Falkensee - Kapitel 6



Kian führt Elysia die Treppe hinauf. Das Holz knarrt leise unter ihren Schritten.


„Hier oben ist es noch ein bisschen chaotisch“, sagt er entschuldigend und schiebt einen Karton mit dem Fuß beiseite.


Elysia lächelt. „Das nennt man wohl Einleben.“

 

Er öffnet eine Tür. „Das ist das Gästezimmer. Nicht groß, aber du hast Ruhe.“


Ein helles Bett, ein kleiner Tisch am Fenster, der Blick hinaus auf den See. Auf dem Nachttisch steht eine Lampe, daneben ein Stapel Bücher.

 

„Und hier drüben das Bad.“ Er hält ihr die Tür auf, dann – geht er zu einem Schrank und öffnet den. Handtücher, Waschlappen und Duschgel. Elysia lächelt und nickt. Dann geht er weiter ins Schlafzimmer. Er öffnet den Kleiderschrank und reicht ihr ein schwarzes T-Shirt. „Für heute Nacht, falls du nichts anderes magst. Es ist… äh, sauber.“


Sie nimmt es und lächelt leise. „Danke.“

 

Als er sich umdreht, wandert ihr Blick kurz durch das Schlafzimmer: dunkle Wände, ein großes Bett, klar und schlicht eingerichtet, aber mit Wärme. Schwarz, Grau, ein wenig Holz – wie sein Blick: ruhig, geerdet.

 

Kian lässt ihr einen Moment Ruhe - geht nach unten in die Küche. Elysia setzt sich auf das Bett, blickt aus dem Fenster und atmet tief durch. Einen Moment kreisen ihre Gedanken um den heutigen Tag. Sie atmet tief durch, legt das T-Shirt auf das Bett und verlässt das Zimmer. 

 

Unten in der Küche klappern Töpfe. Elysia hört das leise Summen des Radios, das durch die offene Treppe klingt. Sie streicht sich das Haar aus dem Gesicht, atmet tief ein und geht langsam nach unten. Im Wohnzimmer fällt das Licht der tiefstehenden Sonne durch die breiten Fenster.


Kian steht am Herd, das Hemd locker über die Hose fallend, konzentriert und entspannt zugleich.


„Ich hoffe, du hast nichts gegen Pasta mit Gemüse und zu viel Knoblauch“, ruft er ohne sich umzudrehen.


„Im Gegenteil“, antwortet sie und lächelt.

 

Sie lässt sich auf das Sofa sinken. Der See draußen liegt still, das Licht tanzt auf dem Wasser. Für einen Moment ist alles ruhig. Dann bemerkt sie eine Bewegung draußen auf der Straße – ein Wagen, der langsam vorbeigleitet. Nichts Auffälliges, nur ein dunkles Auto im letzten Abendlicht.


Elysia zieht unwillkürlich die Knie an sich, hält den Blick einen Moment länger als nötig.

 

Kian dreht sich um. „Alles gut?“


„Ja…“, sagt sie nach einer Sekunde. „Ich glaube schon.“

 

Er nickt, ohne weiter zu fragen, und stellt zwei Teller auf den Tisch. Das Radio spielt eine leise Melodie und Kian summt mit. Langsam weicht die Anspannung aus ihren Schultern, ersetzt durch den Duft von Basilikum und die seltsame, unerwartete Wärme dieses Ortes.

 

Das Essen duftet nach frischen Kräutern, als Kian zwei Teller auf den Couchtisch stellt. Er setzt sich neben Elysia, aber nicht zu nah – ein Abstand, der ihr Raum lässt.

 

„Ich bin kein großer Koch,“ sagt er mit einem kleinen Lächeln, „aber ich kann ganz gut improvisieren.“


„Dann sind wir schon zwei,“ antwortet sie und lächelt zurück.

 

Sie essen schweigend, aber die Stille ist angenehm. Nur das Klingen des Bestecks und das leise Radio.


Manchmal treffen sich ihre Blicke, kurz, zufällig – und doch ist jedes dieser kleinen Augenblicke länger, als es sein dürfte. Nach dem Essen räumt Kian ab, während Elysia auf die Terrasse tritt. Der Himmel hat die Farbe von Pfirsich und Dämmerung, die Oberfläche des Wassers liegt ruhig, nur manchmal kräuselt sie sich im Wind. Ein Entenpaar zieht gemächlich seine Bahnen.

 

Kian kommt mit zwei Gläsern zurück. „Holundersaft. Kein Wein, ich dachte, du willst heute lieber klar bleiben.“


„Danke.“ Sie nimmt das Glas, ihre Finger berühren seine.

 

„So ruhig hier,“ sagt sie leise.


„Deshalb bin ich hergezogen.“ Er lehnt sich gegen das Geländer, schaut in die Weite. „Nach einer Weile fängt man an, Stille zu mögen.“

 

„Ich hab Stille immer gehasst,“ gesteht sie. „Zu Hause war sie nur ein anderes Wort für Schweigen.“


„Und heute?“


Sie sieht über den See. „Heute klingt sie zum ersten Mal nicht leer.“

 

Kian sagt nichts dazu. Er lässt ihr den Moment, wie man jemandem Raum lässt, um atmen zu können. Eine Weile stehen sie so, nebeneinander, während die Sonne hinter den Bäumen versinkt. Als sie sich endlich umdreht, sieht sie in sein Gesicht – dieses offene, ehrliche Gesicht, das sie irgendwie beruhigt.

 

„Danke,“ flüstert sie.


„Wofür?“


„Für… alles.“


„Ich hab gar nicht so viel getan.“


„Doch,“ sagt sie und lächelt schwach. „Du hast mir zugehört. Das ist mehr, als die meisten tun.“

 

Ein leises Lächeln huscht über seine Lippen. „Dann lass uns das als Anfang sehen.“

 

Elysia nickt. Der Wind spielt mit einer Strähne ihres Haares, und sie lässt ihn gewähren. Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlt sie sich nicht beobachtet, nicht bewertet, nicht gefangen – nur da, in diesem Augenblick.

 

Die Sonne ist untergegangen, und über dem See liegt das silbrige Schimmern des Mondes. Im Wohnzimmer brennen nur ein paar kleine Lampen, ihr Licht spiegelt sich in den Fenstern.


Kian hat den Tisch abgeräumt; nun sitzen sie wieder auf dem Sofa, jeder mit einem Glas Holundersaft in der Hand.

 

„Man merkt, dass du hier wohnst, um zu atmen,“ sagt Elysia und sieht sich um.

„Alles ist so klar. Kein Prunk, keine überflüssigen Dinge.“


Kian lacht leise. „Wenn man allein anfängt, merkt man schnell, was man wirklich braucht. Und was nicht.“

 

Sie lächelt, dreht das Glas in den Fingern. „Ich glaube, ich hab das vergessen. Wie das ist – nur das zu haben, was man mag, nicht das, was man zeigen soll.“


„Dann hast du’s heute wiedergefunden.“

 

Einen Moment schweigen sie. 

 

„Ich hab Angst,“ sagt sie plötzlich. „Nicht vor ihm… vielleicht eher davor, was jetzt passiert. Ich weiß gar nicht, wer ich ohne all das bin.“


„Das findest du raus,“ antwortet Kian. „Und du musst es nicht allein tun.“

 

Sie sieht ihn an, überrascht von der Selbstverständlichkeit, mit der er das sagt.
„Warum bist du eigentlich hergezogen?“ fragt sie.


Er lehnt sich zurück. „Ein Neuanfang. Ein paar Dinge liefen schief. Ich dachte, vielleicht ist’s einfacher, wenn man die Welt mal von einem ruhigeren Ort aus anschaut.“


„Und?“


„Noch weiß ich’s nicht,“ sagt er mit einem kleinen Grinsen. „Aber es fühlt sich richtig an, hier zu sein.“

 

Sie nickt, sieht wieder hinaus in die Nacht. Das Licht des Mondes bricht sich auf dem Wasser, in der Ferne glitzern die Lichter der Stadt. Dann – ein leises Summen, Scheinwerfer, die kurz den Raum erhellen. Ein Wagen fährt langsam die Straße entlang, das Motorengeräusch kaum hörbar.

 

Elysia verkrampft die Finger um ihr Glas.


Kian bemerkt es sofort, folgt ihrem Blick.


Das Auto gleitet gemächlich vorbei, ohne anzuhalten, verschwindet hinter den Bäumen.

 

„Wahrscheinlich ein Nachbar,“ sagt er ruhig. 


Elysia nickt, aber ihre Schultern bleiben angespannt.


„Ich weiß,“ flüstert sie, „aber jedes Mal… zieht sich etwas in mir zusammen.“


Kian stellt das Glas beiseite. „Dann bleib heute einfach hier. Kein Grund, das Risiko einzugehen, dass du dich wieder unruhig fühlst.“

 

Sie sieht ihn an, ihre Augen müde, aber weich. „Ich bleibe. Nur heute.“


„Nur heute,“ wiederholt er leise.

 

Eine Weile sprechen sie noch über kleine Dinge – Lieblingsessen, Bücher, Reisen, die sie nie gemacht haben - aber unbedingt noch machen wollen. Je länger sie reden, desto leichter wird die Stimmung.


Schließlich steht sie auf, nimmt ihr Glas und sagt fast flüsternd: „Gute Nacht, Kian.“


„Gute Nacht, Elysia.“

 

Als sie die Treppe hinaufgeht, bleibt er kurz im Wohnzimmer stehen. Durch das Fenster sieht er wieder hinaus in die Dunkelheit – der See liegt still, kein Licht bewegt sich mehr auf der Straße. Und doch bleibt er noch einen Moment am Fenster, einfach um sicher zu sein.


Die Straßen liegen still unter dem fahlen Licht der Laternen.
Valerians Wagen gleitet langsam durch die schmalen Gassen von Falkensee, die Scheinwerfer werfen helle Kegel auf das Pflaster. Er hält das Lenkrad fest umklammert, die Fingerknöchel weiß. Seit Stunden fährt er im Kreis.
Links in die Wohnstraße, rechts wieder hinaus, über die Brücke, zurück in die Stadtmitte. Immer dieselben Wege. Immer dieselbe Leere.

 

Ein Pärchen kommt ihm entgegen, Hand in Hand, lacht über irgendetwas. Er bremst leicht, lässt den Blick über sie gleiten – nicht sie.


„Verdammt,“ zischt er. „Schon wieder nicht.“

 

Der Motor schnurrt gleichmäßig, aber in ihm selbst ist nichts gleichmäßig mehr.


„Sie kann nicht einfach verschwinden,“ murmelt er, fast tonlos. „Nicht aus meinem Leben.“

 

Ein weiterer Wagen fährt an ihm vorbei, der Fahrer hupt kurz, weil Valerian zu weit in der Mitte steht. Er reagiert nicht. Seine Gedanken rasen.

 

Wo bist du, Elysia?
Was hast du vor?

 

Er fährt weiter, an Schaufenstern vorbei, deren Licht längst erloschen ist.
Vor einem Café bleibt er kurz stehen. Der Platz ist leer. Nur ein paar verstreute Stühle, die Kellner haben längst geschlossen. Er schlägt die Hand gegen das Lenkrad.


„Du willst mich provozieren, ja? Willst, dass ich dich suche. Ich tu’s ja. Zufrieden?“

 

Aber die Antwort bleibt aus. Nur das Tropfen des Regens auf der Windschutzscheibe. Er fährt weiter, langsam, methodisch. Jedes Mal, wenn er in der Ferne eine Gestalt sieht – blondes Haar, dunkle Kleidung – verlangsamt er, beobachtet, flucht, wenn sich herausstellt, dass es nicht sie ist. Die Stunden vergehen.


Das Benzin neigt sich dem Ende zu, aber die Wut treibt ihn weiter.
Er hasst die Hilflosigkeit, hasst den Gedanken, dass sie irgendwo sein könnte, wo er keinen Zutritt hat.

 

„Du kommst zurück,“ murmelt er heiser. „Wie immer.“

 

Doch tief in ihm, in einer Ecke, die er nicht hören will, flüstert etwas anderes.


Vielleicht nicht dieses Mal.

 

Er ignoriert den Gedanken, fährt weiter, in die Nacht hinein.
Der Motor ist das Einzige, was noch gleichmäßig klingt in seiner Welt.

 

Es ist weit nach Mitternacht, als Valerian die Einfahrt zu seinem Haus hinauffährt. Die Reifen rollen langsam über den Kies, das Licht der Scheinwerfer streift die weißen Mauern. Im Haus ist kein Licht zu sehen.

Er schaltet den Motor aus. Der Wagen verstummt, nur das leise Knacken des abkühlenden Metalls bleibt. Für einen Moment sitzt er einfach da, die Hände noch am Lenkrad, der Blick leer.

 

Das Display seines Telefons blinkt. Vier neue Nachrichten – alle von seinen Fahrern. Er öffnet sie nacheinander.

 

„Keine Spur.“
„Wir haben alle Orte überprüft.“
„Niemand hat sie gesehen.“
„Warten auf weitere Anweisungen.“

 

Valerian steckt das Handy ein, starrt hinaus in die Dunkelheit des Gartens. Kein Geräusch, kein Zeichen von ihr. Nur das leise Rascheln der Blätter im Wind.

Er steigt aus. Die Tür fällt hinter ihm ins Schloss. Er geht ins Haus. Im Flur riecht es nach Reinigungsmittel und kaltem Essen.

 

Frau Schubert hat still gearbeitet – die Scherben sind verschwunden, der Boden ist trocken gewischt. Doch die Ordnung fühlt sich künstlich an, wie eine Kulisse. Im Esszimmer steht der Tisch gedeckt, das Abendessen unberührt.
Zwei Teller, zwei Gläser. Er bleibt im Türrahmen stehen, sieht auf das perfekt arrangierte Mahl, das auf niemanden mehr wartet.

 

„Sie kommt nicht,“ murmelt er.


Seine Stimme klingt fremd in der Stille. Er geht ein paar Schritte in den Raum, zieht den Stuhl zurück, setzt sich. Die Hände ruhen auf der Tischplatte, reglos.
Sekunden, die sich wie Minuten anfühlen. In seinem Kopf kreisen die Gedanken.


Was soll er tun?


Morgen – die Presse, die Geschäftspartner. Wenn jemand erfährt, dass Elysia einfach gegangen ist… Ein bitteres Lächeln huscht über sein Gesicht.


„Nein,“ flüstert er. „Das lasse ich nicht zu.“

 

Er greift zum Glas Wasser vor sich, nimmt einen Schluck, stellt es wieder ab. Das Essen rührt er nicht an. Der Hunger ist verschwunden. Sein Blick wandert zum großen Fenster, hinaus in die Nacht. Irgendwo da draußen ist sie. Und er weiß nicht, ob sie jemals zurückkommt.

 

Langsam lehnt er sich zurück, schließt für einen Moment die Augen. Aber Ruhe findet er keine. Nicht mehr.

 

Das Haus liegt still. Draußen weht der Wind über die Terrasse, die Äste des alten Ahornbaums werfen schwankende Schatten an die Wand. Im Inneren herrscht vollkommene Ordnung – und doch wirkt alles falsch. Valerian sitzt im Arbeitszimmer, die Jacke über der Stuhllehne, die Hemdsärmel hochgekrempelt. Vor ihm ein halb geleertes Glas Wasser, daneben das Telefon, das seit Stunden stumm bleibt. 

 

Er hat versucht zu schlafen. Zwei, vielleicht drei Mal ist er die Treppe hinaufgegangen, nur um nach wenigen Minuten wieder herunterzukommen.
Im Schlafzimmer roch alles nach ihr. Nach Parfum, nach vertrauter Stille. Er hält das nicht aus.

 

Jetzt sitzt er wieder hier, vor dem großen Fenster, sieht hinaus in die Nacht. Das Licht des Mondes spiegelt sich auf dem Parkett. Sein Spiegelbild sieht müde aus, aber das will er nicht wahrhaben. Er greift nach dem Telefon, überlegt, jemanden anzurufen – sie anzurufen, doch sie hat ihr Telefon ausgeschaltet. Seine Fahrer, den Sicherheitschef, irgendwen. Dann legt er es wieder hin.


Was sollten sie ihm noch sagen, was er nicht schon weiß? Er streicht sich über das Gesicht, reibt die Stirn Die Uhr an der Wand zeigt halb drei. Er zwingt sich, ruhig zu atmen, aber die Gedanken lassen sich nicht bändigen. Wie konnte sie einfach gehen? Nach all den Jahren, nach allem, was er ihr gegeben hat.

 

Ich habe ihr alles ermöglicht, denkt er. Ein Haus, ein Leben ohne Sorgen. Und sie läuft davon, als wäre ich… das Problem.

 

Das Wort bleibt hängen.


Das Problem.

 

Er lehnt sich zurück, sieht an die Decke. Ein Schatten zieht über die Wände – das Licht eines vorbeifahrenden Autos. Für einen Moment wirkt es, als würde das Haus selbst atmen. Er steht auf, geht ans Fenster. Die Nacht ist still, die Straße leer. In der Ferne glitzert der See. Er weiß, dass sie irgendwo dort das draußen ist. Er fühlt es.

 

„Du wirst zurückkommen,“ sagt er leise.


Aber seine Stimme klingt nicht mehr so sicher wie noch am Nachmittag.

 

Die Nacht zieht sich endlos. Er bleibt wach, sitzt wieder, steht auf, geht ein paar Schritte, setzt sich erneut. Irgendwann, kurz vor Morgengrauen, sitzt er noch immer da – die Hände verschränkt, der Blick leer auf den ersten Schimmer des Tages gerichtet. Er hat nicht geschlafen. Nicht einmal die Augen geschlossen.

 

Und während draußen die Vögel zu singen beginnen, weiß Valerian, dass etwas in ihm zum ersten Mal wirklich Angst hat. Nicht vor dem Verlust ihrer Zuneigung – sondern vor der Möglichkeit, dass sie wirklich nie wieder zurückkommt.


Der Himmel über dem See ist noch blass, als Kian erwacht.
Ein milchiges Licht liegt über dem Wasser, und durch das geöffnete Fenster dringt das leise zwitschern der Vögel. Er bleibt einen Moment liegen, hört den Vögeln noch einen Moment zu. Dann steht er auf, vorsichtig, um keine Geräusche zu machen. Die Dielen knarren kaum, als er ins Bad geht. 


Das Wasser unter der Dusche ist warm, und der Dampf füllt den kleinen Raum – für einen Moment scheint alles normal, alltäglich. Doch als er zurück ins Schlafzimmer geht und das Licht durch die Vorhänge fällt, denkt er unwillkürlich daran, dass nebenan jemand schläft. Jemand, der gestern noch ein Fremder war und jetzt unter seinem Dach liegt. Er zieht Jeans und ein graues Hemd an, kämmt sich durch das Haar, streift die Ärmel hoch.


In der Küche stellt er die Kaffeemaschine an, das vertraute Klicken und Brummen wirkt beruhigend. Der Duft füllt den Raum, vermischt sich mit seinem frischgeduschten Geruch. Er deckt zwei Tassen auf den Tisch, stellt einen Brotkorb mit Toast, etwas Butter, ein Glas  mit Marmelade dazu. Ein einfaches Frühstück, aber mit Bedacht. Er weiß nicht, ob sie Hunger haben wird, ob sie überhaupt hier bleiben möchte. Aber es fühlt sich richtig an, es trotzdem zu tun.

 

Kurz bevor er gehen muss, nimmt er seine Jacke vom Haken und bleibt an der Treppe stehen. Oben ist es still. Er zögert, dann steigt er die Stufen hinauf. Die Tür zum Gästezimmer steht einen Spalt offen. Er tritt näher, schiebt sie leise ein Stück auf. Das Licht fällt sanft durch die halb geschlossenen Vorhänge.


Elysia liegt auf der Seite, das dunkle T-Shirt viel zu groß für sie, eine Hand unter der Wange, das Haar lose über das Kissen gefallen. Ihr Atem ist ruhig, gleichmäßig.

 

Kian bleibt im Türrahmen stehen.
Er weiß, dass er gehen sollte, doch sein Blick hält einen Moment länger als beabsichtigt. In dieser Stille wird ihm bewusst, wie schön sie ist. Nicht auf die makellose, glatte Art, die Fotos zeigen – sondern still, echt, verletzlich. Er lächelt unmerklich, zieht die Tür behutsam wieder zu.

 

Unten im Flur nimmt er seine Tasche, trinkt einen letzten Schluck Kaffee und verlässt das Haus. Draußen färbt die Sonne die Wolken in helles Gold.

Ein neuer Tag beginnt, leise und unsicher – aber mit dem Gefühl, dass etwas anders geworden ist.

 

Ein heller Streifen Sonnenlicht schleicht über die Wand und kitzelt sie wach.
Elysia blinzelt, zieht die Decke ein Stück höher und braucht einen Moment, um zu begreifen, wo sie ist. Das Gästezimmer. Das Haus am See. Kians Haus. Die Stille ist ungewohnt, aber friedlich. Kein Weckerklingeln, keine schweren Schritte, keine Stimme, die nach ihr ruft.


Nur das Zwitschern der Vögel draußen und das sanfte Plätschern der Wellen, das durch das geöffnete Fenster dringt. Sie richtet sich langsam auf, streicht sich das Haar aus dem Gesicht.  Neben der Tür steht noch ihre Einkaufstüte, und für einen kurzen Moment muss sie über sich selbst lächeln – darüber, dass sie tatsächlich in Jeans und Turnschuhen hier angekommen ist, als wäre sie jemand ganz anderes.

 

Sie steht auf, barfuß, und öffnet vorsichtig die Tür.
Im Flur riecht es nach Kaffee. Dieser warme, süße Duft zieht sie wie von selbst die Treppe hinunter. In der Küche fällt das Sonnenlicht durch die breiten Fenster, glitzert auf der Arbeitsplatte. Auf dem Tisch stehen zwei Tassen, eine benutzte von Kian und ihre.  Daneben Brot, Butter, Marmelade – schlicht, liebevoll angerichtet. Ein Zettel liegt neben dem Teller. Seine Schrift ist klar, gerade, mit ruhigen Linien:

 

Musste zur Arbeit. Kaffee ist frisch. Nimm dir Zeit.
– K.

 

Elysia hält den Zettel einen Moment in der Hand, als wäre er etwas Kostbares.
Ein einfacher Satz – aber für sie ist er mehr als das. Jemand hat an sie gedacht. Ohne Grund, ohne Pflicht. Einfach so. Sie setzt sich, gießt sich Kaffee ein und nimmt den ersten Schluck. Er ist stark, genau richtig. Draußen funkelt der See, der Himmel ist klar, und für einen Augenblick fühlt sie sich so frei, dass es fast weh tut.

 

Sie isst langsam, in kleinen Bissen, als wolle sie diesen Moment festhalten. Den Geschmack, das Licht, das Gefühl, dass niemand etwas von ihr erwartet. Als sie aufblickt, fällt ihr Blick aus dem Fenster. Das Wasser glitzert, die Welt draußen erwacht – und Elysia lächelt. Ein echtes Lächeln. Kein höfliches, kein geübtes.

Ein Lächeln, das aus dem Innersten kommt.

 

Der Kaffee ist fast leer, als Elysia den Blick auf ihre Handtasche richtet.
Sie liegt auf dem Stuhl neben ihr, unscheinbar, fast harmlos. Doch sie weiß, dass das, was darin liegt, ihr die Ruhe rauben kann. Ein paar Sekunden zögert sie, dann zieht sie das Handy heraus. Der Bildschirm ist dunkel – sie hatte es gestern ausgeschaltet, noch bevor sie den See erreicht hatte. Ein kleiner Moment von Kontrolle, ein Stück Freiheit.

 

Jetzt drückt sie den Einschaltknopf. Das Display flackert auf, das vertraute Logo erscheint, dann vibriert das Gerät in ihrer Hand. Mehrmals. Noch einmal.
Dann hört es nicht mehr auf. Sie sieht zu, wie die Zahlen auf dem Bildschirm erscheinen:

 

56 Anrufe in Abwesenheit.
15 neue Nachrichten.

 

Und hinter jedem Eintrag derselbe Name: Valerian.

 

Elysia schließt für einen Moment die Augen. Der Geschmack von Kaffee wird bitter auf ihrer Zunge. Die Sonne, die eben noch warm auf ihre Haut fiel, fühlt sich plötzlich kalt an. Sie tippt auf die erste Nachricht, obwohl sie weiß, dass sie es besser lassen sollte. Ein einziger Satz füllt den Bildschirm.

 

Ich hoffe, du weißt, was du da tust.

 

Kurz, sachlich. Und trotzdem jagt es ihr einen Schauer über den Rücken.
Nicht wegen der Worte selbst – sondern wegen des Tons. Sie legt das Handy beiseite, atmet tief durch. Doch es vibriert erneut.
Eine weitere Nachricht, diesmal nur ein Wort:

 

Elysia.

 

Sie legt die Hand darauf, als wolle sie es zum Schweigen bringen. Der See draußen glitzert, die Luft ist klar, alles wirkt friedlich – und doch sitzt da etwas in ihr, das langsam wieder wach wird: Angst, Unruhe, Erinnerung. Sie schließt die Augen, atmet lange aus.

 

Dann schaltet sie das Handy wieder aus und legt es mit der Rückseite nach unten auf den Tisch.

 

„Nicht heute,“ flüstert sie. „Nicht jetzt.“