab ich Schlimmeres überlebt als einen wütenden Ehemann mit zu viel Geld.“
Ein winziges Lächeln huscht über ihre Lippen. „Du nimmst das ziemlich leicht.“
„Nein,“ antwortet er ruhig. „Aber ich weiß, wann man einen Menschen einfach nicht allein lassen sollte.“
Er sieht kurz auf die Einkaufstüten, die noch immer neben der Tür stehen.
„Und Kleidung hast du ja jetzt genug.“
Elysia folgt seinem Blick, ein leises, fast verlegenes Lächeln breitet sich auf ihrem Gesicht aus.
„Stimmt,“ murmelt sie. „Ich war ein bisschen übermütig.“
„Genau richtig übermütig,“ korrigiert er. „Das steht dir.“
Sie sieht ihn einen Moment lang an – wirklich an. Da ist keine Spur von Mitleid in seinem Blick. Nur diese ruhige, ehrliche Wärme, die sie so selten erlebt hat.
„Also?“ fragt er leise. „Bleibst du?“
Elysia zögert. Ihr Verstand sagt Nein – dass das dumm ist, zu riskant, zu nah.
Aber ihr Herz… fühlt sich hier sicher. Zum ersten Mal seit Jahren.
„Nur für heute Nacht,“ sagt sie schließlich, fast flüsternd.
Kian nickt. „So fängt’s meistens an.“
Er grinst leicht, und zum ersten Mal seit Tagen muss sie wirklich lachen – leise, echt, befreiend. Ein Lachen, das sich anfühlt wie der erste Atemzug nach einem langen Tauchgang.
Das Arbeitszimmer gleicht einem Schlachtfeld. Ein Glas liegt in Scherben auf dem Boden, Kaffeeflecken ziehen dunkle Schlieren über den Teppich. Valerian steht mitten im Raum, das Telefon am Ohr, die freie Hand zu einer Faust geballt.
„Nein, ich will keine Entschuldigungen!“ brüllt er in den Hörer. „Ich will Ergebnisse!“ Er geht im Kreis, die Schritte hart und schnell. „Sie kann nicht weit sein. Die Stadt ist winzig! Sie war im Café an der Hauptstraße, und von dort kann sie nicht einfach verschwinden!“ Kurzes Schweigen, dann zischt er: „Dann suchen Sie weiter! Jeden Park, jede Straße, jedes verdammte Hotel – und hören Sie mir gut zu: Wenn Sie ohne sie zurückkommen, brauchen Sie gar nicht mehr zu erscheinen.“
Er legt auf, zuckt, als das Telefon gegen die Tischkante kracht. Ein zweites Glas fällt, diesmal absichtlich.
Frau Schubert, die Haushälterin, lugt vorsichtig aus dem Flur, doch als er sich abrupt umdreht, zieht sie sich sofort wieder zurück. Valerian atmet schwer, stützt sich auf den Schreibtisch. Sein Spiegelbild im Fenster sieht ihn an – verzerrt, unruhig, gehetzt.
Sie ist meine Frau.
Er flüstert es, als müsste er sich selbst daran erinnern. „Meine Frau,“ wiederholt er lauter, mit bebender Stimme. „Sie gehört hierher. Zu mir. Das ist ihr Platz.“ Er greift erneut zum Telefon, wählt hastig eine Nummer.
„Müller? Noch ein Team. Sofort. Ich will sie finden. Nein, nicht morgen, heute Nacht! Sie wissen, wie sie aussieht. Blondes Haar, schlank, Jeans, schwarzes Shirt. Und wenn sie nicht freiwillig mitkommt, dann sorgt dafür, dass sie es tut!“
Er hört das zustimmende „Ja, Herr Auberon“, dann legt er wieder auf. Sein Atem geht schnell. Er streicht sich über die Stirn, als wolle er seine Gedanken ordnen – doch die Unruhe in ihm wächst nur.
„Und der Mann,“ murmelt er, halblaut, „dieser Fremde…“ Er tritt ans Fenster, starrt hinaus in die Dunkelheit. „Wer auch immer er ist – er hat sich in etwas eingemischt, das ihn nichts angeht.“ Ein lautes Krachen – diesmal der Obstschale, die er gegen die Wand schleudert. Die Scherben prallen ab, verteilen sich über den Boden.
Valerian steht da, keuchend, die Hände zitternd, der Blick leer. Dann richtet er sich auf, atmet tief durch, zwingt sich in die alte, kalte Ruhe zurück. Sein Ton, als er den nächsten Anruf tätigt, ist ruhig, fast höflich.
„Schickt mir den Wagen. Ich fahre selbst raus.“ Kurze Pause. „Und Müller – bringen Sie Ersatzkleidung. Ich will, dass alles perfekt ist, wenn sie zurückkommt.“ Dann legt er auf.
Sein Spiegelbild im Glas lächelt kalt zurück.
Er lächelt mit.
„Niemand nimmt mir meine Frau.“