Falkensee - Kapitel 7
Das Wasser rauscht gleichmäßig, hüllt sie ein wie ein dünner Schleier. Dampf steigt auf, beschlägt die Glaswand der Dusche, und für einen Moment ist die Welt draußen nur ein fernes Rauschen. Elysia schließt die Augen. Der warme Strahl trifft ihre Schultern, läuft über ihren Nacken, über die Anspannung, die sich in den letzten Tagen dort festgesetzt hat.
Mit jedem Atemzug versucht sie, den Druck der letzten Wochen auszuwaschen.
Sie denkt an das Haus auf der anderen Seite des Sees – das Zuhause, das keins mehr ist. An Valerians Anrufe, an die Nachrichten, an die Worte, die in ihrem Kopf nachhallen.
An den Zettel auf dem Frühstückstisch, schlicht und freundlich, geschrieben von jemandem, der nichts von ihr verlangt. Langsam öffnet sie die Augen.
Zwischen Wasser und Dampf wird ihr plötzlich klar, was sie tun muss.
Sie kann hier nicht bleiben – nicht in Falkensee, wo jede Straße, jeder Blick sie an ihn erinnert. Aber sie kann auch nicht zurück.
Nicht dorthin, wo alles begonnen hat. Bleibt nur ein Ort, der sich nach Sicherheit anfühlt: das Haus ihrer Eltern. Weit weg. Ruhig. Ein Ort, an dem sie wieder zu sich selbst finden kann.
Sie lehnt die Stirn kurz gegen das kühle Glas, schließt die Augen, atmet tief durch. Dann dreht sie das Wasser ab. Das Nachhallen des Rauschens klingt wie ein Versprechen. Sie wickelt sich in das Handtuch, tritt in den warmen Dampf des Badezimmers.
Vor dem Spiegel wischt sie mit der Hand über die beschlagene Fläche, sieht ihr eigenes Gesicht – blass, aber entschlossen. Nicht mehr das Bild, das er sehen wollte. Sondern sie selbst.
„Ich fahre zu ihnen,“ flüstert sie. „Ich muss weg von hier.“
Der Entschluss steht. Klar. Einfach. Unumkehrbar.
Das Haus ist still. Nur das Summen des Kühlschranks in der Küche und das ferne Rauschen des Sees füllen die Luft.
Elysia steht im Gästezimmer, das Bett ordentlich gemacht, die Decke glatt gestrichen – so, als wäre sie nie hier gewesen. Sie sieht sich noch einmal um.
Auf dem Stuhl liegt das gefaltete Handtuch, im Bad hängt ihr geliehenes T-Shirt. Überall Spuren eines kurzen, fast unwirklichen Aufatmens.
In der Küche liegt der Zettel auf dem Tisch.
Kians Schrift:
Musste zur Arbeit. Kaffee ist frisch. Nimm dir Zeit.
– K.
Elysia streicht mit den Fingern über das Papier, zögert. Dann greift sie nach dem Stift, der daneben liegt, und schreibt darunter – klein, aber deutlich:
Danke für alles.
– E.
Sie legt den Stift daneben, faltet den Zettel nicht. Er soll ihn genau so finden, wie sie ihn zurücklässt. Ihr Handy bleibt ausgeschaltet in der Tasche. Sie weiß, dass jedes Signal, jeder Anruf, jede Nachricht sie wieder in die Welt zurückholen würde, der sie gerade entkommen ist. Also bleibt es still.
Sie zieht die Jacke über, nimmt ihre Tasche – nur das Nötigste darin – und öffnet leise die Tür. Draußen liegt der Morgen kühl und klar über dem See. Ein leichter Wind kräuselt das Wasser, das Licht der Sonne glitzert auf den Wellen. Für einen Moment steht sie da, sieht zurück zum Haus, zu den großen Fenstern, hinter denen sie gestern Abend noch gelächelt hat. Dann dreht sie sich um. Ihre Schritte sind leise auf dem Kiesweg, der hinauf zur Straße führt.
An der Ecke, dort wo der asphaltierte Weg beginnt, steht die kleine Bushaltestelle. Elysia bleibt davor stehen. Das Glas des Wartehäuschens ist leicht beschlagen, auf der Bank liegt eine vergessene Zeitung.
Sie atmet tief durch, richtet ihre Kleidung. In der Ferne hört sie das Brummen des Motors. Der Bus erscheint zwischen den Bäumen, rollt langsam näher. Für einen Sekundenbruchteil überkommt sie der Gedanke umzukehren – noch einmal zurückzugehen, noch einmal zu reden.
Doch dann sieht sie ihr eigenes Spiegelbild im Glas der Haltestelle: ruhig, entschlossen, lebendig. Der Bus hält. Die Türen öffnen sich mit einem leisen Zischen. Elysia steigt ein, ohne sich umzusehen. Als die Türen sich schließen, bleibt nur noch der Wind, der über den See zieht, und in Kians Küche ein Zettel mit zwei einfachen Sätzen – und all dem, was unausgesprochen zwischen ihnen bleibt.
Das Büro von TechCore Solutions ist schon voll in Bewegung, als Kian ankommt. Monitore flimmern, Kaffeeduft hängt in der Luft, draußen scheint endlich wieder Sonne nach Tagen voller Regen.
Kian setzt sich an seinen Schreibtisch, klappt den Laptop auf – und bemerkt nicht, dass er lächelt. Ben kommt kurz darauf herein, balanciert zwei Pappbecher Kaffee in den Händen und stellt einen vor Kian ab.
„Hier, Lebenselixier. Du siehst aus, als hättest du wenig geschlafen, aber irgendwie… verdächtig gute Laune.“
Kian schmunzelt. „Ist das jetzt ein Kompliment oder eine Diagnose?“
„Kommt drauf an,“ meint Ben, zieht sich einen Stuhl heran und lässt sich rücklings drauffallen. „Erzählst du mir jetzt, was gestern passiert ist? Oder muss ich meine Fantasie bemühen?“
Kian hebt die Augenbrauen. „Ich hab sie nur nach Hause gebracht.“
„Nach Hause?“ Ben blinzelt, spielt den Ahnungslosen. „Du meinst: in dein Haus!“
„Ben,“ sagt Kian und schüttelt grinsend den Kopf, „in mein Haus, ja.“
„Du hast sie wirklich da rausgeholt, als dieser Typ auftauchte. Da darf man wohl nachfragen.“
Kian lehnt sich zurück, nimmt einen Schluck Kaffee.
„Sie war durchgefroren und völlig fertig. Ich hätte sie nicht einfach gehen lassen können.“
Ben nickt langsam, sein Blick wird weicher. „Ja, das war auch richtig so.“
Dann grinst er wieder: „Aber du musst zugeben, das klingt nach dem Anfang einer dieser Geschichten, die man später im Freundeskreis nicht erklären kann.“
Kian lacht leise. „Da gibt’s nichts zu erklären. Ich hab ihr nur ein Gästezimmer gegeben.“
„Mhm.“ Ben nippt am Kaffee. „Und? War sie heute Morgen noch da?“
Kian sieht auf den Bildschirm, tippt irgendetwas, das keine Bedeutung hat.
„War sie, und hoffe später auch noch,“ sagt er schließlich. „Ich hab sie schlafen lassen. Wollte sie nicht wecken.“
Ben beobachtet ihn einen Moment.
„Du magst sie,“ stellt er fest. Kein Spott diesmal, nur leise Erkenntnis.
Kian antwortet nicht sofort, aber sein Lächeln verrät mehr, als Worte es könnten.
„Ich mag, wie angenehm es war, als sie da war,“ sagt er schließlich. „Als würde das Haus zum ersten Mal nach etwas anderem klingen als nach… Leere.“
Ben nickt langsam, lächelt.
„Na, dann wünsch ich dir, dass sie noch da ist, wenn du nach Hause kommst. So wie du strahlst, wäre das sonst echt schade.“
Kian lacht leise. „Du bist unmöglich, Ben.“
„Nein,“ sagt Ben und grinst. „Nur romantisch auf deine Kosten.“
Der Rest des Tages zieht sich in die Länge. Kian arbeitet, aber eigentlich nur mechanisch. Er beantwortet E-Mails, prüft Codezeilen, führt zwei Meetings – und doch wandert sein Blick immer wieder zum Fenster, hinaus in den hellblauen Himmel über Falkensee.
Er erwischt sich mehrmals dabei, wie seine Gedanken abdriften:
Wie Elysia am Tisch saß, die Hände um ihr Glas gelegt, ihr leises Lächeln, das den Raum wärmer machte als jede Lampe. Wie sie gestern Abend in der Küche gestanden hatte, vorsichtig, unsicher, und doch so anwesend wie kaum jemand sonst. Jedes Mal, wenn er sich bei diesen Gedanken ertappt, schüttelt er den Kopf, als könne er sie einfach wegwischen.
„Reiß dich zusammen,“ murmelt er einmal leise vor sich hin, während Ben ihn aus der Ferne verwundert ansieht.
Aber es hilft nichts.
Sobald er wieder kurz Luft holt, ist sie da – dieses Bild, dieser Gedanke. Als der Nachmittag sich neigt, beschließt er, etwas früher Schluss zu machen.
„Muss noch was zu Hause erledigen,“ sagt er beiläufig, als er seine Tasche nimmt.
Ben grinst, will gerade etwas sagen, aber Kian hebt abwehrend die Hand.
„Kein Kommentar.“
„Nicht mal ein kleiner?“
„Nicht mal ein winziger.“
Ben lacht und winkt ab. „Dann fahr, Romeo. Ich halt hier die Stellung.“
Der Himmel färbt sich langsam gold, als Kian den Wagen in die Einfahrt seines Hauses lenkt. Die Sonne spiegelt sich auf dem See, das Licht fällt weich über die Terrasse. Es sieht friedlich aus – so, wie gestern.
Er steigt aus, schließt auf, tritt in die Stille. Sein erster Gedanke: der Geruch.
Kaffee. Sie muss ihn gemacht haben.
„Elysia?“ ruft er leise, mehr aus Gewohnheit als aus Erwartung.
Keine Antwort. Er geht durch den Flur, sieht die Küche – ordentlich, wie immer.
Dann den Tisch. Und dort liegt er: der Zettel. Er bleibt stehen, als hätte ihn jemand an der Bewegung gehindert. Er erkennt ihn sofort – seine eigene Schrift, und darunter, in kleiner, runder Schrift, ein Zusatz:
Danke für alles.
– E.
Kian nimmt den Zettel vorsichtig in die Hand, setzt sich an den Tisch.
Einen Moment lang sieht er nur auf die beiden Zeilen.
So einfach. So endgültig.
Er legt den Zettel langsam zurück, lehnt sich zurück, sieht durch das Fenster hinaus auf den See. Das Licht tanzt auf den Wellen, der Wind kräuselt die Oberfläche. Alles ist ruhig. Und doch fühlt sich die Ruhe plötzlich leer an. Er hatte gehofft, dass sie noch da wäre. Nur, um „Guten Abend“ zu sagen.
Nur, um zu wissen, dass sie sich ein bisschen sicherer fühlt. Jetzt bleibt nur das, was sie zurückgelassen hat:
Ein Dank, auf einem Zettel, der nach Abschied klingt.
Kian atmet tief ein, steht auf, geht ans Fenster. Die Sonne spiegelt sich im Glas, und in seinem Blick liegt etwas, das er nicht erwartet hätte:
Vermissen.
Das Haus ihrer Eltern liegt am Rand eines kleinen Ortes, weit außerhalb der Stadt. Schon als Elysia aus dem Bus steigt, riecht sie die vertraute Luft – nach Flieder, nach feuchtem Gras, nach Kindheit. Die Tür öffnet sich, noch bevor sie klingelt. Ihre Mutter steht im Türrahmen, überrascht nur für einen Atemzug, dann zieht sie Elysia einfach in die Arme.
„Du bist da“, flüstert sie.
Drinnen ist alles wie früher: der Geruch nach frisch gebackenem Brot, und frischen Blumen. Ihr Vater kommt aus dem Wohnzimmer, legt die Zeitung beiseite, sieht sie an – ruhig, abwartend, aber in seinem Blick liegt dieses leise, schützende Wissen, das Eltern haben.
Am Küchentisch, zwischen Kaffee und den ersten vorsichtigen Worten, brechen die letzten Tage aus ihr heraus. Sie spricht stockend, aber ehrlich: von der Enge, von dem Gefühl, nicht mehr sie selbst zu sein, von der Entscheidung, einfach fortzugehen. Ihre Mutter legt die Hand auf ihre. Kein Urteil, kein Erstaunen – nur dieses stille „Ich hab’s gewusst“.
„Wir haben es kommen sehen,“ sagt sie schließlich, leise.
„Du hast dich verändert, sobald du bei ihm warst. Du hast aufgehört zu lachen.“
Elysia nickt, kämpft kurz mit der Stimme.
„Ich kann das nicht mehr. Nicht dieses Leben, das kein eigenes ist.“
Ihr Vater sieht sie lange an, dann sagt er ruhig:
„Du bist hier. Das ist der Anfang. Der Rest findet sich.“
Für einen Moment schweigen sie alle. Der Regen draußen hat aufgehört, ein Sonnenstrahl fällt durch das Fenster auf die Tassen. Elysia sieht hinaus, über den Garten, auf die Bäume, die sich leicht im Wind bewegen.
Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlt sich das Wort Zuhause nicht mehr wie ein Käfig an – sondern wie ein Ort, an dem sie wieder atmen kann.
Das Haus ist still, als Elysia erwacht. Nur das Zwitschern der Vögel dringt durch das offene Fenster. Sie braucht einen Moment, um zu begreifen, wo sie ist – die alte Bettdecke mit dem blassen Blumenmuster, der Geruch nach Kaffee und frischem Brot.
Zuhause.
Sie streckt sich langsam, ein tiefes, erleichtertes Atmen, das sie fast selbst überrascht. Zum ersten Mal seit Wochen hat sie wirklich geschlafen – ohne Albträume, ohne das Gefühl, dass jemand neben ihr wacht, um sie zu kontrollieren.
In der Küche steht ihre Mutter am Herd, der Dampf der Teekanne zieht in feinen Schleiern durch das Licht.
„Guten Morgen, Liebling,“ sagt sie, dreht sich um und lächelt.
Elysia setzt sich an den Tisch, eine Strähne fällt ihr ins Gesicht.
„Ich weiß gar nicht, wann ich zuletzt so ausgeschlafen habe,“ murmelt sie.
„Das sieht man,“ sagt ihre Mutter liebevoll. „Du hast wieder Farbe im Gesicht.“
Sie stellt ihr eine Tasse hin, setzt sich gegenüber.
„Mach heute nichts. Kein Grübeln, kein Planen. Geh ein Stück spazieren, atme. Der Rest kommt später.“
Elysia nickt, schaut hinaus in den Garten. Der Himmel ist hell, die Luft klar, und das Licht auf den Blättern wirkt wie ein Versprechen. Sie nimmt einen Schluck Tee, wärmt die Hände an der Tasse.
„Ich weiß nicht, was jetzt kommt,“ sagt sie leise.
„Musst du auch nicht,“ antwortet ihre Mutter ruhig. „Nicht heute.“
Nach dem Frühstück zieht Elysia eine leichte Jacke an und geht hinaus.
Der Weg führt sie über den alten Gartenpfad, an den Apfelbäumen vorbei, bis zum kleinen Teich, der im Sonnenlicht glitzert.
Sie bleibt stehen, schließt die Augen und hört dem Wind zu, wie er durch die Zweige streicht. Für einen Moment denkt sie an Kian. An seine ruhige Art, an die Wärme in seiner Stimme, an das Gefühl, verstanden zu werden, ohne dass viele Worte nötig waren. Sie weiß nicht, warum sie an ihn denken muss – nur, dass es sich richtig anfühlt.
Ein leises Lächeln huscht über ihre Lippen. Dann atmet sie tief durch, tritt einen Schritt weiter auf den schmalen Pfad, der sich durch die Bäume zieht.
Der Tag ist jung, die Sonne mild. Und irgendwo zwischen Vergangenheit und Zukunft beginnt Elysia, wieder sie selbst zu werden.