Falkensee - Kapitel 18
Der Morgen bricht klar und hell an. Sonnenlicht fällt durch die großen Küchenfenster und spiegelt sich im glänzenden Besteck auf dem gedeckten Tisch. Der Duft von frischem Kaffee, Toast und Erdbeermarmelade liegt in der Luft.
Ein friedlicher, fast zu friedlicher Morgen – wenn da nicht das leise Ziehen in Elysias Brust wäre. Sie sitzt am Tisch, das Kaffeeglas zwischen den Händen, und starrt einen Moment in den Dampf, bevor sie einen kleinen Schluck nimmt.
Ihre Gedanken sind noch halb im Garten der letzten Nacht – das Lachen, die Gespräche, Kians ruhige Stimme im Dunkeln… seine Umarmung. Nur ein kurzer Moment, und doch brennt er sich tief in sie ein.
„Na?“
Hannahs Stimme reißt sie zurück in die Gegenwart. Ihre Freundin grinst über den Kaffeetassenrand hinweg, die Augen funkelnd.
„Du siehst… verdächtig zufrieden aus, meine Liebe.“
Ben lacht leise, während er Butter auf seinen Toast streicht. „‚Verdächtig zufrieden‘? Ich würd sagen: strahlend. Ich hab dich schon lange nicht mehr so gesehen, Elysia.“
Elysia hebt den Blick, merkt sofort, dass sie errötet.
„Ach Quatsch,“ sagt sie hastig und versucht, das Lächeln zu zügeln, das sich ungewollt auf ihre Lippen schleicht.
„Wir haben nur geredet. Ganz harmlos.“
„‚Ganz harmlos‘,“ wiederholt Ben und sieht zu Hannah. „Das sagen sie alle.“
Hannah kichert, stößt ihn leicht mit dem Ellbogen an. „Lass sie doch. Ich find’s schön. Ihr habt euch verstanden, das hat man gemerkt.“
Elysia atmet tief durch, versucht, die Ruhe zu bewahren.
„Es war… schön,“ gibt sie schließlich leise zu. „Ein richtig schöner Abend. Wir haben viel gelacht, geredet, einfach… vergessen, was sonst alles so ist.“
Ihre Stimme wird weicher, fast träumerisch. Doch dann legt sich ein Schatten auf ihr Gesicht. Sie blickt auf den Teller vor sich, auf den unberührten Toast.
Hannah bemerkt es sofort.
„Und heute?“ fragt sie vorsichtig. „Wie fühlst du dich?“
Elysia legt die Hände in den Schoß. „Aufgewühlt,“ sagt sie ehrlich. „Ich versuch’s zu verdrängen, aber… ich fahr gleich zu Valerian. Und egal, wie sehr ich mir einrede, dass es nur um ein paar Kisten und Kleidung geht – es fühlt sich trotzdem an, als müsste ich in ein Leben zurück, das ich hinter mir lassen wollte.“
Ben nickt langsam. „Das kann ich verstehen. Aber du schaffst das, Elysia. Du bist nicht mehr die Frau, die du damals warst.“
„Das sagt Kian auch,“ murmelt sie, fast zu leise, um es zu bemerken.
Hannah lächelt sacht. „Dann scheint er ein kluger Mann zu sein.“
Elysia lächelt gequält, hebt das Glas und nimmt einen Schluck, nur um sich zu beschäftigen.
„Ich will’s einfach hinter mich bringen,“ sagt sie schließlich. „Einmal rein, einpacken, raus. Kein Gespräch, keine Emotionen. Und wenn alles vorbei ist… dann ist’s wirklich vorbei.“
Ben nickt ernst. „Willst du, dass einer von uns mitkommt? Nur zur Sicherheit?“
Elysia schüttelt den Kopf. „Nein, danke. Ich muss das allein schaffen. Das bin ich mir schuldig.“
Hannah sieht sie an, spürt die Entschlossenheit, aber auch die Nervosität in ihrer Stimme.
Sie legt sanft ihre Hand auf Elysias Arm. „Dann versprich mir wenigstens, dass du danach anrufst, ja? Nur kurz. Damit wir wissen, dass alles gut gegangen ist.“
Elysia nickt, lächelt schwach. „Versprochen.“
Ein paar Minuten herrscht Stille. Nur das Klirren von Besteck und das leise Brummen des Kühlschranks sind zu hören. Dann steht Elysia langsam auf, nimmt ihr Geschirr und atmet tief ein.
„Ich mach mich fertig,“ sagt sie leise. „Es wird Zeit.“
Hannah nickt, ihr Blick ist warm, aber besorgt.
„Fahr vorsichtig,“ sagt sie. „Und… denk dran: Du bist frei. Das kann dir keiner mehr nehmen.“
Elysia lächelt, dankbar und traurig zugleich.
„Ich weiß,“ sagt sie. „Aber manchmal braucht man Mut, um Freiheit auszuhalten.“
Dann geht sie die Treppe hinauf, das Licht des Morgens fällt auf ihr helles Haar,
und Hannah und Ben bleiben zurück – beide still, beide hoffend, dass dieser Tag für sie kein Rückschritt wird, sondern der letzte Schritt in ein neues Leben.
Die Sonne steht schon hoch, als Kian zum dritten Mal versucht, denselben Absatz auf dem Bildschirm zu lesen. Vergeblich. Seine Gedanken sind überall, nur nicht bei der Arbeit. Draußen rauscht der Verkehr leise, ein paar Vögel kreisen über den See, und irgendwo im Flur hört man das Summen des Kopierers. Alles wie immer – und doch fühlt es sich für ihn anders an.
Er lehnt sich in seinem Stuhl zurück, die Kaffeetasse in der Hand, die inzwischen längst kalt geworden ist. Sein Blick wandert aus dem Fenster, hinüber in Richtung der Straße, die nach Westen führt.
Er weiß, dass sie zu Valerian muss. Er weiß auch, wie schwer ihr das fällt.
Und genau deshalb lässt ihn das Gefühl nicht los, dass heute irgendetwas passieren könnte.
„Kian?“
Ben steckt den Kopf durch die offene Tür. Es ist Samstag und er weiß, das Kian sich in Arbeit vergräbt, wenn ihn etwas besorgt oder belastet. In der Hand zwei frische Kaffees, sein Gesicht trägt diesen unverbesserlichen Ausdruck, halb spöttisch, halb besorgt.
„Wenn du den Bildschirm noch länger hypnotisierst, wird er dich adoptieren,“ sagt er trocken und stellt ihm einen Becher hin. „Was ist los? Du siehst aus, als hättest du die Nacht durchgemacht.“
Kian zieht ein kurzes, gequältes Lächeln. „Nicht ganz. Aber fast.“
„Lass mich raten – du denkst an Elysia.“
Kian hebt den Blick, sein Gesichtsausdruck verrät alles, was er nicht sagen muss.
„Sie ist jetzt bei ihrem Ex,“ sagt er schließlich, die Stimme ruhig, aber angespannt. „Ihre Sachen holen. Ich… weiß, dass sie stark ist. Trotzdem…“
Ben setzt sich auf den Stuhl gegenüber, nimmt einen Schluck Kaffee. „Du hast ein schlechtes Gefühl?“
„Ja,“ sagt Kian knapp. „Ich hab’s schon, seit sie’s mir erzählt hat. Es ist nur… so verdammt schwer, einfach hier zu sitzen und nichts zu tun.“
„Willst du ehrlich sein?“ fragt Ben. „Ich glaub, du würdest am liebsten hinfahren.“
Kian lacht leise, aber ohne Humor. „Und dann was? Vor dem Haus warten, bis sie wieder rauskommt? Ich will ihr nicht das Gefühl geben, dass ich ihr nachlaufe.“
„Nein,“ sagt Ben ruhig. „Aber ich glaub, du würdest für sie da sein – und das weiß sie auch.“
Kian nickt langsam, blickt wieder aus dem Fenster. Der Himmel ist wolkenlos, die Sonne blendet, aber in ihm tobt ein stiller Sturm.
„Ich hoffe, sie ruft an,“ murmelt er. „Nur kurz. Damit ich weiß, dass alles gut ist.“
Ben lehnt sich zurück, mustert ihn einen Moment, dann lächelt er schmal.
„Ich sag’s dir, Kian – du bist verloren.“
„Wie meinst du das?“
„Na, du redest von ihr, als wäre sie schon längst mehr als eine Freundin.“
Kian öffnet den Mund, will etwas erwidern, doch die Worte bleiben ihm im Hals stecken. Er will widersprechen. Aber er kann nicht.
Also sieht er Ben nur an – schweigend, mit einem Ausdruck, der mehr sagt als alles andere.
„Ich weiß,“ sagt er schließlich leise. „Aber das darf sie nicht wissen. Nicht jetzt. Nicht, solange sie noch in dieser Geschichte feststeckt.“
Ben nickt verständnisvoll. „Dann lass ihr Zeit. Aber – ich denke, sie fühlt ähnlich. Dich hat's erwischt und ich denke, sie auch. Sie kann es vielleicht nur noch nicht zeigen.“
Ein leises, fast trauriges Lächeln huscht über Kians Gesicht.
„Das hat’s schon beim ersten Treffen,“ gibt er leise zu. Und während er an seinem Kaffee nippt, sieht er hinaus in die Ferne – dorthin, wo sie jetzt gerade ist. Er wünscht sich, er könnte mehr tun, als einfach zu warten. Aber manchmal, so weiß er, muss man jemandem den Raum geben, den er braucht,
damit er den Weg zu sich selbst finden kann.
Elysia parkt das Auto am Straßenrand, direkt vor dem schmiedeeisernen Tor, das zum Grundstück führt. Das große Haus liegt still vor ihr, in warmes Vormittagslicht getaucht. Von außen sieht alles aus wie immer – makellos, gepflegt, ruhig. Nur in ihr ist nichts ruhig. Sie legt die Hände ans Lenkrad, atmet tief durch und starrt auf das Gebäude.
Wie oft war sie hierher zurückgekehrt, ohne wirklich anzukommen?
Und jetzt sitzt sie hier – frei, unabhängig – und doch fühlt sich dieses Wiedersehen an, als würde sie eine unsichtbare Schwelle betreten, hinter der ein Teil von ihr geblieben ist.
„Du musst das hinter dich bringen,“ denkt sie. „Nur rein, einpacken, raus.“
Aber ihre Finger zittern leicht, als sie den Motor abstellt. Einen Moment lang schließt sie die Augen, lehnt den Kopf gegen die Sitzlehne und lauscht dem eigenen Herzschlag. Schnell, unruhig, fordernd.
Dann greift sie nach der Handtasche, steigt aus und atmet die warme Luft ein.
Das Tor öffnet sich automatisch, als sie sich nähert – ein vertrautes Geräusch, das sie gleichzeitig tröstet und erschreckt. Der Kies knirscht unter ihren Schritten, als sie den Weg entlanggeht. Alles ist so, wie sie es verlassen hat:
die akkurat geschnittenen Hecken, die weißen Hortensien am Rand, der Springbrunnen, dessen leises Plätschern die Stille füllt. Und doch fühlt sich alles fremd an. Wie eine perfekt erhaltene Kulisse aus einem Leben, das ihr nicht mehr gehört.
Vor der schweren Holztür bleibt sie stehen. Ihr Herz hämmert. Sie hebt die Hand, zögert – und klingelt schließlich. Ein leises Läuten dringt durch das Haus.
Dann Schritte.
Und kurz darauf öffnet sich die Tür. Frau Schubert steht im Eingang – die Haare ordentlich hochgesteckt, die Schürze makellos wie immer. Für einen Moment blinzelt sie ungläubig, dann weiten sich ihre Augen.
„Frau Auberon!“, ruft sie, und in ihrer Stimme liegt ehrliche Freude. Sie legt eine Hand an den Mund, lächelt dann warm. „Oder soll ich wieder Frau von Kaltenthal sagen?“
Elysia lächelt schüchtern. „Elysia reicht völlig, Frau Schubert.“
Die Haushälterin tritt einen Schritt zur Seite. „Kommen Sie rein, Elysia. Ach, was freu ich mich, Sie zu sehen! Es ist so still hier gewesen.“
Elysia zögert kurz, tritt dann über die Schwelle. Der vertraute Duft nach Zedernholz und Jasmin empfängt sie – eine Erinnerung an unzählige Abende, an zu viele unausgesprochene Worte.
„Ich… wollte nur meine Sachen holen,“ sagt sie leise. „Ich hoffe, das ist in Ordnung.“
Frau Schubert nickt sofort, ihre Augen sind freundlich, aber ein Hauch Wehmut liegt darin. „Natürlich, Elysia. Ich helfe Ihnen, wenn Sie möchten.“
„Nein, danke,“ murmelt Elysia. „Ich weiß noch, wo alles ist.“
Die Haushälterin mustert sie einen Moment – die Ruhe in ihrem Blick, die Haltung, die so viel mehr Stärke verrät, als sie früher hatte. Dann legt sie sanft eine Hand auf Elysias Arm.
„Er ist nicht da,“ sagt sie leise. „Er hat gesagt, er müsse in die Stadt. Sie können in Ruhe tun, was Sie müssen.“
Elysia nickt, spürt, wie ein Stück Anspannung von ihr abfällt.
„Danke, Frau Schubert.“
„Wenn Sie etwas brauchen, ich bin in der Küche,“ sagt die Haushälterin und lächelt milde. „Und… es ist schön, Sie wieder hier zu sehen – diesmal mit einem echten Lächeln.“
Elysia nickt dankbar, sieht ihr nach, wie sie verschwindet.
Dann steht sie allein im Flur, inmitten all der Erinnerungen. Das Licht fällt durch die hohen Fenster, trifft den Marmorboden und die alten Fotos an der Wand. Sie sieht sich selbst darauf – lächelnd neben Valerian, in glücklicheren Zeiten. Doch das Lächeln auf dem Bild fühlt sich an, als gehöre es jemand anderem. Mit einem tiefen Atemzug beginnt sie zu gehen – langsam, Schritt für Schritt, bereit, dieses Kapitel ein für alle Mal zu beenden.
Elysia steht für einen Moment im Flur, das Herz klopft in ihrem Hals. Das Haus ist still – zu still. Nur das leise Ticken der großen Standuhr begleitet sie, als sie langsam die Treppe hinaufsteigt. Mit jedem Schritt scheint die Luft dichter zu werden, als würden die Wände die Vergangenheit atmen.
Oben im Flur öffnet sie die Tür zu ihrem früheren Schlafzimmer. Der vertraute Duft von Rosenholz und Parfum liegt noch immer in der Luft, obwohl sie seit Monaten nicht mehr hier war. Das Bett ist ordentlich gemacht, die Vorhänge leicht geöffnet, sodass Sonnenlicht auf den hellen Teppich fällt.
Elysia bleibt stehen.
Ihr Blick fällt auf den Schminktisch – alles steht noch genauso da, wie sie es zurückgelassen hat. Ihr Lieblingsparfum, ein paar Haarnadeln, eine halbvolle Flasche Lotion. Ein kleines, eingerahmtes Foto steht am Rand: sie und Valerian auf einer Gala, elegant, strahlend, makellos. Ein Bild aus einer anderen Zeit.
Langsam geht sie zum Kleiderschrank, öffnet ihn – und dort hängen sie noch immer: die Kleider, die er für sie ausgesucht hat. Perfekte, teure Stoffe in gedeckten Farben. Jedes Stück ein Symbol für die Rolle, die sie spielen sollte.
Sie streicht mit den Fingern über den Stoff eines blauen Kleides, das sie nie gemocht hat.
Dann schüttelt sie den Kopf, holt tief Luft und beginnt, Kisten zu packen.
Schuhe, Kleidung, ein paar Bücher, die ihr wichtig waren. Nichts mehr, das nach „ihm“ aussieht. Nichts, das sie an das Leben erinnert, das sie nicht mehr führen will.
Doch als sie die letzte Schublade öffnet, stockt ihr der Atem.
Darin liegt ein kleines Schmuckkästchen. Sie öffnet es – und sieht den Ehering.
Kalt, glänzend, schwer in der Hand.
Für einen Moment sieht sie ihn einfach nur an.
Dann legt sie ihn ruhig auf den Nachttisch, atmet tief durch – und flüstert fast unhörbar:
„Das war einmal.“
Sie klappt das Kästchen zu, stellt es daneben und dreht sich um. Gerade, als sie die Schranktür schließen will, hört sie das Geräusch. Ein leises Knirschen von Kies draußen vor dem Haus. Ein Motor, der abgestellt wird.
Dann das Klacken einer Autotür.
Elysia erstarrt.
Ein leises Frösteln läuft ihr über den Rücken.
Nein…
Sie geht vorsichtig ans Fenster, zieht die Gardine beiseite – und sieht ihn.
Valerian.
Er steigt gerade aus dem Wagen, trägt ein weißes Hemd, die Ärmel hochgekrempelt, das Gesicht angespannt, die Bewegungen unruhig. Er geht schnellen Schrittes auf das Haus zu.
Elysia weicht vom Fenster zurück, das Herz schlägt wild.
Sie schließt den Schrank leise, greift nach ihrer Tasche und versucht, ruhig zu atmen. Sie hatte gehofft, dass er fortbleibt. Dass sie einfach alles holen, sich verabschieden und für immer gehen könnte.
Doch das Schicksal scheint ihr keine leichten Wege zu gönnen.
Unten fällt die Tür ins Schloss. Seine Schritte hallen durch den Flur.
Und Elysia weiß:
Das Gespräch, das sie vermeiden wollte, wird sie jetzt führen müssen.
Valerian schließt die Haustür mit einem festen Griff. Das vertraute Knarren im Schloss hallt durch die Stille, und sofort erfüllt ihn dieses beklemmende Gefühl – ein Gemisch aus Wut, Erwartung und… etwas, das er selbst kaum benennen kann.
Das erste, was er sieht, ist die Handtasche auf der kleinen Kommode im Flur.
Ihr Geruch hängt in der Luft – dezent, blumig, vertraut.
Sie ist hier.
Sein Puls beschleunigt sich.
„Frau Schubert?“ ruft er in den Flur hinein, und seine Stimme klingt schärfer, als er beabsichtigt.
Die Haushälterin kommt aus der Küche, das Geschirrtuch noch in der Hand.
Sie bleibt an der Tür stehen, mustert ihn ruhig – mit dieser Gelassenheit, die sie nie verliert, auch nicht, wenn er vor Wut bebt.
„Herr Auberon,“ sagt sie leise. „Bitte… verhalten Sie sich ruhig. Frau von Kaltenthal ist nur hier, um ihre Sachen zu holen.“
Valerian hebt das Kinn, die Stirn leicht in Falten gelegt. „Also wissen sie, dass sie hier ist.“
„Natürlich weiß ich das,“ erwidert Frau Schubert ruhig. „Ich habe sie hereingelassen. Und ich bitte Sie inständig – lassen Sie sie in Ruhe. Sie hat genug durchgemacht.“
Er schnaubt leise, ein kurzes, bitteres Lachen. „Genug durchgemacht? Ich bin nicht derjenige, der gegangen ist. Ich hab sie nie weggeschickt!“
„Aber Sie haben sie verloren,“ sagt Frau Schubert leise, mit Nachdruck. „Und das nicht, weil sie weggelaufen ist – sondern weil sie sich in diesem Haus nicht mehr gesehen hat.“
Valerian starrt sie an. Für einen Moment scheint ihm jede Antwort zu fehlen.
Dann wendet er den Blick ab, die Hände zu Fäusten geballt.
„Sie verstehen das nicht, Frau Schubert. Sie… sie gehört hierher. Das ist ihr Zuhause.“
„Nein,“ entgegnet die Haushälterin ruhig. „Es war ihr Zuhause. Jetzt nicht mehr.“
Valerian atmet scharf aus, dreht sich halb von ihr weg, die Kiefer angespannt.
„Ich will nur mit ihr reden,“ sagt er schließlich, leise, fast flehend. „Nur… reden. Ich muss wissen, ob das wirklich endgültig ist.“
„Sie wissen es längst,“ sagt Frau Schubert sanft. „Sie sehen es nur nicht.“
Er wirft ihr einen Blick zu, in dem Zorn und Schmerz unruhig miteinander kämpfen.
„Ich hab sie geliebt,“ sagt er plötzlich, die Stimme brüchig. „Mehr, als sie je begriffen hat. Ich hab alles für sie getan.“
„Manchmal,“ sagt Frau Schubert behutsam, „ist Liebe nicht das, was man gibt, sondern das, was man lässt. Sie sollten sie jetzt gehen lassen, Valerian.“
Er presst die Lippen zusammen, dreht sich von ihr weg. Seine Schultern spannen sich an, als würde er gegen sich selbst kämpfen. Ein paar Sekunden lang steht er einfach nur da – unbeweglich, voller Widerspruch.
Dann ballt er die Fäuste. „Nein,“ sagt er leise, aber entschieden. „Nicht, bevor ich sie gesehen habe.“
Er wendet sich zur Treppe, Frau Schubert ruft ihm nach:
„Tun Sie das Richtige, Valerian!“
Aber er hört sie nicht mehr. Oder will sie nicht hören. Mit festen Schritten steigt er die Treppe hinauf, die Wut im Bauch, aber unter der Wut etwas anderes – eine verzweifelte, irrationale Hoffnung.
Dass sie ihn ansieht.
Dass sie vielleicht zögert.
Dass sie sich erinnert.
Dass sie doch bleibt.
Und während oben eine Tür leise ins Schloss fällt, weiß Frau Schubert unten in der Küche, dass dieser Moment unausweichlich war. Und dass danach nichts mehr so sein wird wie zuvor.