Falkensee - Kapitel 10



Das Büro ist still, nur das leise Ticken der Uhr durchbricht die Stille.
Valerian sitzt hinter seinem Schreibtisch, der Brief liegt geöffnet vor ihm.
Das Papier ist makellos weiß, der Ton sachlich, fast höflich – und doch schneidet jedes Wort tiefer, als er erwartet hatte.

 

„Im Auftrag meiner Mandantin, Frau Elysia Auberon, geborene von Kaltenthal, beantrage ich hiermit die Einleitung des Scheidungsverfahrens…“

 

Er liest die Zeilen noch einmal, langsam, als könne er zwischen den Buchstaben etwas anderes finden. Etwas, das das alles weniger real macht. Aber es steht schwarz auf weiß.


Scheidung.

 

Ihr Entschluss.

 

Er lehnt sich zurück, reibt sich über die Stirn. Das Sonnenlicht fällt schräg durch die Fensterfront, trifft auf den Glasrand seines Whiskys, den er vor einer Stunde eingeschenkt hat – und seitdem unangerührt stehen ließ. Ein bitteres Lächeln huscht über seine Lippen.


„So also.“

 

Er hatte sie gesucht. Wochenlang. Hat Leute bezahlt, Adressen prüfen lassen, Bekannte befragt, ist sogar selbst zu ihren Eltern gefahren.


Doch jedes Mal: nichts.


Ein höfliches „Sie ist nicht da“ oder ein kaltes „Wir wissen es nicht“. Er hatte es geahnt. Dass sie sich versteckt. Dass sie Zeit braucht. Aber nicht das. Nicht diesen Brief.

 

Er greift nach dem Umschlag, dreht ihn in der Hand – und da, unten rechts, die Kanzleiadresse. Er kennt den Namen. Und die Stadt. Seine Kiefer spannen sich an.


Also da bist du.

 

Er steht auf, geht ans Fenster. Draußen glitzert der Nachmittag über der Stadt, Menschen laufen geschäftig vorbei, Autos hupen in der Ferne. Ein ganz normaler Tag. Nur für ihn nicht.

 

„Du willst also ohne mich leben,“ murmelt er leise.


In seiner Stimme liegt kein Schrei, keine laute Wut – nur kalte Enttäuschung, die fast schlimmer klingt. Er holt tief Luft, die Finger trommeln auf die Fensterbank.


„Glaubst du wirklich, du kannst einfach gehen? Als wäre nichts gewesen?“

 

Er greift zum Glas, nimmt einen Schluck. Der Whisky brennt, aber er spürt es kaum. Er denkt an ihr Gesicht, an ihre Stimme, an die Art, wie sie ihn früher angesehen hatte – damals, bevor sie still geworden war.

 

Er hat sie verloren.


Und das zum ersten Mal nicht an jemand anderen – sondern an sich selbst.

Er atmet schwer aus, stellt das Glas ab, greift wieder nach dem Brief.
Er liest die Zeilen erneut, diesmal kälter.


Ein Gedanke nimmt Form an, leise, gefährlich ruhig:

 

Wenn sie glaubt, das war’s gewesen, dann irrt sie sich.

 

Er faltet das Papier sorgfältig, legt es zurück in den Umschlag und schiebt ihn in die oberste Schublade seines Schreibtischs. Das Schreiben liegt dort, wie eine offene Wunde, die nicht heilt. Doch in seinem Blick ist nichts gebrochen.

Nur Entschlossenheit. Und ein Funken Stolz, der sich wehrt, unterzugehen.

 

 

 

Der Motor seines Wagens schnurrt tief, als Valerian auf die Landstraße fährt.
Die Sonne steht tief, ein roter Schimmer liegt über den Feldern, die Luft flirrt noch vom heißen Tag. Er fährt schnell – zu schnell. Die Hände fest am Lenkrad, die Augen starr auf die Straße gerichtet. Der Brief liegt auf dem Beifahrersitz, ordentlich gefaltet, als wäre er ein Beweisstück.


Jede Kurve, jedes Schlagloch begleitet ihn mit demselben Gedanken:


Sie ist dort.

 

Bei ihren Eltern. Versteckt. Weit weg von ihm – aber nicht weit genug. Er denkt an die Wochen zuvor, an all die vergeblichen Versuche, sie zu finden. Die falschen Spuren, die höflichen Ausreden, das Schweigen. Er hat sich ruhig gehalten, beherrscht. Doch jetzt weiß er, wohin. Und diesmal wird er nicht eher fahren, bevor er Antworten hat.

 

Als er in die kleine Stadt einfährt, ist es später Nachmittag.
Die Straßen sind ruhig, ein paar Menschen schlendern durch die Gassen, Kinder lachen irgendwo in einem Garten. Nichts Besonderes – und doch fühlt sich alles falsch an. Das Haus ihrer Eltern steht am Rand der Altstadt.
Weiß gestrichen, gepflegt, die Fensterläden offen, Geranien auf der Fensterbank. So idyllisch, dass es ihn fast wütend macht.

 

Er parkt am Straßenrand, steigt aus. Seine Schritte klingen hart auf dem Pflaster, als er zum Haus geht. Er klingelt. Einmal. Zweimal. Dann öffnet sich die Tür.

 

Frau von Kaltenthal steht im Rahmen – schmal, aufrecht, die grauen Haare ordentlich hochgesteckt. Ihre Haltung ist ruhig, aber ihre Augen sind wachsam.

 

„Herr Auberon,“ sagt sie tonlos. „Das ist eine Überraschung.“

 

„Ich möchte mit meiner Frau sprechen,“ sagt er ohne Umschweife.


„Das wird nicht möglich sein.“


„Dann sagen Sie mir wenigstens, wo sie ist.“


„Ich wüsste nicht, dass ich Ihnen dazu verpflichtet bin.“

 

Einen Moment lang herrscht Stille. Valerian hebt das Kinn, seine Stimme ruhig, gefährlich kontrolliert:


„Sie glauben, Sie können mich hinhalten? Ich weiß, dass sie hier ist. Der Brief kam von dieser Stadt.“

 

„Dann wissen Sie ja schon mehr, als ich Ihnen sagen könnte,“ erwidert sie kalt.

 

Er sieht sie noch einen Augenblick an, dann geht er an ihr vorbei.


„Ich will mich nur umsehen.“

 

„Das werden Sie nicht.“


Aber er hört sie kaum noch. Er ist schon im Flur, sein Blick wandert über die Möbel, die Familienbilder an der Wand, die Treppe nach oben. Alles wirkt geordnet, friedlich – und leer. Oben findet er ein Zimmer. Das Licht fällt durch die Gardine auf ein Bett mit weißer Decke, daneben ein alter Rattansessel, ein Schreibtisch, ein Spiegel.


Ein vertrauter Duft liegt in der Luft. Ihr Parfum.

Sein Blick fällt auf ein paar Kleidungsstücke, ordentlich zusammengelegt auf einem Stuhl. Eine Jeans. Ein Pullover. Eine Bluse. Aber nichts Neues.
Nichts, was beweist, dass sie hier lebt.

 

Er greift nach dem Stoff, hält ihn kurz fest, dann legt er ihn langsam wieder hin.


Von früher, denkt er. Von einem ihrer Besuche.

 

Er steht mitten im Raum, sieht sich um, lauscht in die Stille. Und spürt, wie etwas in ihm kippt. Sie ist hier gewesen. Aber sie ist weg. Und wieder einmal entwischt sie ihm.

 

Er geht nach unten, steht wieder in der Tür. Ihre Mutter wartet dort, unbewegt, die Hände ineinander verschränkt.

 

„Wenn Sie sie sehen,“ sagt er ruhig, „richten Sie ihr aus, dass das so nicht enden wird.“

 

„Ich richte gar nichts aus,“ entgegnet sie mit fester Stimme. „Gehen Sie jetzt, Herr Auberon.“

 

Er hält ihren Blick einen Moment, dann wendet er sich ab, steigt ins Auto und fährt los. Langsam, diesmal. Aber mit diesem stillen Entschluss im Gesicht, der keine Ruhe kennt. Er weiß jetzt, dass sie wirklich fort ist. Doch er wird sie finden. Früher oder später.

 

Valerian fährt weiter, die Straßen der kleinen Stadt verschwimmen zu einem Streifen aus Pflaster und Laternenlicht. Seine Augen scannen jede Gestalt, jede Bewegung am Straßenrand - ruhelos, ungeduldig, als könnte er sie mit bloßem Blick aus der Menge ziehen. Doch Brunnental ist nicht seine Welt; die Menschen hier gehen ihrem Alltag nach, nichts ahnend von der Wut in dem Mann in dem schwarzen Wagen.

 

Plötzlich hält er am Straßenrand, fährt rechts ran. Die Luft scheint ihm auf einmal knapp; das Atmen wird zur Anstrengung. Noch nie hat man ihn so einfach abserviert. Nicht Valerian Auberon, dem die großen Hotels gehören, dem Türen normalerweise aufgehen, ohne dass er klopft. Ein heißes, bitteres Gefühl steigt in ihm auf - verletzt, gedemütigt, wütend in einer Weise, die er selten zulässt.

 

Er steigt aus, geht ein paar Schritte vom Auto weg, fährt sich mit den Fingern durch die dunklen Haare und sieht über die Dächer der Stadt. Dann lässt er einen Schrei los - roh, laut, ein Laut, der die Vorstadtstille zerschneidet und nichts ändert. Es ist ein Schrei, der Ohnmacht in Zorn verwandelt.

 

Zitternd greift er in die Jackentasche, zieht sein Handy, wählt eine Nummer. Ohne Umschweife befiehlt er: „Sofort einen Fahrer hierher. Brunnental. Und noch ein Team. Ich will, dass meine Frau beobachtet wird - Tag und Nacht. Keine Lücken.“ Seine Stimme ist kalt, bestimmt; er schickt den Standort, tippt die Adresse, bestätigt.

 

Das kleine Pfeilsymbol auf dem Bildschirm blinkt - Bestätigung. Dann steigt er wieder ins Auto. Der Motor grollt, wird zum Taktgeber. Er fährt weiter, schneller, mit starren Blick nach vorn. Hinter seiner Ruhe lauert etwas, das keine Ruhe kennt: Entschlossenheit, und ein Versprechen, nicht eher loszulassen, bis er weiß, wo sie ist.

 

Valerian fährt nach Hause. Die Straßen wirken plötzlich eng, die Lichter unscharf, als würde alles gegen ihn verschwimmen. Zu Hause schlägt er die Tür hinter sich zu, die Stille des Hauses empfängt ihn wie ein Vorwurf. Er geht die Treppe hinauf, die Schritte sind kurz, schwer, zielgerichtet - bis zum Schlafzimmer.

 

Ohne groß nachzudenken wirft er die Schranktür auf und greift hinein. Stoffe flattern, Hosen, Blusen, Pullover - er reißt Schichten aus dem Schrank, wirft sie auf das Bett, schaut auf Taschen, Schmuckschachteln, alles, was nach ihr riecht oder ihr gehören könnte. Seine Bewegungen sind scharf, ungeduldig; in jeder Lage sucht er ein Zeichen, irgendetwas, das erklärt, warum sie ihn verlassen hat.

 

Frau Schubert kommt die Treppe hoch, als sie das Möbelknarren hört. Sie bleibt in der Tür stehen, sieht die aufgewühlten Kleiderberge und Valerians Gesichter, das harte, angespannte Kinn. „Herr Auberon?“ sagt sie leise und wagt einen Schritt vor - nicht zu nahe. Sie stellt den Korb mit frisch gefalteter Wäsche auf dem Bett ab, atmet tief durch und spricht ruhig, bestimmt: „Setzen Sie sich doch. Es hilft nichts, wenn Sie sich so aufreiben. Sie macht das nicht aus Bosheit. Sie braucht Zeit. Ruhen Sie sich aus.“

 

Seine Antwort ist ein raues Lachen, das in der Kehle hängen bleibt. Für einen Moment zeigt sein Blick dennoch etwas, das selten ist: Erschöpfung. Die Wut flackert, aber die Kälte der Kontrolle rutscht ein wenig; die Stimme der Haushälterin hat etwas Erdendes. Langsam lässt er die Kleidung aus den Händen gleiten, sie bildet einen  Haufen aus Wäsche auf dem Bett. Er sinkt auf einen Stuhl, die Schultern hängen nach vorn, und für einen kurzen Augenblick ist da nur Stille - schwer, unaufhaltsam, und voller Fragen, auf die er keine Antwort hat.

 

Frau Schubert zieht die Tür leise hinter sich zu, als sie das Zimmer verlässt. Unten in der Küche ist es still, nur das Rauschen des Wassers im Kessel füllt den Raum. Sie nimmt eine Tasse aus dem Schrank, schüttet kochendes Wasser über schwarzen Tee, stellt die Tasse auf die Untertasse bereit und atmet tief durch, nimmt den Tee,  bevor sie die Treppe wieder hinaufgeht.

 

Oben sitzt Valerian noch immer im Schlafzimmer. Das Chaos liegt wie eine stumme Anklage um ihn herum – Kleider auf dem Boden, geöffnete Schubladen, eine lose Kette auf dem Teppich. Er reibt sich über die Schläfen, der Puls hämmert in den Schläfen, und für einen Moment fragt er sich, wie aus Ordnung so schnell Unordnung werden konnte. Nicht nur im Raum. Auch in ihm.

 

Die Tür öffnet sich leise, Frau Schubert tritt ein. Sie stellt den Tee auf den Nachttisch, keine Worte, nur die kleine Geste, dann beginnt sie, das Durcheinander aufzuräumen. Sie faltet, hängt auf, sammelt, ganz selbstverständlich.

 

Valerian hebt den Blick. „Ich weiß nicht, wie es so weit kommen konnte,“ sagt er leise. Seine Stimme klingt müde, heiser. „Ich dachte… ich hätte alles richtig gemacht. Ich hab ihr alles gegeben, was sie wollte. Häuser, Reisen, Sicherheit. Aber das war’s wohl nicht, oder?“

 

Frau Schubert legt einen Pullover zusammen, bleibt stehen. „Manchmal will ein Mensch nicht das, was man ihm geben kann, sondern dass man ihn sieht, Herr Auberon.“

 

Er atmet tief ein, sieht in die Tasse Tee, deren Dampf ihm entgegensteigt. „Ich hab sie geliebt. Ich … liebe sie. Ich hab’s ihr nur nie richtig gezeigt.“ Er schüttelt den Kopf, lacht leise, bitter. „Ich war zu stolz. Zu sicher, dass sie bleibt.“

 

„Liebe ist kein Vertrag,“ sagt Frau Schubert ruhig, hebt eine Bluse vom Boden. „Manchmal braucht sie Luft. Sie haben vielleicht zu fest gehalten.“

 

Er schweigt lange. Dann, fast flüsternd: „Ich hab sie verloren.“

 

Frau Schubert blickt kurz auf, legt die Bluse beiseite. „Verloren heißt nicht, dass sie nie wieder zu Ihnen spricht. Vielleicht braucht sie nur Abstand. Zeit.“

 

Er nickt kaum merklich, die Finger um die Teetasse geschlossen, als hielte er sich daran fest. 

 

Frau Schubert räumt weiter, lautlos, und das Rascheln des Stoffes klingt wie eine leise Beruhigung. In Valerian ist noch immer Unruhe, aber sie mischt sich zum ersten Mal mit etwas anderem: einer Müdigkeit, die wie Einsicht schmeckt.

 

Valerian sitzt noch immer am Bettrand, den Blick auf die dampfende Tasse gerichtet. Der Tee ist inzwischen lauwarm, aber er hält die Tasse fest, als gäbe sie ihm Halt.


Dann, ganz langsam, greift er in die Hosentasche, zieht sein Handy heraus und sieht auf das Display. Die letzte Nachricht an seinen Sicherheitschef leuchtet dort noch – der Befehl, Elysia zu beschatten.

 

Einen Moment lang zögert er, dann seufzt er leise. Mit einem wischenden Daumen öffnet er den Chat, tippt kurz, präzise:


„Beenden Sie die Suche. Sofort. Ich melde mich, wenn ich etwas brauche.“

Er drückt auf „Senden“.


Ein winziger Ton erklingt – leise, unscheinbar – und doch fühlt es sich an, als würde damit ein Gewicht von seiner Brust fallen.

 

Frau Schubert, die gerade einen Stapel zusammengefalteter Kleidung in den Schrank legt, blickt kurz auf. Als sie sieht, was er getan hat, legt sich ein warmes, stilles Lächeln auf ihr Gesicht. Sie sagt nichts, aber ihr Blick spricht für sie: Das war richtig.

 

Valerian lehnt sich zurück, das Handy noch in der Hand. „Ich kann nicht glauben, dass ich das gerade getan habe,“ murmelt er.

 

Frau Schubert nickt leicht, schiebt die Schranktür zu, das Holz schließt mit einem sanften Klick.


„Manchmal, Herr Auberon,“ sagt sie ruhig, „zeigt Stärke sich darin, loszulassen. Vielleicht muss sie ihren eigenen Weg gehen, um zu erkennen, was sie will. Und Sie ebenso.“

 

Er sieht sie an, und in seinem Blick liegt zum ersten Mal seit Wochen keine Wut, sondern Nachdenklichkeit.


„Vielleicht haben Sie recht,“ sagt er leise. „Vielleicht… braucht sie Zeit.“

 

Frau Schubert lächelt ein wenig breiter, nickt nur. Dann nimmt sie die leere Tasse vom Nachttisch, während sie in ihrer unaufgeregten, fürsorglichen Art weiterspricht:


„Zeit hat eine seltsame Art, Dinge zurechtzurücken, Herr Auberon. Sie müssen ihr nur Raum lassen, wieder zu Ihnen zu finden. Wenn sie es will, wird sie es tun.“

 

Er sieht auf seine Hände, auf das Handy, das jetzt stumm daliegt.
Zum ersten Mal an diesem Tag atmet er ruhig.

 

„Vielleicht kehrt sie ja zurück,“ sagt er schließlich, mehr zu sich selbst als zu ihr.


„Vielleicht,“ antwortet Frau Schubert sanft und stellt die Tasse auf das Tablett.

 

Dann verlässt sie das Zimmer, und zurück bleibt Valerian, der in die Stille blickt – in ein Zimmer, das wieder aufgeräumt ist, aber in dem etwas fehlt.


Und in ihm ein Gedanke, leise, beinahe zögerlich, aber neu:


Vielleicht ist Liebe kein Besitz. Vielleicht muss man sie erst loslassen, um sie wirklich zu verstehen.


Zwei Wochen sind vergangen, seit Bens Gartenparty in den Abendhimmel von Falkensee geglüht hat. Der Sommer ist geblieben – heiß, laut und voller Leben.
Im Büro von TechCore Solutions surrt der Ventilator träge, die Luft riecht nach Kaffee und Papier.

 

Ben sitzt quer auf seinem Stuhl, die Füße auf Kians Schreibtisch, während er eine Akte durchblättert, die ihn sichtlich wenig interessiert.


„Also,“ sagt er schließlich und wirft die Mappe beiseite, „willst du mir jetzt endlich erklären, was bei dir und Liora eigentlich läuft?“

 

Kian hebt den Blick vom Bildschirm, zieht eine Augenbraue hoch. „Was soll laufen?“


„Na komm schon,“ grinst Ben, „ihr hängt dauernd zusammen. Kaffee hier, Spaziergang da, Abendessen dort. Das klingt nicht nach ‚nur Freunde‘.“

 

Kian lehnt sich zurück, die Arme vor der Brust verschränkt. „Wir verstehen uns gut. Das ist alles.“

 

„Alles?“ wiederholt Ben und lacht laut. „Alter, du bist zweimal fast über deine eigenen Füße gestolpert, als du versucht hast, sie nicht zu küssen!“

 

Kian lacht kurz, aber sein Blick verrät, dass Ben einen wunden Punkt getroffen hat. „Es war… nicht der richtige Moment.“

 

Ben zeigt ihm mit einer übertriebenen Geste den Vogel. „Nicht der richtige Moment? Mein Gott, du bist schlimmer als ein Teenager! Wovor hast du Schiss, hm? Dass sie dich zurückküsst?“

 

Kian schüttelt den Kopf, doch ein Lächeln huscht über sein Gesicht. „Nein. Ich will’s nicht überstürzen. Sie bedeutet mir was. Und vielleicht… hab ich einfach Angst, dass’s zu schnell zu viel wird.“

 

Ben schnaubt, nimmt einen Schluck von seinem kalten Kaffee. „Du meinst, du hast Angst, dass’s echt wird.“

 

Kian sieht ihn an, schweigt. Dann nickt er langsam. „Ja. Vielleicht.“

 

„Na wunderbar,“ sagt Ben grinsend, „der große Kian Sterling, Frauenversteher, IT-Gott und Hobbyphilosoph – hat Schiss vor seiner eigenen Geschichte.“

 

„Nenn’s wie du willst,“ kontert Kian trocken, „aber lieber denk ich zu viel, als dass ich’s wieder vermassel.“

 

Ben legt den Kopf schief, wird für einen Moment ernster. „Du redest, als hättest du schon was vermasselt.“

 

Kian schaut kurz aus dem Fenster. Die Sonne spiegelt sich auf dem See in der Ferne, das Licht flirrt über die Glasfront.


„Hab ich auch,“ sagt er schließlich leise. „Einmal. Das reicht fürs Erste.“

 

Ben nickt, schweigt. Er weiß, dass Kian nicht über Julia spricht – nicht direkt, aber die Erinnerung hängt zwischen den Zeilen.

 

Dann klopft er ihm auf die Schulter. „Na gut, Philosoph. Dann denk wenigstens nicht zu lange. Frauen mögen Typen, die handeln, nicht solche, die Excel-Tabellen über Gefühle anlegen.“

 

Kian lacht leise, hebt die Hände. „Ich geb mir Mühe.“

 

„Mühe ist gut,“ grinst Ben. „Aber ich sag’s dir: beim dritten Fast-Kuss gibt’s kein Zurück mehr. Dann machst du’s einfach. Oder ich sorg dafür.“

 

Kian lacht, schüttelt den Kopf. „Das würd ich sehen wollen.“


„Oh, das wirst du,“ meint Ben und lehnt sich wieder zurück. „Und wehe, du versaust’s. Ich will endlich Hochzeitswein trinken.“

 

„Träum weiter,“ murmelt Kian – aber sein Lächeln bleibt.

 

Nach dem kurzen Schlagabtausch kehrt wieder Ruhe ein.
Ben tippt auf seiner Tastatur, die Augen halb auf den Bildschirm, halb auf die Uhr gerichtet. Das Summen des Ventilators füllt den Raum, draußen glitzert das Licht auf der Glasfront, und die Nachmittagshitze liegt schwer über allem.

 

Kian sitzt am Schreibtisch, die Ellbogen aufgestützt, die Stirn leicht in die Hand gelegt. Vor ihm flackert der Code auf dem Monitor – Zahlen, Buchstaben, Zeilen in Bewegung. Aber seine Gedanken sind längst woanders.

Ohne es zu merken, lehnt er sich zurück, der Blick verliert sich im Nichts.
Und plötzlich ist sie da.

 

Elysia.

 

Nicht als Schmerz, nicht als offener Gedanke – sondern wie eine ferne Erinnerung, die sich leise in den Raum schiebt. Ihr Gesicht, ihr Lächeln, die Art, wie sie damals im Regen stand – nass, zitternd, verletzlich und doch stolz.
Die blauen Augen, in denen so viel lag, was sie nie aussprach. Die Lippen, weich, voller Worte, die sie sich beide nicht trauten zu sagen.

Er atmet langsam aus.


Kein Kloß im Hals, kein Ziehen – nur ein angenehmes, warmes Gefühl.
Fast so, als hätte diese Erinnerung endlich ihre Schärfe verloren. Er sieht kurz zu Ben hinüber, der in seine Arbeit vertieft ist, und dann wieder auf den Bildschirm. Ein leises Lächeln breitet sich auf seinen Lippen aus, unbewusst, fast scheu.

 

Elysia war ein Kapitel, denkt er. Ein schönes, seltsames, flüchtiges Kapitel – aber abgeschlossen. Und doch bleibt dieses kleine, unerklärliche Gefühl, das nicht vergeht. Kein Verlangen. Eher eine sanfte Dankbarkeit. Für das, was war.
Und für das, was er daraus gelernt hat.

 

Er streicht sich über das Kinn, beugt sich wieder vor, beginnt weiterzutippen.
Die Welt draußen zieht ruhig vorbei. Ein Sommertag in Falkensee – hell, friedlich, leicht. Aber tief in ihm klingt ein Bild nach:

 

Zwei blaue Augen im Regen, und ein Lächeln, das selbst jetzt, in diesem stillen Büro, noch ein kleines Stück Wärme hinterlässt.

 

Ben lehnt sich zurück, streckt die Arme über den Kopf und sieht zu Kian hinüber. Der wirkt abwesend, die Hände still auf der Tastatur, der Blick irgendwo zwischen Monitor und Erinnerung verloren.

 

„Na?“ sagt Ben nach einer Weile, mit diesem Ton, der zwischen Neugier und Spott liegt. „Was geht da oben vor? Du guckst, als würdest du gerade den Sinn des Lebens debuggen.“

 

Kian blinzelt, holt aus seinen Gedanken zurück.


„Hm? Ach… nichts Wichtiges.“


„Nichts Wichtiges?“ wiederholt Ben grinsend. „Das sagst du immer, bevor du dann doch alles erzählst. Komm schon, raus damit.“

 

Kian atmet tief ein, dreht den Stuhl leicht zu ihm.


„Ich musste nur plötzlich an Elysia denken,“ sagt er ruhig. „Einfach so. Ich frag mich manchmal, was sie wohl macht. Ob’s ihr gut geht.“

 

Ben öffnet den Mund, will schon einen lockeren Spruch bringen – doch die Worte, die herauskommen, kommen zu schnell.


„Tut’s. Ihr geht’s gut.“

 

Ein Moment Stille.


Kian blinzelt, seine Stirn zieht sich zusammen.


„Wie bitte?“

 

Ben erstarrt, realisiert im selben Augenblick, was er da gerade gesagt hat. Er versucht, es mit einem Lächeln abzuschwächen, aber Kian sieht ihn direkt an.

 

„Woher weißt du das?“ fragt er ruhig – zu ruhig.

 

Ben seufzt, lehnt sich zurück, reibt sich über den Nacken.


„Verdammt,“ murmelt er, „ich wusste, das passiert irgendwann.“

 

Kian sagt nichts, wartet einfach. Das Schweigen zwischen ihnen ist schwer, aber nicht feindlich – eher dieses dichte, unausweichliche Schweigen, das entsteht, wenn Wahrheit unausweichlich wird.

 

„Hannah hat’s mir erzählt,“ sagt Ben schließlich. „Sie hat Kontakt zu ihr. Schon seit einer ganzen Weile.“

 

Kian blinzelt. „Was?“


„Sie wollte dich nicht anlügen, aber sie hat’s Elysia versprochen. Sie wollte, dass sie ihre Ruhe hat. Und ehrlich – ich wollt dich auch nicht belügen. Aber…“

 

Er bricht ab, sieht zu Boden.


„Aber du hast’s getan,“ sagt Kian leise. Kein Vorwurf, nur eine Feststellung.

 

„Ich weiß,“ sagt Ben. „Und glaub mir, ich hab’s gehasst. Aber Hannah meinte, Elysia braucht Abstand. Und sie hat’s geschafft, wieder auf die Beine zu kommen. Sie arbeitet, lebt bei ihren Eltern, alles ruhig. Ihr geht’s wirklich gut.“

 

Kian lehnt sich zurück, schaut an Ben vorbei, irgendwo ins Leere. Die Worte hallen in ihm nach – ihr geht’s gut. Es ist, als würde etwas in ihm warm und schwer zugleich.

 

„Also ist sie wirklich fort,“ sagt er nach einer Weile.


„Ja,“ antwortet Ben leise. „Und vielleicht ist das das Beste – für sie.“

 

Kian nickt langsam. Sein Blick ist ruhig, aber in seinen Augen liegt etwas, das sich nicht ganz greifen lässt – eine Mischung aus Wehmut und Erleichterung.

 

„Danke, dass du’s mir gesagt hast,“ sagt er schließlich.


Ben nickt, erleichtert, aber auch vorsichtig. „Ich hätt’s nicht ewig verheimlichen können. Du hättest’s gemerkt.“

 

„Wahrscheinlich,“ sagt Kian mit einem kleinen Lächeln. „Ich merk meistens, wenn du nervös wirst.“

 

Ben lacht leise, und für einen Moment ist die Spannung verschwunden.


Doch als Kian wieder auf den Bildschirm schaut, bleibt da ein Gedanke, der nicht weichen will:

 

Elysia lebt ihr Leben. Ohne ihn.

 

Kian versucht, sich wieder auf die Arbeit zu konzentrieren. Der Bildschirm vor ihm ist voll mit Codezeilen, aber seine Augen gleiten über die Buchstaben, ohne sie wirklich zu sehen.


Der Ventilator rauscht, – kleine Geräusche, die die Stille im Büro nur noch deutlicher machen. Seine Finger ruhen auf der Tastatur.
Doch in seinem Kopf ist längst kein Platz mehr für Arbeit. Immer wieder taucht Elysias Gesicht vor ihm auf. Jetzt wo er weiß, das Ben ihren Aufenthaltsort kennt. 


Nicht klar, sondern verschwommen, wie ein Bild, das man durch Glas betrachtet. Die Art, wie sie ihn damals angesehen hat – vorsichtig, aber offen.
Wie sie sprach, leise, mit einer Mischung aus Unsicherheit und Stärke. Und dieses Lächeln, das sie manchmal zeigte, wenn sie versuchte, ihre Angst hinter Gelassenheit zu verstecken.

 

Er lehnt sich zurück, atmet tief durch. Es ist verrückt, denkt er. Sie war nur ein paar Tage in seinem Leben – ein paar Gespräche, ein paar Blicke, ein Regenabend, den er nie vergessen hat. Und doch fühlt es sich an, als hätte sie mehr Spuren hinterlassen, als viele Menschen, die er Jahre kannte.

 

Wie wäre es wohl weitergegangen, wenn sie nicht gegangen wäre?


Wenn sie geblieben wäre – frei, gelöst von all dem, was sie gefangen hielt?


Er weiß, dass es keine Antwort gibt, und trotzdem malt sein Kopf sie aus:


Ein Treffen am See vielleicht, Kaffee im Morgengrauen, ihre Stimme, ihr Lachen. Er runzelt die Stirn, schüttelt leicht den Kopf, als wollte er die Gedanken abschütteln. Er hat Liora, erinnert er sich. Etwas Neues, Echtes, das vor ihm liegt.


Und doch… es ist, als würde ein kleiner Teil in ihm noch einmal zurückblicken, um sicherzugehen, dass er nichts Wichtiges übersehen hat.

 

Elysia hatte etwas an sich, das ihn fasziniert hat. Nicht nur ihr Aussehen – obwohl sie zweifellos schön war. Es war ihre Art, wie sie wirkte, als würde sie gegen etwas Unsichtbares kämpfen. Wie sie gleichzeitig stark und verletzlich war.

 

Kian lächelt leise.


Vielleicht war es genau das, was ihn so gefesselt hat:


Sie hat ihn daran erinnert, dass Mut nicht immer laut ist –
manchmal ist er einfach nur ein stilles „Ich geh jetzt“ in einem Moment, in dem alles schreit: „Bleib.“

 

Er tippt weiter, langsamer diesmal, die Gedanken noch immer irgendwo zwischen Vergangenheit und Gegenwart.


Und tief in ihm breitet sich ein Gefühl aus, das bittersüß ist – nicht Trauer, nicht Sehnsucht, sondern dieses stille, friedliche Wissen:


Manche Menschen begegnen einem nur kurz, aber sie verändern trotzdem, wie man auf die Welt blickt.