Falkensee - Kapitel 21
Ihre Stirnen liegen noch einen Moment aneinander, beide atmen schwer.
Der Kuss hängt wie warmer Sommerduft zwischen ihnen.
Dann löst Elysia sich langsam, aber ihre Hände bleiben noch an seinem Shirt, als wollte ein Teil von ihr nicht loslassen.
Kian schmunzelt und streicht mit dem Daumen über ihren Handrücken.
„Gehst du… später spazieren?“ fragt er mit Hoffnung in den Augen.
Elysia hebt den Blick, und ein warmes, strahlendes Lächeln breitet sich auf ihrem Gesicht aus.
„Ich denke schon,“ sagt sie leise. „So… kurz nach dem Frühstück vielleicht?“
„Perfekt,“ antwortet Kian sofort, ohne nachzudenken. Ein bisschen zu schnell. Ein bisschen zu freudig. Und genau deshalb muss sie lachen.
„Dann treffen wir uns hier?“
„Hier,“ bestätigt er und nickt, als hätte jemand ihm gerade das schönste Geschenk gemacht.
Für einen Moment stehen sie einfach da, lächeln sich an, sagen nichts mehr. Ihre Hände lösen sich zögernd – als wäre es fast zu früh dafür. Dann macht Kian einen Schritt rückwärts.
„Bis später,“ murmelt er.
„Bis später,“ flüstert sie zurück.
Kian dreht sich um und geht den kleinen Weg hinunter. Langsam. Sehr langsam.
Als würde er jede Sekunde genießen wollen.
Elysia bleibt stehen und sieht ihm nach. Ihre Finger berühren noch immer die Lippen, die er gerade geküsst hat. Ihr Herz schlägt so schnell, dass sie es selbst kaum glauben kann.
Kian biegt gerade um die Ecke – doch dann bleibt er stehen. Für einen winzigen, schweigenden Moment.
Und dann...
Macht Kian einen Satz in die Luft. Einen richtigen, echten Sprung wie ein überglücklicher Teenager. Er reißt die Hände hoch und ruft laut in die Nacht:
„Juhuuuu!“
Es hallt über den See. Elysia schlägt sich lachend die Hand vor den Mund. Ihre Augen glänzen vor Wärme und Glück – ein sanfter, freier Ausdruck, den sie lange nicht mehr hatte.
„Oh Kian…“, murmelt sie leise und liebevoll.
Dann dreht sie sich um, immer noch lächelnd, immer noch leicht schwindelig vor Glück, und geht zur Haustür. Einmal blickt sie zurück – vorsichtig, hoffend.
Doch er ist schon verschwunden. Sie öffnet die Tür, tritt ins Haus – und dieses Lächeln bleibt auf ihrem Gesicht, weich und warm.
Das Wohnzimmer liegt im Halbdunkel, nur die kleine Lampe in der Ecke wirft einen weichen Lichtkegel über das Sofa. Die Luft ist still, die Sommernacht hängt warm und schwer in den Räumen.
Elysia sinkt in die Couch, legt den Kopf an die Rückenlehne und atmet tief aus.
Ein zufriedenes Lächeln hält sich hartnäckig auf ihren Lippen – so warm, so weich, dass es fast wehtut. Ihr Herz schlägt noch immer schneller, wenn sie an den Kuss denkt. An seine Hände. An seine Nähe. An sein Lachen, seine Augen, seine Worte.
Aber kaum lässt sie die Augen zufallen, kommen die anderen Gedanken.
Wie soll das weitergehen?
Wie… überhaupt?
Ihr Magen zieht sich leicht zusammen. Nicht unangenehm – eher wie ein leiser Stich Realität, der in ein neu gefundenes Glück schneidet.
„Ich wohne drei Stunden entfernt,“ flüstert sie in die Stille. Ihre Stimme wirkt klein, unsicher. Drei Stunden. Drei endlose Stunden Autofahrt.
Ein ganzes anderes Leben. Ein anderes Zuhause. Ein anderer Alltag.
Und Kian? Er ist hier. In Falkensee. Sein Job. Sein Haus. Sein See. Seine Freunde.
Sie drückt ihre Fingerspitzen an die Lippen – dieselben, die er geküsst hat. Es prickelt noch immer.
Was, wenn es nur ein Moment war?
Was, wenn es nicht reicht?
Was, wenn sie sich verrennt?
Sie schließt die Augen. Die Wärme der Nacht liegt auf ihrer Haut, aber in ihr drin toben Gefühle, die sie kaum sortieren kann.
„Ich kann nicht schon wieder kopflos in etwas rennen…“
Ihre Stimme ist kaum hörbar. Aber dann… dann sieht sie ihn wieder vor sich:
Wie er sie anschaut, als wäre sie das schönste Wunder, das ihm je begegnet ist.
Wie er ihre Hand hält, als würde er sie nie wieder loslassen wollen.
Wie er überglücklich wie ein Junge in die Luft springt und Juhuu ruft, als sei er 17 und frisch verliebt.
Elysia lächelt wieder. Weicher, tiefer.
„Vielleicht…“, flüstert sie, „muss es gar nicht einfach sein.“
Nur echt.
Sie rutscht ein kleines Stück tiefer in die Couch, zieht die Beine an und legt eine Decke über sich. Der Mondschein fällt durchs Fenster und schimmert auf ihren blonden Haaren. Ein letzter Gedanke begleitet sie, bevor ihre Augen langsam schwer werden:
Vielleicht lohnt es sich, zu kämpfen. Für jemanden wie ihn. Für etwas wie… uns.
Und mit diesem Gedanken schläft sie ein – zum ersten Mal seit langer Zeit mit einem Herzen, das nicht nur frei, sondern auch voller Hoffnung ist.
Kian liegt im Dunkeln. Die Decke halb über ihm, halb neben ihm, als hätte er sie irgendwann in einer Mischung aus Aufregung und Unruhe weggestrampelt.
Das Fenster steht offen, die Nachtluft ist warm und bewegt leise die Gardinen.
Aber er spürt nichts von der Ruhe, die draußen herrscht.
Sein Herz schlägt schneller als sonst. Nicht unangenehm – aber wach, lebendig, voller Gedanken, die keine Pause machen wollen. Er starrt an die Zimmerdecke. Immer wieder blinzelt er. Immer wieder versucht er, die Augen zu schließen. Doch sobald er sie schließt, sieht er sie.
Elysia.
Mit der rosa Strickjacke. Mit dem Lächeln, das zuerst zögerlich gewesen war und dann heller wurde. Mit der Wärme in ihrem Blick, als sie seinen Namen gesagt hat.
Und dann… ihr Kuss.
Ihr erster gemeinsamer Kuss. Zart. Langsam. Und dann so tief, dass ihm sogar jetzt noch der Atem stockt.
Er presst die Handfläche gegen sein Brustbein, als wolle er sein Herz beruhigen.
Drei Stunden.
Die Zahl hängt wie ein Gewicht in seinen Gedanken. Er dreht sich auf die Seite.
Dann auf die andere. Wirft die Decke weg. Zieht sie wieder über sich. Nichts hilft.
„Drei verdammte Stunden…“, murmelt er leise.
Es ist nicht unüberwindbar. Es ist nicht die andere Seite der Welt. Aber es ist weit genug, um zu wehtun.
Er denkt an ihr Lachen, als sie gemeinsam spaziert sind. An ihren Blick, als sie ihn ansah, kurz bevor sie ihn geküsst hat. An die Art, wie ihre Hand in seiner gelegen hat – als hätte sie schon immer dahin gehört.
Er denkt daran, wie sie sich angefühlt hat. Wie sie gerochen hat. Wie ihre Wangen sich unter seinen Fingerkuppen warm angefühlt haben.
Und dann kommt die Angst.
Leise, aber scharf.
Was, wenn sie beschließt, dass es zu kompliziert ist?
Was, wenn sie Abstand will?
Was, wenn dieser Abend für sie nur ein kurzer Moment war – mehr nicht?
Er atmet tief ein. Dann setzt er sich im Bett auf, streicht sich durch die Haare und lehnt die Ellbogen auf die Knie.
„Nein“, sagt er leise in die Stille. „Ich hab sie einmal gefunden. Ich lass sie nicht einfach gehen.“
Die Entscheidung fühlt sich an wie ein Stein, der ins Wasser geworfen wird – schwer, aber klar.
Ja, es sind drei Stunden.
Ja, es wird kompliziert.
Ja, er weiß nicht, was sie fühlt oder was sie will.
Aber er weiß, was er will. Er will sie wiedersehen. Er will wissen, wer sie ist, wenn sie lacht, weint, träumt. Er will herausfinden, wo dieses Gefühl hinführt – dieses starke, warme, überwältigende Gefühl, das er seit Wochen verdrängt hat.
Er greift nach seinem Handy. Nicht um ihr zu schreiben. Nicht um sie zu bedrängen. Einfach nur, um ihre letzten Nachrichten noch einmal zu lesen.
„Ich wollte, dass du es weißt.“
Er liest den Satz dreimal.
„Ich auch“, flüstert er.
Dann legt er das Handy zurück.
Er weiß:
Wenn sie geht, muss er ihr zeigen, dass er bleiben will. Dass er es ernst meint.
Dass er bereit ist, für sie etwas zu riskieren. Und als er sich wieder hinlegt, auf die Seite, das Gesicht halb im Kissen vergraben, weiß er eines:
Er will sie wiedersehen. Egal, wie weit. Egal, wie kompliziert.
Das hier ist es wert.
Die hellen Vormittagsstrahlen fallen durch das Küchenfenster und tauchen den Raum in warmes Licht. Der Geruch von frisch gebrühtem Kaffee erfüllt die Luft, und Ben brutzelt Rührei in der Pfanne, während Hannah Butter auf ein Brötchen streicht.
Elysia sitzt am Tisch, die Hände um eine Tasse Kaffee gelegt. Ihre Haare sind lose zusammengebunden, ein paar Strähnen fallen ihr ins Gesicht. Sie sieht ein bisschen verschlafen aus – aber dieses kleine, zufriedene Lächeln, das sie nicht loswird, verrät mehr als Worte könnten.
Hannah beobachtet sie ganz genau.
Natürlich.
Mit diesem Blick, den nur beste Freundinnen haben.
„Alsoooo …“, beginnt Hannah und nippt an ihrem Tee.
„Wie war dein Abend?“
Ihre Stimme ist unschuldig – zu unschuldig.
Ben dreht sich mit der Pfanne in der Hand um und grinst.
„Ja, stimmt. Du warst ja seeeehr lange unterwegs.“
Elysia räuspert sich. Sie nimmt einen großen Schluck Kaffee – zu groß, denn sie verzieht leicht das Gesicht, als sie sich beinahe die Zunge verbrennt.
„Äh… schön“, sagt sie vorsichtig. „Es war ein schöner Abend.“
Hannahs Augen verengen sich.
„Nur schön?“
Ben stellt die Pfanne ab und setzt sich.
„Für einen ‘schönen Abend’ strahlst du aber ziemlich.“
Elysia setzt die Kaffeetasse ab. Sie kämpft sichtbar mit sich. Ihr Herz schlägt schneller, als sie an den Kuss denkt – an Kians Hände an ihrer Taille, an den Blick, den er ihr danach geschenkt hat.
Doch… es ist noch zu frisch.
Zu neu.
Zu fragil.
Und ein Teil in ihr möchte diesen Moment für sich behalten. Wie ein Geheimnis, das im Herzen glüht.
„Wir haben uns nur unterhalten“, sagt sie langsam. „Einfach… gut unterhalten. Über uns. Über das Leben.“
Hannah hebt eine Augenbraue. Sie glaubt kein Wort – aber sie drängt nicht weiter.
„Mhm“, macht Ben mit gespielt skeptischem Ausdruck. „Nur geredet. Klar.“
Elysia lacht leise und rubbelt sich über die Stirn.
„Hört mal – es war wirklich schön. Ehrlich. Aber ich… weiß selbst noch nicht, was das alles bedeutet.“
Ihre Stimme wird weicher. Ehrlicher.
„Ich genieße einfach… dass es leicht war. Dass ich mich wohl gefühlt hab.“
Hannahs Gesicht wird sanft. Sie greift über den Tisch und berührt Elysias Hand.
„Das reicht erst mal“, sagt sie ruhig. „Niemand erwartet Antworten. Ich schon gar nicht.“
Ben nickt zustimmend.
„Und wenn er ein Idiot ist, prügel ich ihn. Nur damit das klar ist.“
Elysia muss lachen.
„Ben, du würdest gegen Kian aussehen wie ein Gartenzwerg gegen einen Baum.“
„Stimmt“, murmelt Hannah und zwinkert Elysia zu. „Aber der Wille zählt.“
Sie lachen gemeinsam – ein warmes, echtes Lachen.
Elysia sinkt ein wenig tiefer in ihren Stuhl, umschließt erneut ihre Tasse.
Und obwohl sie nichts vom Kuss sagt, spürt Hannah sofort:
Etwas hat sich verändert.
Dann leert sie den letzten Schluck Kaffee und stellt sie auf den Tisch. Sie steht auf und deutet nach oben wo ihre Sachen sind. Dann geht sie ins Gästezimmer.
Elysia betritt das Gästezimmer, in dem noch immer der leichte Duft von Lavendel hängt. Sie schließt die Tür hinter sich und atmet tief durch, bevor sie ihre Reisetasche vom Stuhl nimmt. Behutsam beginnt sie, die wenigen Sachen zusammenzulegen, die sie die letzten Tage benutzt hat. Ihr Blick schweift immer wieder zum Fenster, hinter dem der graue Morgen langsam heller wird.
Es klopft leise.
„Komm rein“, sagt Elysia, ohne sich umzudrehen.
Hannah steckt den Kopf durch die Tür, ein weiches, neugieriges Lächeln auf den Lippen. „Ich wollte schauen, ob du Hilfe brauchst… und vielleicht noch ein bisschen quatschen.“
„Klar.“ Elysia setzt sich auf die Bettkante, und Hannah kommt zu ihr, setzt sich neben sie.
Für einen Moment herrscht angenehme Stille, bis Hannah leise beginnt: „Es waren verrückte Tage, oder? So viel auf einmal.“
Elysia lacht leise. „Das kann man wohl sagen. Ich hätte nie gedacht, dass ich hierher komme und… so viel passiert.“
„Du meinst Kian“, sagt Hannah schmunzelnd und stupst sie leicht an.
Elysia verdreht gespielt die Augen, kann aber ihr Lächeln nicht unterdrücken.
„Auch. Aber nicht nur. Alles… die Erinnerungen, die Begegnungen… auch mit Valerian.“
Hannah seufzt ein wenig, lehnt sich zurück und schaut an die Decke.
„Valerian… ja. Ich frage mich, was er gedacht hat, als er dich gesehen hat.“
Elysia nickt. „Ich war überrascht, ehrlich gesagt. Früher war er immer so präsent. So laut irgendwie, innerlich wie äußerlich. Jetzt wirkt er… reifer? Oder… verletzt? Ich weiß nicht.“
„Er hat viel durchgemacht“, sagt Hannah leise. „Mehr, als er zugeben würde. Aber ich glaube, dich wiederzusehen hat ihn getroffen. Vielleicht auf gute Weise, vielleicht auf verwirrende.“
Elysia zieht ein T-Shirt glatt und legt es auf die Tasche. „Ich hab mich gefragt, ob ich länger mit ihm hätte sprechen sollen. Aber es hätte wohl nichts geändert. Manche Dinge sind… einfach vorbei.“
Hannah nickt langsam. „Ja. Und manche fangen gerade erst an.“
Elysia lächelt, diesmal etwas verträumter. „Vielleicht. Aber die Entfernung ist ein Problem. Drei Stunden sind…“
„Nicht unüberwindbar“, wirft Hannah ein. „Nicht, wenn es sich richtig anfühlt.“
Elysia schaut sie an, überrascht von der Eindringlichkeit ihrer Stimme.
Hannah zuckt mit den Schultern. „Ben und ich haben auch mal Fernbeziehung gehabt. Am Anfang war’s eine Katastrophe. Aber wenn beide wollen, dann wächst man rein.“
Elysia denkt darüber nach. „Vielleicht hast du recht.“
Hannah grinst. „Natürlich habe ich recht. Und… egal wie das mit Kian wird – die letzten Tage waren gut für dich. Du wirkst leichter. Glücklicher.“
Elysia spürt, wie ihre Kehle eng wird. „Ja… das waren sie.“
Hannah legt eine Hand auf ihre. „Dann nimm dieses Gefühl mit. Egal, was kommt.“
Elysia zieht den letzten Reißverschluss ihrer Reisetasche zu. Sie schaut sich ein letztes Mal im Gästezimmer um – alles ordentlich, nichts vergessen. Ein schwerer Kloß liegt ihr im Hals. Sie drückt die Tasche an ihre Seite und geht hinaus in den Flur.
Hannah und Ben warten dort bereits. Hannah hat die Arme verschränkt, aber ihre glasigen Augen verraten sie sofort.
„Ach Mensch…“, beginnt Elysia, doch weiter kommt sie nicht, denn Hannah fällt ihr einfach um den Hals.
„Ich werde dich so vermissen!“, schluchzt sie gegen Elysias Schulter.
Elysia umklammert sie fest. „Ich dich auch…“, flüstert sie, und plötzlich brennt es auch in ihren Augen. Sie versucht, stark zu bleiben, doch Hannahs Zittern macht es unmöglich. Eine einzelne Träne löst sich, dann die nächste.
Ben steht daneben, verschränkt die Arme und hebt eine Augenbraue. „Ihr seid unmöglich“, murmelt er, und obwohl es streng klingen soll, liegt Wärme in seiner Stimme.
Elysia löst sich etwas von Hannah und wischt sich die Wangen. „Wir sehen uns doch bald wieder…“, sagt sie, mehr zu sich selbst als zu Hannah.
Hannah nickt hektisch, Taschentuch in der Hand. „Ja, natürlich… aber trotzdem! Es war so schön, dich hier zu haben. Es hat sich angefühlt wie früher.“ Ihre Stimme bricht.
Elysia nimmt ihre Hand. „Für mich auch.“
Ben kommt näher, legt Hannah eine Hand auf die Schulter und schüttelt leicht den Kopf. „Weiber…“, sagt er mit einem schiefen Lächeln, das Hanna sofort vorwurfsvoll anstarrt.
„Ben!“, zischt sie empört und schubst ihn leicht gegen den Arm.
„Was denn?“, gibt er zurück, grinst aber breit. „Ist doch wahr.“
Für einen Moment müssen alle lachen – sogar Hannah, die gleichzeitig lacht und schniefst, was den Moment noch rührender macht.
Elysia atmet tief durch, drückt Hannah noch ein letztes Mal, klopft Ben freundschaftlich auf den Arm, und dann öffnet sie die Haustür.
Die kühle Luft schlägt ihr entgegen, und als sie hinaustritt, ruft Hannah ihr hinterher: „Meld dich, sobald du angekommen bist!“
Elysia dreht sich noch einmal um. „Mach ich!“
Dann geht sie zu ihrem Auto, das Herz schwer und gleichzeitig voller warmer Erinnerungen.
Kian steht an der Terrassentür seines Wohnzimmers, barfuß, das Handy in der Hand. Die Morgensonne fällt flach über den Garten und zeichnet helle Streifen über den Boden, aber er nimmt das kaum wahr. Sein Blick hängt an dem kleinen schwarzen Display, als könne es ihm eine Entscheidung abnehmen.
Er zieht die Unterlippe zwischen die Zähne.
Sollte er schreiben?
Oder anrufen?
Oder… gar nichts tun?
Er atmet tief aus und lehnt die Stirn kurz gegen den kühlen Rahmen. Elysia fährt heute nach Hause. Drei Stunden Entfernung. Drei Stunden, die sich jetzt plötzlich wie eine halbe Welt anfühlen.
Er wischt mit dem Daumen über den Bildschirm, öffnet den Chat – ihr Chat, der erst seit ein paar Tagen wieder existiert und trotzdem so vertraut wirkt.
„Hey, bevor du losfährst… willst du mich vielleicht kurz sehen?“
Er tippt es ein. Starrt darauf. Löscht es wieder.
„Verdammt…“, murmelt er.
Anrufen? Aber was, wenn er sie überrumpelt? Wenn sie gerade packt? Oder schon losgefahren ist? Oder… wenn es ihr zu viel wird?
Kian schiebt die freie Hand durch seine Haare, die noch völlig zerzaust vom Schlaf sind. Schlaf… ein Wort, das heute Nacht de facto nicht existiert hat. Er hatte nur wach gelegen, immer wieder dieselben Gedanken im Kopf.
Er will sie sehen. Einfach noch einmal ihr Lächeln, bevor sie wegfährt.
Vielleicht für Tage, Wochen… oder länger. Und er will nicht, dass sich zwischen ihnen wieder Schweigen schiebt.
Er schaut wieder auf das Handy.
„Okay…“, sagt er zu sich selbst und setzt sich auf die Kante des Sofas. „Nicht zu aufdringlich. Aber ehrlich.“
Er tippt, diesmal langsamer, sorgfältiger:
„Guten Morgen "
Ich hoffe, ich störe dich nicht. Willst du… vielleicht, bevor du losfährst, kurz vorbeikommen? Nur, wenn es passt.“
Er liest die Zeilen zwei-, dreimal.
Nicht zu viel Druck. Nicht zu wenig Interesse.
Ehrlich. Sein Daumen zögert über dem „Senden“-Button. Sein Herz klopft unangenehm schnell.
„Komm schon…“, murmelt er, mehr zu sich als zu dem Gerät. Dann drückt er auf Senden.
Für einen Moment bleibt er einfach sitzen, das Handy noch in der Hand, während im Display das kleine „gesendet“ erscheint.
Sein Blick wandert wieder zur Terrasse, hinaus in den hellen Morgen.
Jetzt bleibt ihm nur eins: warten. Und hoffen.
Kian bleibt noch immer an der Terrassentür stehen, das Handy locker in der Hand. Draußen bewegt sich die Luft kaum, trotzdem lösen sich die ersten Blätter von den Bäumen und trudeln langsam zu Boden. Gelb, gold, ein Hauch von Braun. Ein stiller Vorbote des Herbstes.
Dabei fühlt es sich ganz und gar nicht nach Herbst an.
Nicht im Geringsten. Die Hitze liegt noch immer schwer über Falkensee, als hätte der Sommer vergessen zu gehen. Ein seltsames, drückendes Zwischenstadium – zu warm für September, zu still für Hochsommer.
Kian blinzelt in das grelle Licht, fährt sich mit dem Handrücken über die Stirn. Es ist früh am Tag und trotzdem schon drückend heiß. Sein T-Shirt klebt leicht am Rücken.
Hat sie’s schon gesehen?
Er hebt das Handy und drückt den Bildschirm an. Der Chat öffnet sich – seine Nachricht, darunter ein einzelner grauer Haken. Nur einer. Keine zwei.
Sie hat sie noch nicht gelesen.
Er spürt, wie sich seine Brust eng zusammenzieht. Nicht schlimm, sagt er sich. Wahrscheinlich ist sie noch bei Hannah und Ben. Oder sie packt gerade. Oder… was auch immer. Trotzdem entweicht ihm ein leiser Seufzer, der von der Hitze und der Ungewissheit schwer wird.
„Beruhig dich…“, murmelt er, obwohl er genau weiß, dass es nicht funktioniert.
Er lehnt sich mit der Schulter an den Türrahmen, das Handy erneut locker in der Hand, und betrachtet wieder das fallende Laub, das sich in der warmen Luft langsam im Kreis dreht. Ein schöner Anblick, eigentlich. Nur fühlt er sich gerade an, als würde alles um ihn herum in Zeitlupe passieren – außer seinen Gedanken.
Und während er dort steht, schwitzend, wartend, hoffend, rührt sich in seinem Bauch dieses unruhige Ziehen wieder. Ein Gefühl, das er fast vergessen hatte.
Er will sie sehen.
Jetzt.
Bevor sie fährt. Bevor sie zwischen ihnen wieder zu viel Zeit entsteht.
Noch einmal sieht er aufs Handy. Noch immer kein zweiter Haken. Er schließt kurz die Augen und atmet tief aus.
Warten. Er muss einfach warten.
Die Minuten ziehen sich zäh dahin, jede fühlt sich länger an als die davor. Kian checkt sein Handy noch einmal, obwohl er genau weiß, dass es sinnlos ist. Noch immer nur ein grauer Haken. Kein Zeichen von Elysia. Keine Antwort. Kein „gesehen“.
Er drückt die Lippen zusammen, legt das Handy schließlich mit einer gewissen Endgültigkeit auf den Esstisch und dreht sich davon weg.
„Okay…“, murmelt er, als würde er sich selbst überzeugen müssen. „Dann eben nicht.“
Er geht den Flur entlang, jeder Schritt klingt zu laut in der Stille seines Hauses. Im Schlafzimmer öffnet er den Kleiderschrank, zieht sich frische Jeans und ein schwarzes Shirt heraus. Seine Bewegungen wirken mechanisch, fast schon gelangweilt, doch in seinem Inneren zieht es. Die Hoffnung, die noch vor einer halben Stunde warm und lebendig gewesen war, fühlt sich nun schwer und stumpf an.
Er wirft die Kleidung aufs Bett und schnappt sich ein Handtuch.
Unter der Dusche ist es wenigstens still. Da muss er nicht ständig auf ein Handy schauen, das sich nicht meldet.
Im Badezimmer dreht er das Wasser auf. Ein heißer Schwall rauscht über seine Haut – er hätte kaltes Wasser wählen sollen, denkt er, denn der Tag ist ohnehin schon heiß genug. Aber die Hitze passt zu seiner Stimmung: dumpf, drückend, erschöpfend.
Er lehnt die Stirn gegen die kühlen Fliesen und lässt das Wasser über seinen Rücken laufen.
Warum hatte er überhaupt gehofft?
Vielleicht war es töricht gewesen. Vielleicht war der Abend für sie nichts Besonderes gewesen. Vielleicht war es einfach… ein schöner Moment gewesen, mehr nicht.
Er drückt die Augen fest zu. Er will nicht an gestern denken, an ihren Kuss, an die Art, wie sie gelächelt hat. Doch genau diese Bilder brennen sich jetzt umso stärker ein.
„Komm schon… vergiss es einfach“, sagt er leise zu sich selbst, aber die Worte verhallen wirkungslos im Dampf des Badezimmers. Die Hoffnung, dass sie noch vorbeikommt, verblasst. Tropfen für Tropfen rinnt sie mit dem Wasser den Abfluss hinunter. Er hat sie aufgegeben. Zumindest für heute.