Lyra & Fenris - Moonbound Kapitel 3
Die Währung der Dunkelheit wird gesucht
Der Morgen in Rosevil bringt keine Erlösung. Während Fenris sich in die kalte Stadt begibt und beginnt, den Preis der Dunkelheit zu zahlen, bleibt Lyra allein zurück - mit der Angst, der Stille und dem Wissen, dass ihre Bindung auf die Probe gestellt wird. Zwischen Verfall, Versuchung und flüchtiger Nähe wird klar: Rosevil fordert Opfer, und nur ihr gemeinsamer Anker entscheidet, wie lange sie der Finsternis noch standhalten können.
Der Morgen graut über Rosevil, nicht mit Helle und Wärme, sondern mit einem müden, kalten Licht, das kaum durch den schweren Samtvorhang des Himmelbettes dringt. Fenris ergibt sich dem unruhigen Schlaf der letzten Stunden und der schlaflosen Nacht, die dem grausamen Flüstern gewidmet war. Die flehende Stimme der Frau hallt noch immer in seinem Kopf, ein dumpfes, unheilvolles Echo der unvollendeten Geschichte des Grafenbetts.
Er hebt sich langsam aus der tiefen Vertiefung der Matratze und bleibt einen Augenblick sitzen. Das massive Eichenholz des Bettes umgibt ihn wie ein alter, prunkvoller Sarg, in dem sie die Nacht verbracht haben. Er fährt sich mit den Händen durch das kurze Haar, schüttelt leicht den Kopf, um die letzte Spur des übernatürlichen Flüsterns abzuschütteln.
Sein Blick fällt auf Lyra. Sie liegt tief in den roten Samt eingegraben, nackt und warm, ihr hübsches Gesicht ist total entspannt. Der Schmutz, der Hunger, die rastlose Flucht - alles ist von ihr abgefallen, ersetzt durch eine unschuldige, fast glückselige Ruhe. Er lächelt kurz, ein seltener, zarter Ausdruck, der schnell wieder in die Dunkelheit seiner Züge zurücksinkt. Bei dieser Frau kann er einfach nicht anders; sie holt das unbändige, schützende Gute aus ihm hervor, das er so lange verleugnet hat. Er spürt die unbändige, besitzergreifende Liebe und die klare, dringende Pflicht, die ihn nun beherrschen.
Er steht auf. Seine Muskeln schmerzen von der Anspannung der Nacht und der körperlichen Anstrengung, aber die Entschlossenheit ist kaltes Eisen in seinem Bauch.
Er muss ihr etwas zu essen besorgen, etwas zu trinken und, was am wichtigsten ist, einen Kaffee. Lyra braucht das Ritual der schwarzen, bitteren Flüssigkeit, um den Tag zu beginnen - es ist ihr ziviles Ankerseil in der schwindenden Realität von Rosevil.
Fenris zieht sich schnell an, die Bewegungen sind fließend und entschlossen. Der schwarze Rollkragenpullover verschwindet unter dem schweren Gehrock, eine Rüstung gegen die Kälte des Morgens und die Bedrohung des Unsichtbaren. Er nimmt den Schlüssel des VW Käfers. Heute geht es nicht um gestohlene Antiquitäten; heute geht es ums Überleben und ums Verständnis. Er muss die Währung der Dunkelheit finden - die Antworten, die Rosevil in seinen Steinen versteckt hält, und das Bargeld, das Lyras materielle Sicherheit garantiert. Er beugt sich über sie und küsst Lyra sanft auf die Stirn. Sie bewegt sich nicht, gefangen im tiefen, wohlverdienten Frieden der Erschöpfung.
Fenris verlässt das Haus. Die eiserne, zähnefletschende Toranlage des Friedhofs liegt direkt gegenüber, nun klar und ungeschminkt im trüben Morgenlicht sichtbar. Er schließt die Tür hinter sich, entschlossen, mit vollen Händen zurückzukommen - und mit klarem Verstand. Er geht schnellen Schrittes zu dem mattschwarzen Käfer, den sie gestern ein paar Straßen weiter stehen lassen mussten. In seinen Gedanken ist die flehende Stimme der Nacht noch präsent. Er weiß: Das war kein Traum, keine schlaflose Einbildung. Sie war da.
Fenris steigt in den Käfer. Der Motor springt mit einem tiefen, ungeduldigen Grollen an, das die makabre Stille bricht. Er fährt von der Straße weg, vorbei an alten, finsteren Gebäuden, rostigen Eisenzäunen und Skulpturen, deren Gesichter vor Jahrhunderten gestorben sind. Die flehende Stimme der Nacht hallt nach, ein unheilvoller Soundtrack. Fenris spürt, dass er Lyra nicht auf Dauer mit gestohlenem Metall und gruseligen Geschichten versorgen kann. Er braucht echte, harte Währung.
Er fährt in die Altstadt und findet schließlich den kleinen, schmalen Laden, dessen Fenster mit dicken, historisch aussehenden Holzrahmen eingefasst sind. Auf dem verblichenen Schild steht in gotischer Schrift: Kolonialwaren & Feinkost. Ein Ort, der verspricht, sowohl das Profane als auch das Geheimnisvolle zu liefern.
Fenris parkt den Käfer in einer schattigen Nische und tritt in den Laden ein. Die Luft im Kolonialwaren & Feinkost ist schwer von gemahlenen Gewürzen, altem Kaffee und dem unbestimmten Duft nach Vergangenheit. Er geht direkt zur Theke. Er weiß, dass er hier keine Maske tragen kann; die Realität ist zu kalt, die Not zu groß. Er muss ehrlich sein.
„Ich brauche einen guten Kaffee und etwas zu essen“, sagt Fenris, seine Stimme ist direkt, rau und duldet keinen Widerspruch. Er deutet auf ein Päckchen stark gerösteter, fast schwarzer Bohnen und einen trockenen Laib, dunkles Brot. „Und ich brauche es für meine Frau. Jetzt sofort.“
Hinter der Theke mustert ihn ein alter Mann mit Augen, die so grau und klar sind wie der Morgen über Rosevil. Die ursprüngliche Ruhe weicht einer schweigenden, harten Bewertung, die Fenris bis auf die Knochen spürt. „Und die Bezahlung?“, fragt der Mann, seine Stimme ist trocken wie das Brot.
Fenris zieht das zerknitterte Bündel Münzen hervor - der letzte Rest ihres profanen Geldes, das sie in Dornenkreuz gespart hatten, bevor sie alles für das Bett des Grafen verbraucht hatten. „Ich habe kein Geld. Wir sind neu in der Stadt. Ich finde Arbeit. Ich bezahle Sie morgen, bei meiner Ehre.“
Der Hunger zieht ihm selbst schmerzhaft im Bauch, eine bittere Erinnerung an die Schwäche. Aber er drückt das Gefühl nieder. Lyra kommt zuerst.
Der Mann schüttelt langsam den Kopf, und in dieser Bewegung liegt die ganze Härte Rosevils. „In dieser Stadt kauft man nicht auf Pump, junger Mann.“ Er lehnt sich über die Theke, und sein Blick wird tief und eindringlich. „Arbeit finden Sie hier nur an Orten, wo die Dunkelheit zahlt. Suchen Sie nicht nach Gold, suchen Sie nach Verfall.“
Fenris ballt die Faust in seiner Manteltasche. Die gnadenlose Ablehnung trifft ihn als direkte Wunde seiner Kontrolle. Die Wut steigt in ihm auf, kochend heiß - Wut auf die Situation, auf die nackte Unfähigkeit, seine Frau versorgen zu können, obwohl er der Dominante ist. Er steht kurz davor, den Laden wütend zu verlassen und sich das Essen einfach zu nehmen, wie er es in einer anderen, weniger zivilisierten Zeit getan hätte. Er versteht die rätselhafte Anweisung des Alten nur als kaltes Hohnlachen.
Doch der alte Mann bemerkt die Wut, die in Fenris aufsteigt, und unterbricht ihn mit einem knappen Nicken.
„Der Kaffee ist für mich“, sagt der Mann und deutet auf das Päckchen mit den stark gerösteten Bohnen. „Aber nehmen Sie das Brot und die Flasche Wasser für Ihre Frau. Das ist das Gastgeschenk von Rosevil.“ Er schiebt die Waren und ein kleines, in Papier eingewickeltes Päckchen über die Theke. „Und fragen Sie am Platz bei der Kathedrale. Dort suchen sie immer jemanden für die Gräber.“
Fenris nimmt die Waren entgegen. Er versteht die brutale Ökonomie dieser Stadt sofort: Der Mann tauscht die lebenswichtige Information gegen das Essen für Lyra. Nichts ist in Rosevil kostenlos. Die Information ist die wahre Währung.
„Ich komme morgen zurück und bezahle Sie“, sagt Fenris, nun wieder gefasst, seine Schuld ist nun offiziell besiegelt.
„Das tun Sie besser“, sagt der Mann, sein Blick ist eine kalte Warnung. „Rosevil vergisst keine Schuld.“
Fenris verlässt den Laden und geht zu seinem Wagen. Die Wut kriecht wieder in ihm auf, auf sich selbst, auf diese gnadenlose Situation. Er hat keine Münzen in der Tasche, und das Brot, das er in der Hand hält, hat schon bessere Zeiten gesehen. Er steigt in seinen Käfer und stellt die Papiertüte vorsichtig auf den Beifahrersitz.
Er fährt zum Marktplatz, der dominiert wird von der zerfallenden, gotischen Kathedrale, deren Turmspitzen wie skelettierte Finger in den trüben Himmel ragen. Er findet das Plakat. Es ist nass und teilweise verrottet, aber die schwarze Schrift ist noch lesbar: Reinigung der Krypten und Restaurierung der alten Grabstätten. Die Anweisung fordert ihn auf, sich morgen früh beim Verwalterbüro an der Nordseite der Kathedrale zu melden.
Die Währung der Dunkelheit ist gefunden: Er muss für Rosevil in den Verfall hinabsteigen.
Fenris reißt den nassen Zettel mit der Arbeitsanweisung von der Steinwand ab. Er hat das Ziel, er hat die Währung – den Verfall selbst. Sein Blick jedoch wird unwillkürlich zu dem massiven, dunklen Portal der Kathedrale gezogen. Es ist ein Mund aus Stein, der in die Ewigkeit gähnt. Dort, direkt am Eingang der Krypten, sieht er es: einen flüchtigen, hellen Schimmer, der schnell in das schattenreiche Innere huscht. Es sieht aus wie eine Gestalt in einem hellen, wallenden Kleid - ein Bruch in der monochromen Dunkelheit Rosevils.
Fenris bleibt wie angewurzelt stehen, die Hand noch immer um den zerfetzten Zettel gekrampft. Er denkt sofort an die flehende, melancholische Stimme der vergangenen Nacht. Und dann hört er es, unbestreitbar klarer und dringlicher als zuvor. Die weibliche Stimme scheint direkt aus der dunklen Tiefe der Kathedrale zu ihm aufzusteigen, wie Rauch aus einem Grab.
„Fenris.“
Sein Name. Die Stimme kommt zweifellos von dem Ort, an dem er morgen seine Arbeit beginnen wird. Er spürt einen kalten Wirbel im Bauch. Er hat die Arbeit, um Lyras weltliche Not zu stillen, und er hat nun die direkte, physische Spur auf die Frau, die in seinem Bett flüstert.
Er muss jetzt zu Lyra. Sie darf nichts von der Stimme wissen - noch nicht. Die Realität des Übernatürlichen würde sie erschrecken, bevor sie gestärkt ist. Zuerst braucht sie den heiligen Ritus des Kaffees.
Lyra kommt langsam aus dem tiefen, schweren Schlaf zurück. Es ist kein sanfter Übergang des Erwachens, sondern ein jähes, inneres Hochfahren, ein Ruck, der sie in die kalte Realität katapultiert.
Sie schreckt hoch. Die dunkle, monströse Eiche des Himmelbetts ragt über ihr auf wie ein Galgen. Der rote Samt fühlt sich fremd, fast feucht an unter ihrer Haut. Ihr erster, instinktiver Griff sucht das Vertraute, doch er findet nur leere, kühle Matratze neben sich.
Fenris ist weg.
Für einen Moment muss sie sich orientieren. Wo sind sie? Die letzten drei Tage verschwimmen zwischen Dornenkreuz, dem Knatterns des VW Käfer und der wunden, erfüllten Erinnerung an die Nacht, die sie in diesem Bett verbracht hat. Sie ist in Rosevil, im Bett des Grafen, und sie ist allein.
Lyra setzt sich auf. Die schwere, rote Samtdecke rutscht von ihrem Oberkörper herab, eine rote Flutwelle, die ihre Blässe entblößt. Die beißende Kälte des Zimmers trifft ihre nackte Haut sofort, und sie beginnt, unkontrolliert zu frösteln. Das Gefühl ist unangenehm, aber es ist auch eine schmerzhafte, physische Erinnerung an ihre materielle Not - der Hunger, die Kälte, die Leere.
Sie zieht die Decke schnell wieder bis zum Kinn hoch, umhüllt sich mit dem dicken, fremden Stoff, der einzige Schutz vor dem Haus. Lyra blickt sich um. Die graue Leere des Zimmers wirkt bedrohlich, die unbearbeiteten Wände und der schmutzige Boden sprechen wieder die Sprache des Ekels, die sie gestern Abend vergessen hatte.
„Fenris?“, ruft sie. Ihre Stimme ist heiser von der Leidenschaft der Nacht, und der einzelne Laut verliert sich sofort in der hohen, gähnenden Decke des alten Hauses.
Keine Antwort.
Die Angst kriecht in ihr hoch, kalt und scharf. Es ist nicht die Angst vor Rosevil, nicht die Furcht vor dem Übernatürlichen, sondern die urängstliche Furcht vor der Abwesenheit ihres Ankers. Er darf nicht weg sein. Er darf sie nicht alleine lassen, nicht in dieser Stadt, die sie mit ihrer morbiden Schönheit angezogen und gleichzeitig verschlungen hat.
Sie lauscht in die totale Stille. Nur das leise, unheimliche Knistern des alten Holzes antwortet ihr - das Haus selbst scheint zu flüstern, doch es gibt keine Auskunft.
Lyra schwingt die Beine aus dem Bett. Die wunde Empfindlichkeit zwischen ihren Schenkeln ist eine sofortige, scharfe Erinnerung an die letzte, heiße Kontrolle seiner Dominanz. Sie greift nach dem schweren, schwarzen Gehrock, den Fenris gestern achtlos fallen ließ, und zieht ihn über ihre nackten Schultern. Der Stoff riecht nach seinem Moschus, nach seinem Schweiß und nach der feuchten Kälte von draußen - er ist lebendig, aber nicht hier.
Sie muss ihn finden.
Lyra zieht Fenris’ Gehrock enger um sich, seine Wärme ist ihr einziger Schild, und beginnt die Suche. Das Haus ist ein kaltes, dunkles Labyrinth aus leeren Räumen und Staub. Die ungemütliche Schönheit des Verfalls macht das Alleinsein beinahe unerträglich.
Sie geht durch die lange, schmale Diele. Der Boden knarrt verräterisch unter ihren nackten Füßen, und die Kälte kriecht unerbittlich aus den Dielen empor. Sie prüft die Tür zum Salon - leer. Sie prüft die Tür zum Esszimmer - nur geisterhafte Möbelkonturen unter Laken.
Fenris ist nicht hier.
Als sie den hinteren Teil des Flurs erreicht, stoppt Lyra abrupt. Ein kalter Luftzug, der anders riecht als der Moder des Hauses - erdiger, älter, nach abgeschlossenem Raum - trifft ihre nackten Füße. Versteckt hinter einer alten, vertäfelten Wand, die früher wohl eine Garderobe war, entdeckt sie eine niedrige, massive Holztür. Sie ist mit einem verrosteten Riegel gesichert und verschwindet fast vollständig im Schatten.
Lyra tritt näher. Sie spürt die unheimliche Kälte, die von dem Holz ausgeht, eine Kälte, die keine profane Raumtemperatur kennt. Sie zieht den schweren, verrosteten Riegel zurück. Das metallische Quietschen, das dabei entsteht, schneidet wie eine Klinge durch die tödliche Stille des Morgens. Die Tür steht einen Spalt offen und enthüllt eine dunkle, steinerne Treppe, die in eine noch tiefere, undurchdringliche Finsternis führt. Der Keller. Oder etwas Schlimmeres.
Lyra presst die Lippen aufeinander, ihre Entschlossenheit ist eisern. Das Haus ist unheimlich, die letzte Nacht war von dunkler Magie erfüllt, und nun flüstert dieser geöffnete Spalt eine neue, unbestimmte Gefahr, die in die Substanz Rosevils reicht. Sie schüttelt den Kopf, die Entscheidung ist sofort klar.
„Nicht ohne Fenris“, murmelt sie. Ihre eigene heisere Stimme ist ihr eine Bestätigung, ein Akt der Loyalität gegenüber der Dominanz, die sie so dringend braucht. Er ist die Klinge, sie ist der Griff; sie sucht keine Geheimnisse ohne ihn. Sie schiebt den Riegel fest zurück in die Verankerung, versperrt die dunkle Tür wieder und wendet sich ab, weg von der Kälte und dem Flüstern des Untergrunds. Fenris kommt zuerst, dann die Geheimnisse von Rosevil.
Sie geht in den Raum, der einmal eine Küche war. Hier herrschen Chaos und Verfall, ungebremst und absolut. Die alten, fettigen Oberflächen der Arbeitsplatten, die abgeplatzten Fliesen und der stechende Geruch von moderndem Holz und Rost überwältigen Lyra erneut, ein direkter Angriff auf ihren sensiblen Geist.
Ein erneuter, scharfer Ekel packt Lyra, härter als der Hunger, der in ihrem Bauch nagt. Sie schlingt den schweren, warmen Gehrock fester um sich, eine symbolische Umarmung Fenris', der ihr einziger Anker in dieser Verkommenheit ist.
Sie blickt auf den Schmutz und trifft eine kalte, unumstößliche Entscheidung, die tiefer liegt als jede rationale Überlegung. Ihr Zuhause darf kein Drecksloch sein. Ihre Ästhetik ist die Morbidität, ihr Stil die Gothic-Romantik, doch ihr Leben ist die Ordnung. Sie braucht das dunkle Ambiente, das Düstere, die Schwere der Historie, aber es muss warm, gemütlich und vor allem sauber sein. Das ist das Fundament ihrer Existenz, die feste Platte, auf der sie das Chaos ihres Lebens ordnet. Das wird das Fundament ihrer Zeit in Rosevil sein. Sie muss warten. Aber wenn Fenris zurückkommt, beginnt die Schlacht gegen den Schmutz - der erste, dringlichste Kampf in dieser neuen, verfluchten Stadt.
Fenris schließt die Haustür leise hinter sich. Das Geräusch hallt nicht, es wird von den schweren, alten Mauern sofort verschluckt. Er trägt die Beute in seinen Händen, die weltliche Währung des Überlebens: das Päckchen starken, dunklen Kaffees, die Flasche Wasser und das eingewickelte, trockene Brot. In der Innentasche seines Gehrocks steckt der nass gewordene Zettel für die Kryptenreinigung, und in seinem Kopf hallt unaufhörlich die flehende Stimme der Frau aus der Kathedrale.
Er geht durch die Diele, und sein Blick fällt sofort auf die niedrige, massive Kellertür am Ende des Ganges. Der Riegel ist fest vorgeschoben. Ihm entgeht nicht, dass er ihn nicht geschlossen zurückgelassen hatte. Lyra war wach, und sie hat gesucht. Sie hat die kalte Schwelle der Geheimnisse Rosevils berührt und sich zurückgezogen.
Als er das Schlafzimmer passiert, findet er Lyra nicht im Samt des Grafenbettes. Sie steht in der Küche, am kalten Herd, fest in seinem Gehrock gehüllt, ihre Haltung ist angespannt und von einer scharfen Wut auf den allgegenwärtigen Schmutz geprägt. Sie sieht ihn nicht sofort, ihre Konzentration ist auf die feindselige Unordnung des Raumes gerichtet.
Fenris stellt die Lebensmittel auf die schmutzige Arbeitsplatte. Das Knistern des Papiers und die Stille seines Auftauchens lassen Lyra zusammenfahren, ihre Anspannung bricht sich Bahn. Lyra dreht sich um. Ihre Augen leuchten nicht nur vor der nackten Erleichterung, ihn gefunden zu haben. Sie leuchten auch vor einer neuen, unerschütterlichen Entschlossenheit, die sie aus der Begegnung mit dem Ekel gewonnen hat.
„Du warst weg“, sagt Lyra. Ihre Stimme ist tief und heiser, ein Echo der Angst, die sie durchlebte. Es ist keine Frage, sondern eine scharfe Feststellung der totalen Verletzlichkeit, die sie ohne ihn empfindet.
Fenris tritt an sie heran und nimmt sie in die Arme, drückt sie fest an sich. Er spürt die Kälte ihrer Haut unter dem schweren Gehrock. „Ich war jagen, meine Lyra“, raunt er ihr ins Haar. „Ich konnte dich nicht hungern lassen.“ Er löst sich, und die physische Verbindung bricht ab. Er deutet auf die Arbeitsplatte, wo die Waren liegen. „Kaffee. Stark. Und Brot. Das ist das Profane. Der Rest folgt.“
Lyra mustert die bescheidenen Waren. Sie ignoriert das trockene Brot und greift sofort nach dem Kaffeepäckchen, als wäre es ein Heiligtum. „Wie hast du bezahlt? Ich dachte, wir sind pleite, dass alles für das Bett draufging.“
Fenris lächelt kurz, ein dunkler Zug um die Lippen, aber die Anspannung bleibt wie gespannter Draht in seinen Augen. „Rosevil zahlt in Schuld. Der Kolonialwarenhändler hat mir einen Kredit gegeben. Er erwartet die Bezahlung morgen.“
Er holt den freuchten Zettel aus seinem Mantel. Er hält ihn nicht geheim, sondern zeigt ihn ihr - eine volle Offenbarung seiner Pläne.
„Das ist der Weg zur Währung der Dunkelheit, Lyra. Morgen früh melde ich mich am Verwalterbüro der Kathedrale. Reinigung der Krypten.“
Lyra sieht den Zettel an, die Worte über den Verfall und die Gräber. Dann blickt sie auf den Sack mit dem schwarzen Kaffee. Sie versteht die Transaktion sofort: Er hat ihre dringendsten, weltlichen Bedürfnisse getauscht gegen die direkte Konfrontation mit dem Ort, der die Geheimnisse dieser Stadt hütet.
Ihre anfängliche Wut auf den Schmutz und die Verlassenheit weicht nun einer klaren, pragmatischen Entschlossenheit. Sie sind im Spiel.
„Gut“, sagt Lyra. Sie atmet tief durch, und die kalte, modrige Luft erfüllt ihre Lungen. Sie sieht sich in der schmutzigen Küche um. „Dann kümmerst du dich um die Dunkelheit von Rosevil, Fenris. Und ich kümmere mich darum, dass unser Zuhause nicht die Dunkelheit selbst ist.“
Sie nimmt das Päckchen Kaffee und das Brot entgegen, aber anstatt sich auszuruhen oder sofort zu essen, beginnt sie augenblicklich zu handeln. Ihre Pragmatik ist ein Sturm, der den Schmutz vertreiben soll. Sie findet den alten, verrosteten Gaskocher und die Flasche Wasser, die Fenris gebracht hat. Sie stellt den Kocher auf und beginnt, das Wasser zu erhitzen. Das leise, stetige Zischen wirkt wie ein Anker in der Stille des alten Hauses. Der tiefe, erdige Geruch des dunklen Kaffees, als sie das Päckchen öffnet, beginnt langsam, den Muff des Hauses zu verdrängen – ein starkes, bitteres Versprechen auf Normalität.
Während das leise, metallische Zischen des Kochers die Stille füllt, durchsucht Lyra die leeren Küchenschränke. „Wir brauchen Geschirr“, murmelt sie. „Ich trinke keinen Kaffee aus den Händen.“
Sie wird in einem unteren, staubbedeckten Schrank fündig. Sie zieht drei Teller und zwei Tassen hervor. Das Porzellan ist weiß, aber antik und schwer, mit feinen, dunklen Ornamenten. Einer Tasse fehlt der Henkel, die andere ist am Rand angeschlagen, aber es ist intaktes, nutzbares Material.
Lyra sammelt das Geschirr ein und geht ins Bad, da der Wasserhahn dort noch warmes Wasser spendet. Sie beginnt die Tassen und Teller abzuspülen. Das Wasser, das in das verstopfte Waschbecken läuft, färbt sich sofort dick und grau vom Staub der Jahrzehnte - ein erster, kleiner Sieg gegen den Verfall.
Fenris bleibt in der Küche stehen und spricht durch den offenen Flur zu ihr, während sie das graue Wasser über das Porzellan laufen lässt. Er weiß, dass Lyra jetzt Ablenkung braucht - eine Struktur, eine Geschichte, die den Schrecken der Realität überlagert.
„Der Kaufmann hat mich auf die Kathedrale verwiesen“, beginnt Fenris, seine Stimme ist ruhig und fest. „Und du weißt, was das bedeutet. Die Legende stimmt. Die Krypten verbinden alles.“ Er lehnt sich gegen den Türrahmen, seine Haltung ist die des Erzählers. „Ich wette, die Kathedrale ist die letzte Ruhestätte des Grafen Lorcan. Er fiel in einen tiefen Schlaf, erinnere dich. Sie sperrten ihn ein, weil seine Wollust zu groß wurde - eine ewige Bedrohung für Rosevil.“
Lyra schrubbt das Porzellan mit dem Ende eines Handtuchs ab, die Bewegungen sind konzentriert, lauscht aber aufmerksam. Ihre Augen brennen vor einer Mischung aus Skepsis und morbider Faszination.
„Und stell dir vor“, fährt Fenris fort, seine Stimme wird leise und dringlich. Er zieht sie in das dunkle Netz seiner Erzählung. „Die junge Frau, die er zerbrach, liegt nicht neben ihm, weil ihr Geist niemals Ruhe fand. Sie wandert. Sie weint in den Gängen, in den Mauern des Hauses, auf der Suche nach einem starken, neuen Anker, um sich an ihm zu laben. Nach einem Erlöser.“
Fenris weiß genau, dass er die Angst, die er selbst in der Nacht erlitten hat - die flehende, unheimliche Stimme - nun bewusst mit der Legende vermischt. Er baut einen neuen, düsteren Rahmen für ihre Ankunft in Rosevil, einen, in dem ihre eigene, leidenschaftliche Verbindung eine Rolle im Kampf gegen die Vergangenheit spielen muss.
Lyra kommt mit dem frisch gespülten Geschirr aus dem Bad zurück. Die Ecken der Tassen glänzen nun weiß und unschuldig, ein scharfer Kontrast zum Schmutz, und der aufsteigende Geruch des Kaffees zieht sie unwiderstehlich an.
„Und du bist der Erlöser“, stellt Lyra fest, ihre Stimme ist flach und wissend. Sie stellt das Geschirr vorsichtig auf die schmutzigen Oberflächen. „Aber du wirst mich in den Krypten nicht finden. Ich bin kein Opfer, das auf Erlösung wartet.“
„Nein“, sagt Fenris. Er nimmt ihre Tasse, füllt den gemahlenen Kaffee ein und gießt dann das heiße Wasser darauf. Er stellt die Tasse vor ihr ab, seine Augen halten ihren Blick fest.
„Du bist die Belohnung.“
Sie nehmen das erste, heiße, schwarze Ritual des Tages entgegen. Der Kaffee ist stark, er verbrennt ihre Zungen und erweckt ihre Geister, ein bitterer Trank, der die Klarheit in ihre Köpfe zurückbringt.
Fenris setzt sich auf einen der dunklen, schmutzigen Küchenstühle, die sie provisorisch in die Diele gezogen haben. Er hält seine Tasse fest, der Kaffee gibt ihm die dringend benötigte Klarheit, um die Geschichte der Nacht und die Pläne des Morgens zu ordnen. Lyra stellt ihre Tasse neben ihn. Sie nimmt ein Stück des trockenen Brotes, und der Hunger, der die ganze Nacht unterdrückt wurde, drängt sie nun zur Eile.
„Wir brauchen alles“, sagt Lyra schließlich, die Augen fixieren die leere, dreckige Wand der Küche. „Putzmittel, Essen, Kerzen. Wir haben nichts, Fenris. Außer dem Bett und dem Rost.“
„Ich weiß“, antwortet Fenris, seine Stimme ist ernst und frei von Beschönigung. „Ich hole den Vorschuss. Die Krypten sind nur der Anfang. Wir brauchen eine echte Quelle - eine Quelle, die Rosevil nährt.“
Lyra geht auf ihn zu. Sie ist immer noch nackt unter dem dunklen Gehrock, der nur lose durch den Gürtel gehalten wird. Der heiße Kaffee und die tiefe Erfüllung der Nacht haben ihr die nötige, selbstbewusste Kühnheit gegeben, die sie so verführerisch macht. Sie bleibt vor ihm stehen. Ohne Eile öffnet sie den Gürtel des Gehrocks. Der Mantel fällt leicht auseinander, enthüllt ihre nackte Form im trüben Morgenlicht, eine bewusste Provokation, die alle Pläne beiseiteschiebt.
Fenris’ Blick ist sofort dunkel und fixiert, gefangen von ihrer Offenbarung. Er nimmt einen langsamen Zug Kaffee, um seine Entschlossenheit und seine Kontrolle nicht zu verlieren. Er mustert ihre Brüste, ihre Taille, die leichte Röte auf ihrer Haut, die von den Spuren der Nacht stammt.
„Du bist ungezogen“, sagt er dunkel. Es ist keine Rüge, sondern eine Feststellung der Kontrolle, die er genießt, wenn sie seine Regeln bricht.
Lyra zuckt nur mit den Schultern, der Gehrock fällt weiter auseinander, bis er fast offen steht. Sie antwortet nicht mit Worten. Stattdessen setzt sie sich breitbeinig auf seinen Schoß, das Gesicht ihm zugewandt. Die Kälte ihrer nackten Haut trifft ihn durch den dünnen Stoff seiner Hose, ein unmittelbarer Schock. Die nackte, erregende Berührung ist ein direkter Bruch mit der dringenden Realität des Tages.
Fenris’ Blick wird sofort schwarz. Die eiserne Kontrolle droht ihm zu entgleiten. Das ist ihre Art, ihn daran zu erinnern, dass er die Belohnung schuldet, und dass ihre Leidenschaft die einzige Währung ist, die stärker ist als jeder Hunger.
„Wir hatten einen Plan, Lyra“, murmelt er, seine Hand greift automatisch nach ihrer Hüfte, um sie fest an Ort und Stelle zu fixieren.
„Das ist der Plan“, flüstert Lyra, ihre Augen leuchten nun intensiv wie der dunkle Kaffee, der in der Tasse dampft.
Fenris versucht, seinen Blick auf die kalte Kaffeetasse zu richten, auf die dringende Pflicht, die an der Kathedrale wartet, aber es ist unmöglich. Er ist der Beherrscher, der Anker, der Fels - doch bei dieser Frau verliert er manchmal die Kontrolle. Lyra löst etwas in ihm aus, das er nicht übergehen kann: eine ursprüngliche, unbändige Leidenschaft, die ihn in seiner Dominanz verletzlich macht.
Er gibt nach. Der innere Kampf bricht abrupt ab, ein Akt der totalen, willentlichen Kapitulation.
Er stellt die Tasse mit einem lauten Klacken auf den Tisch. Das Geräusch ist ein Manifest seines Entschlusses. Er wirft seine Arme um ihren Rücken, zieht sie eng an sich. Sein Mund findet ihren mit einer gewalttätigen, fordernden Zärtlichkeit. Es ist nicht die kontrollierte, sadistische Lust der letzten Nacht, sondern die leidenschaftliche, fast desperate Gier eines zutiefst verliebten Paares, das sich in dieser gottlosen Welt aneinander festklammert.
Der Kuss ist tief und ununterbrochen, ein Versprechen, das nur durch Atemnot gebrochen werden kann. Lyra antwortet sofort, ihre Arme schlingen sich fest um seinen Nacken. Die Kälte der Umgebung weicht der Hitze, die zwischen ihren verschlungenen Körpern entsteht. Das nackte Gefühl ihrer Haut auf seinem Schoß erdet ihn, erinnert ihn daran, wofür er kämpft: diese unbezahlbare, intime Flamme inmitten des totalen Verfalls.
Als er sich von ihr löst, keucht Lyra, ihre Lippen sind feucht und rot, die Oberfläche des Lebens, das sie gemeinsam führen. Fenris starrt sie an, seine Augen sind dunkel von den Selbstvorwürfen, die Kontrolle verloren zu haben, und der reinen, unerschütterlichen Liebe, die ihn antreibt.
„Genug“, sagt er heiser. Die Stimme ist tief und autoritär, ein notwendiges Brechen des Moments. „Ich muss die Währung holen, damit du nicht in meinem Gehrock frierst und wir diesen Kampf gewinnen.“
Er greift ihre Hüften und hebt sie sanft von seinem Schoß. Lyra wehrt sich nicht; ihre Unterwerfung ist nun ein Akt der Stärke, ein Beitrag zum Plan. Sie steht neben dem Stuhl, der Gehrock fällt wieder um ihre nackten Beine. Die feuchte, brennende Erinnerung an den Kuss schwebt zwischen ihnen, eine zerbrechliche Brücke zwischen Liebe und Notwendigkeit.
Fenris nimmt den Zettel und die Schlüssel. Er geht zur Tür.
„Ich komme zurück“, sagt er. Es ist mehr als ein Versprechen an Lyra; es ist ein Befehl an das Schicksal Rosevils und an die flehende Stimme der Vergangenheit, die er in den Krypten konfrontieren muss.