Falkensee - Kapitel 1
Der Himmel über Falkensee hat beschlossen, Kian Sterling auf seine eigene, nasse Art willkommen zu heißen. Seit Tagen regnet es. Nicht dieser milde Frühlingsregen, der nach Aufbruch riecht, sondern das gleichmäßige, graue Trommeln, das selbst optimistische Menschen an ihrer Entscheidung zweifeln lässt.
„Ich sag’s dir, Kian, das ist ein Zeichen!“, ruft Maik über den Motorenlärm hinweg, während er den Möbelwagen rückwärts in die Einfahrt lenkt.
„Ein Zeichen wofür?“
„Dass du besser wieder umdrehst, bevor du hier Wurzeln schlägst. Die Wolken hier haben Depressionen!“
Kian lacht, zieht die Kapuze seiner Jacke enger und schiebt die Hände in die Hosentaschen. „Dann pass ich ja perfekt her.“
Das Haus, in das er zieht, wirkt modern, fast ein bisschen zu schick für den Dauerregen. Zwei Stockwerke, große Fensterfronten, ein Flachdach mit Dachterrasse und Blick auf den See, der im Regen wie flüssiges Metall glitzert.
Die Nachbarn haben gepflegte Gärten, akkurat geschnittene Hecken, und die Luft riecht nach nassem Holz und Neuanfang.
„Schick ist es ja“, meint Maik, während sie den ersten Karton ins Wohnzimmer tragen. „Aber warum ausgerechnet Falkensee?“
„Jobangebot. Neues Büro, gutes Team. Außerdem …“, Kian bleibt kurz stehen, schaut aus dem Fenster auf das graue Wasser, „… ich wollte irgendwo hin, wo es ruhig ist. Kein Großstadtlärm, kein Hochhausblick, kein Dauerstress.“
„Ruhig ist relativ“, murmelt Maik, als irgendwo ein Hund zu bellen anfängt und Kinder lachen.
Sie stapeln Kartons, rätseln über die mysteriös beschrifteten Umzugskisten „‘Technikkram’? Das kann alles von Kabel bis Katastrophe sein.“, und irgendwann steht Maik mit einem abgebrochenen Tischbein in der Hand da.
„Na super. Das fängt ja gut an.“
„Passt schon“, meint Kian grinsend, „ich wollte eh einen Grund, endlich diesen IKEA-Fluch loszuwerden.“
Ein paar Stunden später sitzen sie auf dem Boden zwischen Pizzakartons und halb ausgepackten Kisten.
Der Regen klopft gleichmäßig gegen die großen Scheiben, der See verschmilzt mit dem Himmel, und das Haus klingt noch leer – wie ein Raum, der auf Geschichten wartet.
„Also ehrlich“, sagt Maik und stützt sich an einen Karton, „ich geb dir zwei Wochen, dann bereust du’s.“
„Möglich“, erwidert Kian und sieht hinaus in das trübe Licht. „Aber vielleicht auch nicht.“
Kian bleibt vor der großen Fensterfront stehen. Draußen tanzen die Regentropfen auf der Wasseroberfläche des Sees, jedes Platschen ein kleiner Gedanke, der sich verliert. Der Himmel ist grau, das Licht weich, beinahe silbern. Er sieht sein Spiegelbild in der Scheibe – verschwommen, aber deutlich genug, um sich selbst zu mustern.
Seine dunkelbraunen Haare sind noch vom Regen feucht, ein paar Strähnen fallen ihm in die Stirn. Der Bart, gepflegt und akkurat geschnitten, betont das kantige Kinn. Seine Augen – braun, mit diesem warmen Unterton, den man erst bemerkt, wenn man länger hinsieht – wirken müde, aber nicht leer.
Ein paar Tattoos blitzen unter dem hochgeschobenen Pulloverärmel hervor, schwarze Linien und feine Muster, Erinnerungen an Orte und Menschen, über die er lieber lacht, als zu reden.
Er zieht den Stoff seines Pullovers glatt, schaut sich an, als würde er prüfen, ob er in dieses neue Leben passt. Jeans, grauer Pullover, nichts Besonderes – aber das war ihm nie wichtig.
Er sieht aus wie jemand, der schon ein paar Umzüge hinter sich hat. Jemand, der gelernt hat, loszulassen, aber noch nicht weiß, wohin er eigentlich gehört.
Hinter ihm raschelt Maik mit einer leeren Pizzaschachtel.
„Guckst du, ob’s irgendwo trocken wird?“
„Ich überleg nur, ob man hier ankommt, wenn alles nass ist,“ murmelt Kian, ohne den Blick von seinem Spiegelbild zu nehmen.
Draußen prasselt der Regen weiter, unermüdlich, wie ein Herzschlag der Stadt.
Kian lächelt flüchtig. „Vielleicht ist das ja genau das Richtige.“
„Hilf mir mal mit dem Sofa“, sagt Kian schließlich und reißt sich vom Fenster los. Gemeinsam stemmen sie das schwere Ledersofa in die Mitte des Wohnzimmers. Das Leder riecht neu, fast zu neu, als hätte es noch nie jemand benutzt.
„Passt das so?“
Maik tritt ein paar Schritte zurück, kneift die Augen zusammen und nickt.
„Sieht aus, als hättest du Geschmack. Hätte ich dir gar nicht zugetraut.“
Kian grinst. „Ich hab dich schließlich nicht um Hilfe beim Einrichten gebeten, sondern nur beim Schleppen.“
„Und ich dachte, das gehört zusammen.“
Sie lachen, und für einen Moment klingt es, als hätte das Haus endlich etwas von seinem Echo verloren.
Danach machen sie sich an den Wohnzimmerschrank – schwarzes Holz, glänzende Oberfläche, moderne Linien.
„Wenn du den falsch zusammenbaust, steht er morgen im Internet: Design-Schrank, leicht schief, nur einmal geflucht“, murmelt Maik und sucht in der Anleitung nach dem nächsten Schritt.
„Ich hab das im Griff,“ behauptet Kian, hält aber das falsche Brett in der Hand.
Nach einer halben Stunde sitzt der Schrank schief, aber stabil.
„Perfekt,“ sagt Kian trocken. „Ein bisschen schief ist authentisch.“
„Klar,“ erwidert Maik, „passt zu dir. Charmant, aber mit einem Knick.“
Sie lassen sich auf das Sofa fallen. Der Regen trommelt gegen die Scheiben, draußen wird es langsam dunkel. Die Lampen werfen warmes Licht auf halb geöffnete Kartons und verstreute Schrauben.
„Also ehrlich, Kian“, beginnt Maik nach einer Weile, „so eine Kleinstadt … bist du sicher, dass du das aushältst? Hier kennt dich nach zwei Tagen jeder. Und wenn du einmal beim Bäcker schief guckst, weiß es die halbe Stadt, bevor du deinen Kaffee hast.“
„Klingt doch nett“, meint Kian und lächelt schief. „Vielleicht ist das genau das, was ich brauche – ein bisschen weniger Anonymität, ein bisschen mehr Echtheit.“
„Oder ein bisschen mehr Langeweile.“
„Vielleicht das auch.“
Er lehnt sich zurück, sieht wieder hinaus auf den See. Die Tropfen laufen in schmalen Bahnen die Scheibe hinunter.
„Weißt du, manchmal fühlt sich Stillstand gar nicht so schlimm an. Wenn man vorher lange genug gerannt ist.“
Maik sieht ihn an, sagt aber nichts.
Das Haus knackt leise, als würde es sich an seinen neuen Bewohner gewöhnen.
Sie haben inzwischen alles halbwegs an seinem Platz. Der Schrank steht schief, aber hält. Die Pizzakartons liegen leer auf dem Couchtisch, und der Regen draußen klingt wie ein stetiges Flüstern gegen die großen Fensterscheiben.
„Ich bleib heut hier, oder?“, fragt Maik.
„Klar. Gästebett ist oben. Und falls du’s lieber bodennah magst: Der Teppich ist flauschig.“
„Sehr witzig.“
Sie lachen, öffnen zwei Bier, lehnen sich zurück. Eine Weile hören sie nur das Prasseln des Regens und das leise Summen des Kühlschranks.
Dann sagt Kian leise: „Weißt du, ich musste einfach weg.“
Maik hebt eine Augenbraue. „Wegen Julia?“
Kian nickt. „Ich weiß, es klingt bescheuert. Aber ich konnte diese Stadt nicht mehr sehen, ohne an sie zu denken. Jedes Café, jeder verdammte Park – überall war irgendwas von uns.“
Er fährt sich mit der Hand durchs Haar. „Und ich wollte nicht mehr in Erinnerungen leben, verstehst du? Ich brauchte … Ruhe. Etwas, das nicht nach ihr riecht.“
Maik nimmt einen Schluck Bier, schaut ihn einen Moment an. „Wegen einer Frau die Stadt zu verlassen, ist schwachsinnig. Aber du warst schon immer ein bisschen anders gestrickt.“
Kian lacht kurz, ohne wirklich fröhlich zu klingen. „Ja, das hab ich gehört.“
„Ich mein’s ernst,“ sagt Maik. „Ich versteh’s nicht, aber ich respektier’s. Wenn du glaubst, dass du hier wieder klar kommst, dann mach dein Ding.“
Kian nickt dankbar. „Danke, Mann.“
„Kein Ding. Dafür sind Freunde ja da. Auch wenn du’s mir noch ewig schuldest, dass ich diesen verdammten Schrank aufgebaut hab.“
„Der steht perfekt.“
„Schief.“
„Charaktervoll.“
Sie lachen beide. Es ist ein ehrliches, erleichtertes Lachen – das erste seit langer Zeit.
Später, als Maik oben im Gästezimmer ist und das Haus langsam still wird, bleibt Kian noch unten auf dem Sofa sitzen.
Der Regen hat etwas Nachdenkliches, fast Tröstliches.
Er sieht hinaus auf den dunklen See, auf die vereinzelten Lichter, die sich im Wasser spiegeln, und denkt an Julia. Nicht wütend. Nicht traurig. Nur … still.
Vielleicht ist das hier der Anfang von etwas Neuem. Oder einfach der erste Tag, an dem er endlich aufhört, zurückzublicken.
Der Morgen ist still. Zu still. Im großen Esszimmer steht der Tisch perfekt gedeckt: weißes Porzellan, silbernes Besteck, eine Kanne dampfender Kaffee.
Draußen hängen noch Reste von Nebel über dem Garten, die Hecken sind makellos gestutzt, kein Blatt liegt schief.
Elysia sitzt am Kopfende, eine Hand um ihre Kaffeetasse gelegt. Der Duft ist stark, fast zu stark, aber sie braucht ihn, um wach zu bleiben – oder wenigstens so zu tun. Vor ihr liegt ein Brötchen, unberührt.
Sie rührt es nicht an. Sie rührt nie etwas an.
Valerian sitzt ihr gegenüber, akkurat gekleidet wie immer, in Hemd und grauer Anzughose. Er liest Zeitung, die Seiten knistern leise, jedes Umblättern klingt wie ein Schnitt durch die Stille. Er sagt nichts. Sie sagt nichts. Nur das leise Rascheln des Papiers.
Neben dem Tisch steht Frau Schubert, die Haushälterin. Sie hält diskret Abstand, aber so, dass sie jederzeit eingreifen kann – um Kaffee nachzuschenken, die Butter zu reichen oder die unberührten Teller abzuräumen, wenn der Herr fertig ist.
„Der Kaffee ist heute etwas stärker, gnädige Frau,“ sagt sie sanft.
Elysia nickt nur, ohne den Blick von der Fensterscheibe zu nehmen. Draußen perlen noch Tropfen vom Regen der Nacht an den Rosenstöcken. Die Welt sieht frisch aus, lebendig – im Gegensatz zu allem hier drinnen.
Valerian räuspert sich, klappt schließlich die Zeitung zusammen.
„Ich habe heute ein Meeting in Hamburg. Ich komme spät.“
Seine Stimme ist ruhig, kontrolliert, wie immer. Kein Hauch von Zuneigung, keine Spur von Ärger – nur sachliche Information.
„Natürlich,“ sagt Elysia leise.
Er steht auf, nimmt seine Aktentasche, nickt ihr kurz zu und verlässt den Raum. Die Haustür fällt ins Schloss.
Elysia bleibt noch einen Moment sitzen. Der Dampf ihres Kaffees hat sich verzogen. Sie streicht über das Brötchen, als könnte sie es damit beleben, dann zieht sie die Hand zurück.
Frau Schubert tritt vorsichtig näher. „Soll ich Ihnen frischen Kaffee bringen, gnädige Frau?“
Elysia lächelt müde. „Nein, danke. Der hier reicht. Der reicht völlig.“
Sie lehnt sich zurück, blickt durch das große Fenster in den grauen Morgen – und fragt sich, wann genau die Stille in ihrem Leben lauter geworden ist als jedes Wort.
Elysia bleibt sitzen, obwohl der Stuhl neben ihr längst leer ist. Der Regen draußen hat aufgehört, aber in ihr fällt er weiter. Ihr Blick wandert durch den Raum – über die makellose Tischdecke, die goldene Zuckerdose, die feinen Porzellanteller – bis er an der Kommode hängen bleibt. Dort steht ein silberner Bilderrahmen.
Das Hochzeitsfoto.
Sie steht auf, nimmt es in die Hand. Fast vier Jahre ist das her. Vier Jahre – und es fühlt sich an, als wäre es ein anderes Leben gewesen. Damals lachten sie beide. Valerian hielt sie im Arm, sie trug das Kleid ihrer Mutter, schlicht und elegant, und glaubte wirklich, dass Glück etwas ist, das bleibt. Kurz nach der Hochzeit hat sich das Blatt gewandelt. Langsam, schleichend – so wie sich Herbst in den Sommer schiebt, ohne dass man merkt, wann genau das Licht anders wurde.
Valerian wurde stiller, distanzierter. Sie wurde … dekorativer. Ein hübscher Aushang für die Öffentlichkeit, ein Lächeln auf Fotos, das nichts mehr bedeutete.
Sie betrachtet sich auf dem Bild: das blonde Haar, das in der Sonne glänzt, die strahlend blauen Augen mit den dichten Wimpern, die vollen Lippen, die ihr von Natur aus gegeben sind. Die schlanke Figur, die fast schon zu perfekt wirkt.
Alles an ihr scheint auf diesem Foto makellos – und doch sieht sie jetzt nur, wie fremd sie sich selbst geworden ist.
Sie dachte damals wirklich, dass er die große Liebe ist. Und dass sie es für ihn auch ist. Aber irgendwann blieb nur noch ein höfliches Nebeneinander, eine Ehe aus Terminen, Auftritten und schweigenden Frühstücken.
Elysia stellt den Rahmen zurück, etwas schräg, als wolle sie dem Bild den perfekten Blickwinkel nehmen. Dann sinkt sie wieder auf den Stuhl, greift nach der Kaffeetasse und flüstert kaum hörbar:
„Vier Jahre. Und kein einziger Tag, an dem ich wirklich dazugehört habe.“
Elysia nippt an ihrem Kaffee. Er ist längst kalt, aber sie trinkt ihn trotzdem, als könne das bittere Aroma sie wieder in die Gegenwart holen.
Frau Schubert beginnt, den Tisch abzuräumen. Leise, fast lautlos, wie jemand, der gelernt hat, unsichtbar zu sein. Das leise Klirren von Porzellan mischt sich mit dem Ticken der Uhr – ein vertrautes, leeres Ritual. Da vibriert etwas.
Ein leises Summen in ihrer Hosentasche. Elysia zuckt leicht zusammen, greift nach dem Handy und sieht auf das Display.
Hannah.
Ein kleines, echtes Lächeln huscht über ihre Lippen – das erste an diesem Tag.
„Endlich“, murmelt sie, bevor sie abnimmt.
„Na, Frau Gräfin?“, ertönt Hannahs Stimme am anderen Ende, hell, lebendig, ein bisschen spöttisch. „Schon wieder beim Luxusfrühstück mit dreilagiger Butter?“
Elysia schnaubt leise. „Eher beim Schweigekloster-Frühstück. Ohne Butter, ohne Worte.“
„Autsch. Klingt romantisch.“
„Wenn du Stille und ein Brötchen romantisch findest, dann ja.“
Hannah lacht – dieses ansteckende, ehrliche Lachen, das Elysia immer daran erinnert, dass es irgendwo außerhalb dieser Wände noch echtes Leben gibt.
„Ich schwöre, eines Tages schlepp ich dich da raus. Ich komme mit Kaffee, Schokolade und einem Presslufthammer, wenn’s sein muss.“
„Bitte nicht vor elf,“ sagt Elysia und lächelt schwach.
„Wie wär’s, wenn wir uns heute sehen?“
Elysia zögert. Ihr Blick wandert zur Uhr, dann zum Hochzeitsfoto auf der Kommode.
„Ich weiß nicht …“
„Elysia. Kein Ich weiß nicht. Ich kenn das. Du sitzt wieder mit deinem Designerkaffee und denkst zu viel. Komm raus. Nur kurz. Ein Spaziergang, ein bisschen Sonne, du brauchst das.“
„Ich hab keine Sonne gesehen, seit ich geheiratet hab,“ murmelt Elysia.
„Na also! Wird Zeit, dass ich dir wieder welche bring.“
Elysia lacht leise, und für einen Moment fühlt sie sich leichter.
„Ich meld mich gleich, ja?“
„Ich zähl bis drei.“
„Hannah.“
„Okay, vier.“
Das Gespräch endet, aber das Lächeln bleibt. Zum ersten Mal an diesem Morgen fühlt sich Elysia lebendig – ganz leicht, fast unmerklich, aber spürbar.
Frau Schubert stellt den letzten Teller ab, schaut sie kurz an und nickt freundlich.
„Ein schöner Tag, gnädige Frau?“
Elysia sieht aus dem Fenster, wo der Nebel sich langsam lichtet.
„Vielleicht,“ sagt sie. „Vielleicht wird er das.“
Elysia steht eine Weile vor dem Fenster, dann atmet sie tief durch. Der Entschluss kommt leise, aber bestimmt. Sie geht nach oben, öffnet ihren Kleiderschrank – alles ordentlich, farblich sortiert, ein Spiegelbild ihres Lebens. Doch heute greift sie nicht nach einem Kleid oder Blazer.
Sie zieht einen schwarzen Pullover, eine schlichte Jeans und weiße Sneaker heraus. Ein ungewohnter Anblick, selbst für sie. Der Pullover fällt weich über ihre Taille, die Jeans sitzt perfekt. Kein Schmuck, kein Parfum – nur sie selbst.
Im Flur schnappt sie sich ihre Handtasche. Frau Schubert sieht überrascht auf, als Elysia an ihr vorbeigeht.
„Soll ich Ihnen den Wagen vorfahren lassen, gnädige Frau?“
„Nein, danke, ich fahr selbst.“
Das klingt fast trotzig, und Elysia muss sich ein kleines Lächeln verkneifen. Draußen empfängt sie kühle Luft und der Duft von nasser Erde. Die Regenwolken haben sich verzogen, über den Dächern hängt ein fahler Sonnenstreifen – als würde der Tag sich gerade erst entscheiden, freundlich zu werden.
Sie tippt eine Nachricht auf ihr Handy, während sie über den Kiesweg zu ihrem Auto geht:
Elysia: Bin auf dem Weg. Kaffee am Stadtrand?
Ein paar Sekunden später vibriert das Handy.
Hannah: Perfekt. Ich bin schon da. Versuch nicht, wieder abzusagen 😉
Elysia steckt das Handy ein, öffnet die Autotür und gleitet auf den Fahrersitz. Für einen kurzen Moment sitzt sie einfach da, die Hände am Lenkrad, der Blick auf die leere Auffahrt. Dann startet sie den Motor. Das Radio springt an, eine sanfte Melodie füllt den Wagen – und mit jedem Kilometer, den sie fährt, scheint der graue Morgen ein Stück heller zu werden.
Die Landstraße ist nass, das Licht milchig. Elysia fährt langsam, als wollte sie Zeit gewinnen. Der Duft von Leder und Regen hängt im Wagen, während der Scheibenwischer gleichmäßig über die Windschutzscheibe gleitet. Mit jeder Kurve kommen Erinnerungen. Nicht an Valerian – sondern an das, was vor ihm war. Damals, als sie noch wusste, was sie wollte. Sie wollte Apothekerin werden.
Sie hatte das Studium begonnen, liebte den Geruch von Kräutern, den Gedanken, Menschen helfen zu können, ganz ohne Bühne, ganz ohne Titel.
Bis Valerian kam – charmant, ehrgeizig, überzeugend.
„Eine Frau wie du gehört nicht hinter einen Tresen, sondern an meine Seite“, hatte er gesagt. Und sie hatte es geglaubt. Also hatte sie aufgehört zu studieren. Er hatte ihr eine neue Welt gezeigt – und sie hatte ihre eigene dafür aufgegeben.
Elysia schluckt, schaltet das Radio leiser. Der Motor summt, die Bäume rauschen vorbei.
„Vielleicht,“ murmelt sie, „war ich einfach zu verliebt, um zu merken, was ich verliere.“
Als das kleine Schild „Café am Stadtrand“ auftaucht, atmet sie tief durch. Das Café liegt in einer Seitenstraße, umgeben von Bäumen, mit hellen Markisen und einer Terrasse, auf der noch Regentropfen glitzern. Kaum hat sie den Wagen geparkt und die Tür geöffnet, sieht sie Hannah durch das Fenster winken.
Ihre Freundin trägt eine bunte Strickjacke, die so gar nicht zu den gedeckten Farben von Elysias Welt passt – und genau deshalb lächelt sie. Elysia betritt das Café, und sofort umfängt sie der warme Geruch von Kaffee, Zimt und frisch gebackenem Apfelkuchen. Es ist gemütlich, lebendig – Stimmengewirr, leises Geschirrklirren. Alles fühlt sich so echt an.
„Da bist du ja endlich!“ ruft Hannah, als Elysia sich nähert. „Ich dachte schon, du hättest dich in deinem goldenen Käfig verlaufen.“
„Fast,“ antwortet Elysia und setzt sich, „aber mein Navi kennt den Weg in die Freiheit.“
Hannah lacht laut. „Dann stoßen wir auf diesen historischen Moment an!“ Sie hebt ihre Tasse.
„Mit Kaffee?“
„Koffein ist mein Champagner.“
Elysia lacht zum ersten Mal richtig. Der Klang überrascht sie selbst. Die beiden plaudern, als wäre keine Zeit vergangen – über Belangloses, über Mode, über die Nachbarin, die angeblich ihren Hund färbt, und irgendwann auch über das Leben.
„Also,“ sagt Hannah schließlich und lehnt sich vor, „wie ist es so, mit Mister Perfekt?“
Elysia rührt in ihrem Cappuccino, der Schaum ist fast verschwunden.
„Perfekt beschreibt ihn gut. Vielleicht zu gut. Es bleibt nichts Menschliches übrig.“
Hannah mustert sie, ihr Blick wird weicher. „Du weißt, dass du mehr verdienst als eine Fassade, oder?“
„Ich weiß,“ flüstert Elysia. „Ich hab’s nur zu lange vergessen.“
Sie lächeln sich an. Es ist kein fröhliches Lächeln, sondern eines, das sagt: Ich bin da. Du bist nicht allein.
Draußen bricht ein Sonnenstrahl durch die Wolken. Und in Elysias Brust breitet sich für einen Moment dieses alte, fast vergessene Gefühl aus – Hoffnung.
„Weißt du, was komisch ist?“ fragt Hannah plötzlich, während sie den letzten Rest Milchschaum mit dem Löffel umrührt.
Elysia sieht sie an. „Du meinst außer deinem Kaffee?“
„Sehr witzig. Nein, ernsthaft. In meiner Nachbarschaft ist jemand Neues eingezogen.“
„Aha.“
„Ein Mann. Alle reden schon über ihn.“
Elysia hebt eine Augenbraue, greift nach ihrer Tasse. „Natürlich. In Falkensee ist ein neuer Mensch aufgetaucht – das ist fast schon ein Feiertag.“
„Ja, lach du nur. Aber ich schwör’s dir, der Typ ist interessant. Niemand weiß, woher er kommt, was er macht – gar nichts. Er hat ein modernes Haus am See gekauft, zieht allein ein, fährt einen dunklen Wagen, aber kaum jemand hat ihn richtig gesehen.“
„Vielleicht will er einfach seine Ruhe,“ meint Elysia nüchtern.
„Oder er ist ein Spion. Oder ein Herzchirurg auf der Flucht. Oder beides.“
Elysia verdreht leicht die Augen, aber ihre Lippen zucken. „Du guckst zu viele Serien.“
„Pff. Ich nenne das Beobachtungsgabe.“
Einen Moment schweigen sie. Durch das Fenster fällt warmes Licht auf ihren Tisch, goldene Staubkörner tanzen in der Luft.
„Also wirklich kein bisschen neugierig?“ fragt Hannah schließlich.
Elysia schüttelt den Kopf. „Warum sollte ich? Ich kenne ihn nicht. Und ich hab ehrlich gesagt genug Männer in meinem Leben, über die ich nachdenken könnte – und will’s trotzdem nicht.“
„Okay, das war eindeutig ein nein mit einer großen Portion Müdigkeit.“
„Vielleicht.“
Der Gedanke an den unbekannten Nachbarn verschwindet so schnell, wie er gekommen ist.
„Ach übrigens,“ sagt Hannah, während sie ihre leere Tasse zur Seite stellt, „hast du schon vom Frühlingsfest gehört?“
Elysia runzelt die Stirn. „Frühlingsfest?“
„Na, das große Event am See! Musik, Stände, Lichter, alles Mögliche. Ich wette, die halbe Stadt wird da sein. Ich hab mir schon vorgenommen, zu viel Zuckerwatte zu essen und mindestens einmal daneben zu treten, wenn getanzt wird.“
Elysia lächelt, schüttelt den Kopf. „Du bist hoffnungslos.“
„Lebensfroh, bitte! Kommst du auch?“
„Ich weiß nicht. Valerian hasst solche Dinge.“
„Dann lass ihn zu Hause hassen. Du kommst mit mir. Punkt.“
Elysia sieht sie an, und für einen Moment überlegt sie, wirklich Ja zu sagen.
Aber dann nippt sie nur an ihrem Kaffee. „Ich schau mal.“
Hannah lehnt sich vor. „Das ist dein Problem, Lysi – du schaust mal, statt einfach zu leben.“
Elysia lacht leise. „Ich weiß. Aber es ist … kompliziert.“
„Dann machen wir’s einfach,“ sagt Hannah sanft und legt ihre Hand auf Elysias. „Ich hol dich ab. Ohne Ausreden.“
Sie reden noch eine Weile über alte Zeiten, über gemeinsame Urlaube, über Schule, Lachen, Männer, Fehler – alles, was sie verbindet.
Als sie sich schließlich vor dem Café verabschieden, ist die Sonne ganz durchgebrochen. Der Asphalt dampft leicht, die Luft riecht nach nasser Erde und Hoffnung.
„Bis bald, Gräfin,“ ruft Hannah beim Einsteigen in ihr Auto.
„Fahr vorsichtig, du Bürgerliche!“ antwortet Elysia lachend.
Sie winken sich zu, dann fährt Hannah davon.
Elysia bleibt einen Moment stehen, atmet tief ein, und spürt, dass sich irgendetwas in ihr verändert hat. Nur ein kleines Stück. Aber spürbar.
Auf der Heimfahrt summt sie leise mit, als im Radio ein Lied aus ihrer Jugend läuft. Es fühlt sich seltsam an – vertraut und fremd zugleich. Doch das Gefühl verfliegt, sobald sie in die Einfahrt rollt. Der Wagen von Valerian steht dort.
Ein kurzer Stich fährt durch sie, bevor sie die Haustür öffnet. Valerian steht in der Diele, das Jackett noch an, die Krawatte gelockert. Sein Blick ist kalt.
„Wo warst du?“
Elysia bleibt stehen, überrascht. „Ich war im Café. Mit Hannah. Ich dachte, du...“
„Ich war früher fertig,“ unterbricht er scharf. „Und komme nach Hause – und du bist weg. Ohne Bescheid zu sagen.“
„Ich dachte, du bleibst in Hamburg,“ sagt sie ruhig.
„Und du dachtest, du musst mich nicht informieren, wenn du das Haus verlässt?“
Seine Stimme bleibt kontrolliert, aber sie spürt den Ärger darunter, dieses Knistern aus Stolz und Besitzdenken.
„Valerian, ich war nur auf einen Kaffee.“
„Mit ihr,“ sagt er kühl. „Diese Freundin von dir. Die nie weiß, wann sie den Mund halten soll.“
Elysia atmet tief durch. „Hannah ist mein einziger Grund, noch rauszugehen.“
„Dann solltest du deine Gründe überdenken.“
Er wendet sich ab, hängt seine Jacke auf, so ruhig, als wäre nichts geschehen.
Elysia steht reglos da. Ihr Herz schlägt schneller, aber sie sagt nichts.
Draußen zieht sich der Himmel wieder zu. Drinnen breitet sich die alte, lähmende Stille aus – als wäre sie nie fort gewesen.
Elysia steht noch eine Weile in der Diele, bis sie Valerians Schritte im oberen Stockwerk hört. Sie atmet leise aus, stellt die Handtasche ab und geht langsam die Treppe hinauf. Jeder Schritt klingt dumpf auf dem weichen Teppich, wie eine Erinnerung, die sie nicht abschütteln kann. Das Schlafzimmer ist still.
Ordentlich, makellos – wie alles in diesem Haus.
Die schweren Vorhänge sind halb zugezogen, draußen glitzern einzelne Tropfen an der Fensterscheibe. Auf dem Nachttisch steht eine Vase mit weißen Rosen. Perfekt, wie immer. Zu perfekt.
Elysia zieht den Pullover über den Kopf, legt ihn sorgfältig über die Stuhllehne. Dann folgt die Hose und schließlich der BH. Sie zieht das Nachthemd an und geht zum Fenster. Sie öffnet das Fenster ein Stück, und die kühle Abendluft streicht über ihre Haut. Draußen riecht es nach Regen und Frühling – nach etwas, das wachsen will, auch wenn es noch kaum Licht bekommt.
Sie setzt sich auf die Bettkante, den Blick auf den dunklen Garten gerichtet.
Die Lichter der Nachbarhäuser spiegeln sich in der Fensterscheibe, und für einen Moment stellt sie sich vor, irgendwo da draußen wäre ein Ort, an dem sie einfach sie selbst sein könnte. Ohne Titel. Ohne Erwartungen.
Ein Ort, an dem sie wieder lachen würde, so wie früher mit Hannah.
Oder vielleicht jemand, der sie ansehen würde, als wäre sie mehr als ein Name in einem goldenen Rahmen.
Ein müdes Lächeln huscht über ihre Lippen.
„Was für ein Unsinn,“ flüstert sie, fast lautlos.
Dann legt sie sich hin, zieht die Decke über sich. Valerians Seite bleibt unberührt. Draußen rauscht der Wind durch die Bäume.
Elysia schließt die Augen – und während sie langsam in den Schlaf gleitet, spürt sie zum ersten Mal seit Langem, dass etwas in ihr sich leise regt. Etwas, das sie längst verloren geglaubt hatte. Vielleicht ist es Sehnsucht. Vielleicht ist es der Anfang.