Lyra &  Fenris - Moonbound      Kapitel 4

Stimmen im Stein


Fenris stellt sich dem Verfall Rosevils und nimmt Arbeit in den Krypten der Kathedrale an, um Geld zu verdienen - und Antworten zu finden. Tief unter der Erde begegnet er nicht nur körperlicher Dunkelheit, sondern einer Stimme, die seinen größten Schwachpunkt kennt: Lyra. Während er in den Grabkammern ein Zeichen entdeckt, das ihre Ankunft in dieser Stadt bestätigt, beginnt das Übernatürliche gezielt, seine Kontrolle zu untergraben. Zurück im Haus festigt sich ihr Bund neu – zwischen Ordnung, Dominanz und der Gewissheit, dass die Toten bereits nach ihnen greifen.


Fenris schließt die Haustür leise hinter sich. Das Geräusch hallt nicht; es stirbt in den dicken Wänden, die so viele Geheimnisse verschlingen. Der Kaffee brennt heiß und schwarz in seinem Bauch, und der leidenschaftliche Kuss Lyras liegt noch wie eine heiße Spur auf seinen Lippen. Diese unvermittelte, ehrliche Liebe ist seine stärkste Waffe gegen die unheimliche, abweisende Gleichgültigkeit Rosevils.

 

Er geht zum Käfer, seine Schritte sind zielgerichtet und hart. Die flehende Stimme der Frau aus der Krypta ist verstummt, doch ihre unheilvolle Aufforderung schwingt mit jedem Schritt mit, eine stumme Last.

Fenris fährt durch die Altstadt. Der Morgen ist immer noch grau und feucht, das Licht hat keine Kraft, die Schatten zu vertreiben. Er erreicht den Marktplatz, der von der zerfallenden Kathedrale dominiert wird. Das Gebäude ist riesig, seine gotischen Strebebögen sind gebrochen, und die steinernen Gargoyles blicken mit leeren, moosbewachsenen Augen auf den Platz - sie sind die ewigen, stummen Zeugen des Verfalls.

 

Er parkt in einer dunklen Gasse und steigt aus. Er spürt die Kälte, die von dem alten, heiligen Stein ausgeht, eine Kälte, die bis in die Knochen dringt.

Fenris findet das Verwalterbüro an der Nordseite der Kathedrale - ein kleiner, unscheinbarer Anbau aus rotem Backstein, der einen brutalen, profanen Kontrast zur gotischen Pracht bildet. Die Tür ist einfach, aber solide, ein Riegel zwischen der Außenwelt und den inneren Abläufen des Todes.

 

Er klopft kurz und tritt ein.

 

Das Büro ist überraschend warm, eine Blase profaner Behaglichkeit inmitten der gotischen Kälte. Es ist schlicht möbliert: ein großer, unaufgeräumter Schreibtisch, Stapel von Dokumenten und der Geruch von altem Papier. An dem Schreibtisch sitzt ein Mann. Er ist nicht alt wie der Kolonialwarenhändler, sondern Mitte vierzig, seine Kleidung ist sauber, aber abgenutzt. Er hat die müden, ungeduldigen Augen eines Mannes, der jeden Tag mit dem Tod und dem Verfall der Stadt arbeitet - ein Archivar des Untergangs.

 

„Ja?“, fragt der Mann, ohne von den Dokumenten aufzusehen.

 

Fenris legt den zerknitterten Zettel mit der Ausschreibung auf den Schreibtisch. „Ich komme wegen der Arbeit in den Krypten und der Restaurierung der Grabstätten.“

 

Der Mann sieht Fenris nun an. Sein Blick ist schnell und bewertend, er mustert den teuren, schwarzen Gehrock und die unbestreitbare Dominanz in Fenris’ Haltung - die Aura eines Mannes, der nicht für andere arbeitet.

 

„Wir suchen keine Architekten, sondern starke Arme“, stellt der Mann mit einem Anflug von Spott fest. „Das ist keine feine Arbeit. Es ist schmutzig, dunkel und gefährlich. Und die Bezahlung ist bar und täglich - aber dürftig.“

 

„Ich bin stark“, antwortet Fenris, und in dieser Aussage liegt eine unerschütterliche Härte. „Und ich bin gewohnt, in der Dunkelheit zu arbeiten.“ Er lässt die Unwahrheit über die „dunkle Arbeit“ als eine halbe Wahrheit stehen - seine Arbeit ist die des Schutzes, die im Geheimen stattfindet.

 

Der Mann nickt, die Bewertung abgeschlossen. Er greift zu einem vergilbten Formular. „Name? Adresse? Ich muss wissen, wo Sie wohnen - falls Sie in den Krypten bleiben wollen.“

 

Fenris gibt ihm die Details mit entspannter, kontrollierter Haltung. Er versteht: Die Formalitäten sind eine weitere Kontrolle Rosevils, ein Versuch, ihn in das Netzwerk des Verfalls einzubinden.

 

„Gut“, sagt der Mann. Er stempelt das Formular ab, ohne es Fenris zur Unterschrift vorzulegen. „Sie fangen heute an. Gehen Sie umgehend zum Krypteneingang im Hauptschiff. Dort treffen Sie meinen Vorarbeiter, Elias. Er wird Sie einweisen.“ Der Mann lehnt sich vor, seine müden Augen fixieren Fenris. „Und vergessen Sie nicht: Keine Fragen. Kein Reden. Nur Arbeit. Wir brauchen keine neugierigen Geister, die die Toten stören.“

 

Fenris nimmt das Arbeitsformular entgegen. Er hat die Währung der Dunkelheit gefunden - harte Arbeit im Angesicht des Verfalls. Nun muss er wieder zurück zur Kathedrale, um nicht nur Geld zu verdienen, sondern auch die flehende Stimme zu finden, die Lyra in seinem Bett heimsucht.

 

Fenris kehrt zum Haus zurück, nicht um zu verweilen, sondern um Lyra kurz Bescheid zu geben und sofort wieder aufzubrechen. Er findet sie nicht mehr im tiefen Samt des Bettes, sondern in der Küche. Die nackte, leidenschaftliche Stille ist vorbei; nun herrscht zielgerichtete, fast fanatische Energie.

 

Fenris kehrt zum Haus zurück, nicht um zu verweilen, sondern um Lyra kurz Bescheid zu geben und sofort wieder aufzubrechen. Er findet sie nicht mehr im tiefen Samt des Bettes, sondern in der Küche. Die nackte, leidenschaftliche Stille ist vorbei; nun herrscht zielgerichtete, fast fanatische Energie.

 

Sie hat seinen schweren Gehrock gegen eines ihrer dunklen, fließenden Kleider getauscht - der dünne Stoff ist für die Arbeit bequemer, eine schattenhafte Kontur, die ihre Entschlossenheit nicht mindert. In der Hand hält sie den rostigen, eisernen Stab, den sie vom Friedhof gestohlen haben, nun umfunktioniert zum Reinigungsgerät. Sie hat bereits begonnen, mit einem Eimer Wasser und einem Handtuch die schlimmsten Fettflecken von der schmutzigen Arbeitsplatte zu schrubben.

 

„Ich habe den Job“, sagt Fenris, seine Stimme ist schnell, um die Dringlichkeit des Augenblicks zu vermitteln. „Kryptenreinigung. Ich fange sofort an. Ich hole das Geld heute Abend.“

 

Lyra sieht von ihrer Sklavenarbeit auf. Ihre Augen glänzen nicht vor Wehmut oder Angst, sondern vor kluger, pragmatischer Entschlossenheit. Sie ist nicht die Hilflose, die er gerade beschützt; sie ist die Hüterin des Heims.

 

„Geh“, sagt sie. Ihr Ton ist ruhig und autoritär, eine direkte Spiegelung seiner eigenen Dominanz. „Ich kümmere mich um das Zuhause. Wenn du zurückkommst, ist es hoffentlich sauber und wartet auf dich.“

 

Sie legt den Lappen zur Seite und geht zu ihm. Sie umarmt ihn kurz und intensiv, eine physische Bestätigung ihres Paktes, der über die bloße Ehe hinausgeht und in die dunkle, geteilte Dominanz reicht.

 

„Sei vorsichtig“, flüstert sie gegen seine Schulter, die dunklen Stoffe ihrer Kleider reiben aneinander. „Die Stimme gehört nicht dir. Suche nicht, was dich bricht.“

 

Fenris nickt. Er weiß, dass Lyra von der Stimme weiß, ohne dass er es ihr jemals sagen muss. Ihre Verbindung ist tiefer als rationale Kommunikation; ihre intime Beherrschung schließt Geheimnisse aus.

 

„Ich bin der Anker“, sagt Fenris mit der notwendigen Härte, die in seinen Worten liegt. „Ich hole das Geld und die Antworten. Ich lasse nichts von Rosevil zwischen uns treten.“

 

Er löst sich von ihr. Er verlässt sie mit der Schuld beim Kaufmann, die wie ein kalter Stein auf ihm lastet, und die flehende Stimme, die ihn unwiderstehlich in die Tiefe der Krypten zieht.

 

Fenris sitzt am Steuer des Käfers. Die kurze, intensive Berührung von Lyra hat seine Sinne geschärft und seine Entschlossenheit zementiert. Er steuert erneut auf die zerfallende Silhouette der Kathedrale zu.

Doch während die Motoren brummen, kriecht die Erinnerung an die Stimme der vergangenen Nacht wieder in sein Bewusstsein. Es ist, als hätte er ihre Worte nicht nur im Ohr, sondern auf seiner Haut gespürt.

Es war eine weibliche Stimme, deren tonloser Klang reine, schmerzhafte Verzweiflung trug. Sie hatte nur seinen Namen geflüstert - tief aus der Dunkelheit, in der er geschlafen hatte.

 

„Fenris...“

 

„Fenris, hilf mir.“

 

Fenris ballt das Lenkrad fester. Es ist die direkte, ungefilterte Not, die ihn aufwühlt - und die Frage, warum sie seinen Namen kannte, warum sie ihn, den Anker, so direkt anrief. Das ist keine zufällige Begegnung; das ist eine gezielte Anziehung durch das Übernatürliche. Er, der Beherrscher, wird in die Tiefe gerufen, um eine andere Frau zu retten.

 

Aber Lyra ist der einzige Anker, den er willentlich hält. Die Frau in der Krypta ist nur ein Echo, eine Aufgabe, die bezahlt werden muss.

Er parkt den Wagen in der Gasse. Er steigt aus und lässt die Kälte der steinernen Kathedrale auf sich wirken. Er ist bereit für die Dunkelheit.

 

Fenris geht zum Hauptportal der Kathedrale. Er tritt ein, und das Innere ist von einer düsteren, kalten Pracht. Das Licht fällt nur spärlich durch die gesplitterten, farbigen Glasfenster und beleuchtet den dicken, grauen Staub, der wie ein Leichentuch auf allem liegt. Die Luft ist kalt, trocken und riecht nach Weihrauch, Stein und Ewigkeit.

 

Fenris findet den Krypteneingang im nördlichen Querschiff - eine breite, steinerne Öffnung, die von einem schweren, schmiedeeisernen Gitter gesichert wird. Dort, vor diesem Eingang zum Totenreich, wartet bereits ein großer, hagerer Mann mit einem dunklen Bart und kalten Augen, die wenig Schlaf gesehen haben.

 

Das muss Elias sein.

 

„Sie sind der Neue?“, fragt Elias, seine Stimme ist tief und gelangweilt, als würde er mit einem weiteren notwendigen Übel des Verfalls umgehen. „Sie sehen nicht nach einem Kryptenreiniger aus.“

 

„Ich bin stark“, wiederholt Fenris, seine Antwort ist kurz und unumstößlich. „Und ich bin pünktlich.“

 

Elias mustert ihn kurz, dann zückt er einen massiven Eisenschlüssel und schließt das Gitter auf. Das metallische Knarren hallt laut durch das riesige Kirchenschiff, als würde ein Grab geöffnet.

 

„Kein Reden. Nur Arbeit“, befiehlt Elias, seine Stimme ist die Stimme der Autorität in dieser Dunkelheit. Er reicht Fenris eine alte, dicke Taschenlampe und zeigt auf eine rostige, schwere Schubkarre, die am Gitter lehnt. „Sie arbeiten im zweiten Quadranten. Entfernen Sie den Schutt aus den Gängen. Und bleiben Sie bei der Arbeit. Es gibt hier Dinge, die nicht wollen, dass man sie stört.“

 

Die unheimliche Warnung bleibt unkommentiert. Fenris nimmt die Ausrüstung. Das Gewicht der Taschenlampe ist tröstlich, das Gewicht der Schubkarre ist ehrlich. Er schiebt sie in die Dunkelheit des Krypteneingangs.

 

Der Gang führt steil nach unten, eine Spirale aus Stein in die Ewigkeit. Die kalte, feuchte Luft schlägt Fenris entgegen wie ein körperloser Geist. Die Arbeit ist gefunden. Nun beginnt die Jagd nach der Stimme des Grafenbetts, die hier im Dunkeln Zuflucht gesucht hat.

 

Die Taschenlampe wirft einen schwachen, zitternden Kegel in die Finsternis, der kaum gegen die überwältigende, seit Äonen ruhende Dunkelheit der Krypten ankommt. Die Kälte, die ihn umgibt, ist nicht die Kälte der Luft, sondern die Kälte des Steins, der seit Jahrhunderten die Toten umschließt – eine ewige, gnadenlose Kälte.

 

Der Geruch ist intensiv: eine beklemmende Mischung aus feuchtem Kalk, scharfem Moder und einem süßlichen, metallischen Geruch, den Fenris nicht identifizieren kann - ein Duft, der von Verwesung und möglicherweise von etwas anderem, etwas Lebendigem, zeugt.

 

Der Hauptgang führt in ein Labyrinth aus niedrigen Gewölben. Die Decke ist feucht, und an den Wänden sind unzählige Steinsarkophage und gemauerte Nischen aufgereiht. Das Licht der Lampe fällt auf unleserliche, schwarze Inschriften und verwitterte Wappen, die die Geschichte Rosevils erzählen, eine Geschichte des tiefen Schlafes.

 

Fenris findet den zweiten Quadranten. Er ist ein Teil der Krypta, der durch einen Steinschlag massiv beschädigt wurde. Überall liegen Schutt, gebrochene Steinplatten und zerbrochene Holzsärge herum. Die Arbeit ist genau so schmutzig und hart, wie Elias gesagt hat - eine brutale Konfrontation mit dem Verfall.

 

Er stellt die Schubkarre ab und beginnt sofort mit der Arbeit. Er braucht die körperliche Anstrengung, um seinen Kopf von Lyras Hunger und der unheilvollen Stimme freizubekommen. Er hebt große, schwere Stücke Stein auf und wirft sie mit einem Krachen in die Karre. Die Arbeit ist eine rohe, ehrliche Bestätigung seiner Stärke.

 

Während er arbeitet, untersucht Fenris jeden Zentimeter des Quadranten. Er sucht nicht nur nach einer einfacheren Arbeit; er sucht nach einer Spur der Frau, deren flehendes Flüstern ihn bis hierher begleitet hat.

Er findet an den feuchten Wänden keine Anzeichen von frischer Bewegung, nur den dicken, grauen Staub der Jahrhunderte. Doch als er einen besonders schweren, zerbrochenen Sarkophagdeckel anhebt, um ihn in die Karre zu wuchten, sieht er es:

 

Unter dem Deckel, wo der Stein vor dem Licht und der Zeit geschützt war, entdeckt er eine feine, kaum sichtbare Ritzung. Es ist nicht das Wappen eines Grafen oder ein religiöses Symbol. Es ist das stilisierte, zerrissene Kreissymbol, das Lyra und er gestern auf dem Kopfsteinpflaster entdeckt haben - das Zeichen, das sie in diese Stadt gelockt hatte.

 

Fenris bleibt wie angewurzelt stehen. Die Taschenlampe zittert leicht in seiner Hand. Die Verbindung ist da: Das Geheimnis der Oberfläche reicht tief in die Grabkammern Rosevils hinab.

 

Fenris zieht das Skizzenbuch und den Stift aus seinem Mantel. Er arbeitet schnell, die Bewegungen sind präzise. Er zeichnet die feine Ritzung sorgfältig ab - das stilisierte, zerrissene Kreissymbol, das nun auch tief unter der Erde seine Signatur hinterlässt.

 

Als er gerade die letzte Linie zieht, hören seine Ohren es wieder. Es ist kein Flüstern mehr, sondern ein leises, klagendes Wimmern, das von weit her kommt, ein Echo aus kalten Steinkammern. Es ist die Stimme. Sie ist nicht in diesem Quadranten, aber sie ist in der Krypta.

 

Fenris atmet tief durch. Er steckt den Stift weg. Die Jagd hat begonnen. Er weiß, er sollte tiefer in die Gänge gehen - aber nicht heute. Heute muss er die profanste aller Pflichten erfüllen: Er holt das Geld, damit Lyra etwas zu essen bekommt. Er schiebt die Schubkarre zur Seite, seine Haltung ist die des verantwortungsvollen Ankers. Die Antworten müssen warten, aber die Pflicht nicht.

 

Da ist es wieder. Das leise, klagende Wimmern der fremden Frau, intensiver, näher. Es kommt von weit her, aber es ist unverkennbar. Fenris stellt die volle Schubkarre ab. Er kann der Versuchung nicht widerstehen. Das Geld kann warten, die Antwort nicht. Die direkte Herausforderung der Stimme ist stärker als jeder Befehl.

 

Er nimmt die Taschenlampe und ignoriert Elias’ Befehl, bei der Arbeit zu bleiben. Er schlüpft durch eine niedrige, feuchte Öffnung in einen unbekannten Gang. Die Luft wird hier noch dicker und kälter, der süßliche, metallische Geruch nimmt zu. Die Gänge verzweigen sich sofort, ein echtes Labyrinth des Todes, und Fenris ist eingetreten.

 

Er geht nicht schnell, prüft jeden Schritt. Die Lampe tanzt über Reihen von Steinsärgen, deren Inhalt seit Jahrhunderten in der Kälte ruht. Er ist nun tief im Bauch der Kathedrale, in der ewigen Kälte.

Die fremde, klagende Stimme ist verstummt. Fenris ist fast enttäuscht von der abrupten Stille, als er plötzlich etwas anderes hört. Es ist nicht das Wimmern der erlösungsbedürftigen Frau. Es ist Lyras Stimme. Klar und deutlich, direkt neben ihm.

 

„Fenris... wo bist du?“

 

Der Laut ist so echt, so unmittelbar, dass Fenris’ Herz einen Schlag aussetzt. Er reißt die Lampe herum, leuchtet panisch in die Dunkelheit, erwartet Lyra, die sich ihm aus Sorge an diesen verbotenen Ort angeschlossen hat. Aber es ist niemand da. Nur kalter Stein und das Echo seiner eigenen, aufkeimenden Panik.

 

Fenris ist sonst abgebrüht, ein Mann der Dunkelheit, aber das geht ihm nah. Lyra ist sein Anker, sein Zentrum. Wenn diese Krypten beginnen, ihre Stimme zu imitieren, sie als Waffe einzusetzen, dann ist die Gefahr größer, als er angenommen hat.

 

„Lyra!“, ruft er leise, seine Stimme ist tief und rau in dem nassen Gang.

 

Er hört nur die Antwort des Steins  - die leise, spöttische Wiederholung seines eigenen Rufes. Er dreht sich abrupt um. Er hat genug gesehen. Der Feind kennt nun seinen größten Schwachpunkt. Er muss zurück. Er muss das Geld holen und Lyra schützen. Die weitere Erkundung muss warten.

 

Fenris dreht sich abrupt um. Die Stimme Lyras hallt noch in der Dunkelheit nach, eine klare, schmerzhafte Warnung. Er ist sofort wieder der kühle, pragmatische Mann - aber mit einer neuen, brennenden Dringlichkeit. Die Krypten greifen nach seinem Anker.

 

Er findet schnell den Weg zurück in den zweiten Quadranten. Er arbeitet nun nicht mehr vorsichtig, sondern mit brutaler Geschwindigkeit. Er nimmt die schwersten Steinbrocken und wirft sie mit einem Krachen in die Karre, seine Muskeln schmerzen, aber er ignoriert den Schmerz. Er braucht das Geld. Er braucht Lyras Sicherheit.

 

Die Angst, Lyra allein in diesem Haus zurückgelassen zu haben, während die Krypten mit ihrer Stimme spielen, treibt ihn an. Diese Furcht ist eine stärkere Peitsche als jede Ermahnung.

 

Er beendet seine Schicht eine halbe Stunde vorzeitig. Er schiebt die letzte volle Schubkarre zurück in das Hauptschiff und findet Elias am Gitter.

 

Elias mustert die dunklen Schweißflecken auf Fenris’ Hemd und die Anspannung in seiner Kieferpartie, die von mehr als nur körperlicher Anstrengung zeugt. „Frühschluss? Sie sind schnell, für einen Mann, der keine Ahnung von Verfall hatte.“

 

„Die Arbeit ist erledigt“, sagt Fenris, seine Stimme ist flach, hart wie der Stein, den er den ganzen Tag geschleppt hat.

 

Elias geht nicht auf die Lüge ein, dass die gesamte Schicht gefüllt wurde. Er nimmt ein schweres Lederetui aus seiner Innentasche und zählt Fenris den ausgemachten Tageslohn aus. Die Währung ist anders als die modernen Banknoten; sie riecht nach Kupfer und liegt schwer in seiner Hand, eine archaische Bezahlung für eine archaische Arbeit.

 

„Sie kommen morgen wieder?“, fragt Elias.

 

„Ja“, antwortet Fenris. „Ich komme morgen wieder.“ Er holt sich die Antworten, die er braucht, aber nicht heute. Er hat eine viel dringendere Pflicht. Er geht nicht, ohne noch eine Frage zu stellen, eine letzte, beiläufige Notiz. „Der zweite Quadrant. Gibt es eine Geschichte zu dem Stein dort? Ist er besonders?“

 

Elias lächelt nicht. Seine Lippen verziehen sich nur zu einer dünnen Linie. „Überall hier gibt es Geschichten. Bleiben Sie bei der Arbeit, und die Geschichten bleiben stumm.“

 

Fenris nimmt die Warnung hin. Er verlässt die Kathedrale, das schwere Geld drückt in seiner Tasche - ein kleines, kaltes Gewicht gegen die große Angst, die in seinem Bauch nagt.

Er fährt schnell zurück zum Haus. Die Schuld beim Kaufmann muss sofort beglichen werden, aber Lyra kommt zuerst.

 

Fenris rast durch die engen Gassen Rosevils. Das schwere Geld in seiner Tasche bedeutet Sicherheit, aber die Stimme, die Lyras Namen in den Krypten angenommen hat, bedeutet höchste Gefahr. Seine Gedanken kreisen, schwarz und schnell wie die Räder des Wagens.

 

Ist sie in Sicherheit? Ist sie allein? Haben die Toten sie schon berührt?

 

Die Angst ist ein kalter, nagender Schmerz. Er ist der Anker, der Domineur, der Beschützer, aber er hat seinen wertvollsten Besitz allein gelassen, während die Fäulnis der Stadt versuchte, ihn mit der Stimme seiner Liebhaberin zu brechen. Er fährt viel zu schnell, riskiert jede Kurve, weil jede Sekunde zählt, die er braucht, um zu ihr zurückzukehren. Endlich reißt er den Käfer vor dem Haus auf den Schotter.

 

Fenris parkt den Wagen und eilt zur Haustür. Die Tür ist verschlossen. Er tritt ein. Die Diele ist noch dunkel, aber die Luft ist anders. Sie riecht nicht mehr nach kaltem Moder, sondern nach Putzmittel und scharfem Bleichmittel. Lyra hat den Kampf gegen den Verfall begonnen - den äußeren Kampf, während er den inneren gekämpft hat.

 

Lyra kommt ihm aus der Dunkelheit der Diele entgegen. Sie trägt immer noch das dünne, dunkle Kleid, ihre Hände sind rot und nass vom Kampf gegen den Schmutz der Jahrhunderte.

 

„Ich habe die Küche entfettet“, sagt sie, ihre Augen glänzen stolz. „Die Ordnung hat begonnen. Wir haben jetzt ein Zuhause, in dem die Keime des Verfalls nicht herrschen.“

 

Fenris lässt das schwere Geld und die schmerzhafte Täuschung der Kryptenstimme augenblicklich zurücktreten. Er nimmt Lyra in die Arme, zieht sie eng an seine schmutzige Brust. Der Gestank von Moder und Kalk von seiner Kleidung vermischt sich mit dem scharfen Duft von Bleichmittel auf ihrer Haut.

 

Lyra ist verwundert. Fenris nimmt sie selten so spontan und ohne direkten Wunsch in den Arm; meistens geht die Geste der Zärtlichkeit von ihr aus. Sie spürt die untypische, fast desperate Enge seiner Umarmung und weiß, dass irgendetwas in den Krypten geschehen ist, das ihn erschüttert hat. Doch sie sagt nichts. Sie genießt die unerwartete Nähe und lächelt ihn nur sanft an. Lyra wird nicht nachfragen, denn sie weiß, dass er alles erzählen wird, wenn die Zeit dafür reif ist, wenn der Kontrollverlust verarbeitet ist.

 

„Wir bezahlen jetzt den Kaufmann“, sagt Fenris, seine Stimme ist tief und zufrieden, nun, da er sie wieder spürt. „Und dann essen wir.“

 

Er hat Geld bekommen. Und er hat seinen Anker zurück, unversehrt und stärker als die Toten.


Fenris lässt Lyra nicht los. Sie gehen zu Fuß los, eng umschlungen. Er hat das schwere Geld in seiner Tasche, aber das Gefühl der Sicherheit ist zerbrechlich. Er hat Lyra in den Armen, aber die Angst, dass die Krypten sie auf irgendeine Weise berühren könnten, lässt ihn nicht los. Er spürt die Notwendigkeit, das intime Geheimnis zu teilen, das ihn in den Steinmauern fast gebrochen hätte.

 

„Ich muss dir etwas sagen“, beginnt Fenris, seine Stimme ist niedrig, nur für ihre Ohren bestimmt. Er lehnt seinen Kopf gegen ihren, während sie gehen. „In der Krypta... habe ich dich gehört.“

 

Lyra verharrt nicht in ihrem Schritt, aber ihre Schultern versteifen sich kurz. Sie hat es geahnt. Das desperate Umarmen, die ungewohnte Härte in seinen Augen - es war keine Müdigkeit.

 

„Es war nicht dein Flüstern“, fährt Fenris fort. „Es war deine Stimme. Klar. Direkt. Es hat mich gerufen. Es hat gefragt, wo ich bin.“

 

Lyra nickt langsam. Sie schaut nicht auf, sieht nur ihre Füße, die über das feuchte Kopfsteinpflaster Rosevils gehen. „Die Frau in der Krypta“, flüstert sie. „Sie weiß, wie man dich berührt, Fenris. Sie will dich nicht als Erlöser. Sie will dich als Anker. Und sie weiß, dass ich dein Anker bin.“

 

Ihre Worte sind keine Eifersucht, sondern eine klinische Analyse des Feindes. Fenris drückt sie noch enger an sich, die Enge der Umarmung ist nun ein Schutzkreis gegen die Geister.

 

„Deshalb muss ich sie finden“, sagt Fenris. „Und deshalb bist du heute Nacht keine Sekunde allein in diesem Haus. Wir bezahlen den Kaufmann und dann bleiben wir zusammen. Keine Lektionen heute. Nur wir.“

 

Lyra lächelt, das Lächeln ist tief und erfüllt. Das intime Wissen, das sie teilen, ist mächtiger als jede dunkle Macht in Rosevil.

 

Den restlichen Weg zum Kaufmann hängt jeder seinen Gedanken nach. Fenris in tiefer Sorge, Lyra hingegen sieht das Ganze eher gelassen und mit einer prickelnden, dunklen Spannung. Das ist so viel mehr, als sie von diesem verfallenen Ort erwartet hat - ein Haus im Bann, eine Kathedrale voller Geheimnisse und nun ein Geist mit einer Stimme, die die tiefste Intimität ihres Geliebten attackiert. Das gibt es sonst nur in Fantasy-Romanen, die sie nachts gelesen hat. Dies ist ihr Leben, ihre düstere Geschichte.

 

Sie erreichen den Kolonialwarenladen. Fenris öffnet Lyra die Tür mit der Geste eines Beschützers, der sie keinen Moment aus den Augen lässt. Sie treten in den muffigen Laden ein.

Fenris tritt an den Tresen, legt das kupferriechende, schwere Geld wortlos auf die Theke und tilgt die Schuld. Der Kaufmann nimmt das Geld mit derselben unbewegten Gleichgültigkeit entgegen wie tags zuvor.

Danach beginnen sie, Lebensmittel einzukaufen, die sie für den täglichen Bedarf benötigen. Lyra wählt, Fenris bezahlt. Sie bewegen sich durch die schmalen Gänge, die dunklen Konserven und staubigen Flaschen.

 

„Wir brauchen Kerzen“, sagt Lyra, ihre Stimme ist leise. „Wenn das Licht in diesem Haus ausfällt, kann ich dir die Dunkelheit nicht kontrollieren helfen.“

 

Fenris nickt, während er eine Packung Kaffee in den Korb legt, der so schwarz und stark ist wie ihre Verbindung. „Und das scharfe Putzmittel. Ich habe den Geruch bemerkt.“

 

„Wir können keine Krankheiten bekommen“, antwortet Lyra, ihre Hand streift seine. „Wir müssen stark sein, um diesen Ort zu beherrschen. Die Dunkelheit muss draußen bleiben, Fenris. Auch die des Verfalls.“

 

Sie kaufen Mehl, Brot und das Nötigste für ein einfaches Abendessen. Das Gespräch ist pragmatisch, aber jeder Blick, jede flüchtige Berührung ist aufgeladen mit der gemeinsamen Gefahr, die nun nicht mehr nur im Haus, sondern in den Krypten lauert und ihre Liebe direkt angreift.

 

Fenris bezahlt die Waren. Er legt die Handvoll schwerer, alter Münzen aus seiner Tasche auf den Tresen – alles, was er an Bargeld von Elias erhalten hat. Das Metall riecht nach Kupfer und Krypta. Er hat keine modernen Scheine mehr, nur dieses archaische, schwere Geld, das in Rosevil vielleicht mehr wert ist als jede moderne Banknote.

 

Der Kaufmann hält inne. Er sieht die Münzen an, dann Fenris. Es ist eine archaische Währung, die die Hände der Totengräber berührt hat.

 

„Eine Frage“, sagt Fenris, seine Stimme ist tief und neutral, während Lyra die Kerzen und das Bleichmittel in die Tasche sortiert. „Ich war heute an der Kathedrale. Dort passieren seltsame Dinge. Gibt es hier im Dorf Gerüchte über Ungewöhnliches? Über... Stimmen?“

 

Der Kaufmann, ein hagerer Mann mit einem Bart, hebt kaum die Augen. Er schiebt die Münzen in seine Kasse, als würde er mit einem faulen Gut umgehen. Seine Lippen bewegen sich mechanisch, als hätte er diese Antwort schon tausendmal gegeben. „Rosevil ist alt, Fremder. Sehr alt. Hier herrscht der Verfall. Die Steine reden. Die Toten bewegen sich im Wind.“

 

Er sieht Fenris nun doch direkt an, seine Augen sind leer und doch wissend. „Die Leute hier sprechen von einem Fluch. Vom Grafen Lorcan und seiner Wollust, die die Stadt vergiftet hat. Wir hören hier viele Stimmen, Fremder. Die Frage ist, wessen Stimme dich ruft.“

 

Lyra legt ihm unbemerkt die Hand auf den Arm, ihre Geste ist eine stille Aufforderung zur Vorsicht.

 

Fenris verarbeitet die Antwort schnell. Der Kaufmann hat das Gerücht der flüsternden Frau bestätigt, aber es verallgemeinert.

 

„Danke“, sagt Fenris nur.

 

Er nimmt die Tasche und führt Lyra schnell aus dem Laden. Die Zahlung mit dem Kryptengeld hat eine stumme Kommunikation zwischen ihnen hergestellt.

 

Fenris und Lyra machen sich auf den Weg zurück zum Haus, die Taschen mit den Lebensmitteln und den Kerzen gefüllt. Fenris ist nicht entspannt. Die Worte des Kaufmanns und die akustische Attacke in der Krypta brennen in seinem Kopf.

 

„Du verlässt das Haus nicht“, sagt Fenris, seine Stimme ist tief, beinahe rau. Er hält sie fester am Arm, seine Finger drücken leicht in ihre Haut, um seine Entschlossenheit zu unterstreichen. „Nicht, solange ich an der Kathedrale bin. Du bleibst drinnen, Lyra.“

 

„Fenris“, protestiert Lyra sofort, ihre Augen funkeln. „Ich kann nicht in diesem Haus festsitzen, ich brauche Luft. Ich bin keine Gefangene. Ich habe das Zeichen gefunden, ich kann helfen.“

 

„Das Zeichen im Stein war die Antwort der Toten auf deine Anwesenheit“, zischt Fenris. Er hält inne, dreht sie zu sich. Seine Augen sind dunkel, der Domineur kommt mit brutaler Klarheit durch. „Die Krypten kennen meinen Schwachpunkt jetzt. Sie haben deine Stimme gegen mich verwendet. Wenn du das Haus verlässt, setzt du dich der Gefahr aus, die sie nutzen wollen.“

 

Sein Ton lässt keinen Widerspruch zu. „In diesem Punkt gibt es keine Widerworte. Ich bin der Anker, Lyra. Ich muss sicherstellen, dass du nicht brichst oder gestohlen wirst, während ich unter der Erde bin. Du bleibst in diesem Haus, bis wir wissen, was hier vor sich geht. Das ist ein Befehl.“

 

Lyra spürt die unverrückbare Dominanz in seinen Worten. Sie ist enttäuscht, aber sie respektiert die unmittelbare Notwendigkeit dieses Paktes. Sie nickt, ihre Augen sind herausfordernd, aber ihre Lippen formen keine weiteren Proteste.

 

„Verstanden“, flüstert Lyra.

 

Sie erreichen ihr Haus und Fenris öffnet ihr die Tür. Er merkt an der steifen Art, wie Lyra die Schwelle überschreitet, dass sie mit seinem Entschluss, sie einzusperren, nicht einverstanden ist. Ihre Unabhängigkeit ist verletzt, aber seine Entscheidung ist kompromisslos. Es ist zu ihrer Sicherheit. Zumindest solange, bis er herausgefunden hat, was die Stimme ihm wirklich sagen will und ob sie eine Bedrohung für ihren Bund darstellt.

 

Sie bringen die Einkäufe in die Küche. Die geputzte  Arbeitsplatte glänzt hell und unschuldig unter den neuen Kerzen, die Lyra sofort entzündet. Sie räumen die Lebensmittel zusammen weg - Fenris der Schweigsame, der die schweren Dosen verstaut; Lyra die Präzise, die die Gewürze ordnet.

 

Die Stimmung zwischen ihnen ist kühler als sonst, die leidenschaftliche Hitze des Morgens ist einem gespannten, stillen Frieden gewichen. Lyras Stille ist keine Unterwerfung, sondern eine strategische Pause, ein Zeichen dafür, dass sie diesen Kampf zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufnehmen wird. Fenris spürt ihren Widerstand wie einen leichten Zug an seiner Dominanz, aber er weiß, dass er richtig gehandelt hat.

 

Sie beginnen mit dem Kochen. Es ist ein einfaches Ritual - das Brot, das sie kauften, wird in Scheiben geschnitten, Wasser wird für den starken, schwarzen Kaffee erhitzt, und sie bereiten ein spärliches, aber nahrhaftes Gericht aus den neu erworbenen Zutaten zu.

 

Die körperliche Tätigkeit bietet ihnen eine neutrale Zone. Lyra zerteilt das Gemüse mit schnellen, präzisen Bewegungen, ihre Konzentration liegt ganz auf der Arbeit. Fenris beobachtet sie, die Hände nun sauber vom Kryptenschmutz. Der Kontrast zwischen ihrer zarten Form und der resoluten Art, mit der sie das Messer führt, ist ihm eine ständige Faszination.

 

Während das Essen köchelt und der Dampf die neue Reinheit der Küche erfüllt, lockert sich die Spannung allmählich. Die Wärme des Herdes ist eine willkommene Barriere gegen die Kälte des Hauses und die Kälte der Krypten.

 

„Hast du den Namen des Grafen Lorcan gefunden?“, fragt Lyra schließlich, ohne aufzublicken. Sie spricht über die Legende, nicht über die Stimme.

 

Fenris nimmt den Topf vom Herd, sein Blick ist fest. „Ich habe einen Teil des Rätsels gefunden. Aber nicht im Hauptgang. Nach dem Essen zeige ich dir, was tief unter der Kathedrale auf dem Sarkophagdeckel eingeritzt ist.“

 

Lyra nickt. Die Jagd wird nicht in der Krypta fortgesetzt, sondern hier, am Tisch, durch die Analyse der wenigen Hinweise, die Fenris mitgebracht hat. Das ist ihre geteilte Stärke: Leidenschaft im Bett, strategische Analyse am Tisch.

 

Sie setzen sich an den kleinen Tisch. Das Essen ist einfach, aber durch die gemeinsame Anstrengung und die Kerzen, deren flackerndes Licht die Schatten tanzen lässt, wirkt es feierlich. Sie essen schweigend einen Moment lang, genährt von der Wärme und der physischen Nähe.

 

„Ich habe mir das Haus angesehen, während du fort warst“, beginnt Lyra schließlich, ihre Stimme ist wieder sanfter, die Rebellion ist für den Moment begraben. „Diese Mauern sind alt, und sie wollen den Verfall. Aber wir werden sie beherrschen.“

 

Fenris sieht sie fragend an.

 

„Ich werde Ordnung schaffen“, fährt Lyra fort, ihre Augen leuchten mit einem inneren Feuer, das die romantische Gotik ihrer Seele widerspiegelt. „Nicht hell und modern, nein. Aber es wird uns gehören. Schwarze Seide, schwere Samtvorhänge gegen das Licht, nur das Nötigste, das uns dient. Eine dunkle, romantische Enklave gegen die Hässlichkeit da draußen. Ein sinnlicher Zufluchtsort, den die Geister der Kathedrale nicht erreichen können.“

 

Fenris nickt, ein zufriedenes, dunkles Lächeln umspielt seine Lippen. Das ist genau die Art von Dominanz, die er liebt -  die Transformation des Verfalls in eine exquisite, intime Kontrolle. „Das Haus ist deine Domäne. Du machst es zu unserem Anker. Ich sorge dafür, dass wir genug Geld haben, um es nach unserem Willen zu formen.“

 

Sie stoßen mit ihren Tassen an - ein Pakt.

 

„Und wie geht es morgen weiter?“, fragt Lyra. „Du gehst zurück in die Krypten, zur Stimme.“

 

„Ich muss“, bestätigt Fenris. „Ich gehe tiefer. Ich weiß jetzt, dass ich nach einem bestimmten Grab suche, einem mit dem Zeichen, und nicht nach einem allgemeinen Flüstern. Ich finde die Herkunft der Stimme. Du bleibst hier, Lyra. Und du beginnst, unser Reich zu erschaffen.“

 

Die Anspannung ist gewichen. Die Zukunft, auch wenn sie dunkel und gefährlich ist, ist nun ein gemeinsames Projekt.

 

Nach dem einfachen Mahl schiebt Fenris seinen Teller beiseite. Das Gespräch über die Erschaffung ihres dunklen Zufluchtsortes hat die Distanz zwischen ihnen beseitigt. Jetzt kehren sie zur kalten, strategischen Analyse zurück.

Fenris zieht das kleine, dunkle Skizzenbuch aus seinem Mantel. Er öffnet es auf der Seite, auf der er unter dem zitternden Licht der Taschenlampe gearbeitet hat, und schiebt es Lyra zu.

 

„Das habe ich gefunden“, sagt er, seine Stimme ist niedrig. „Unter einem zerbrochenen Sarkophagdeckel, vor dem Schutt geschützt.“

 

Lyra beugt sich über das Buch. Das Kerzenlicht wirft einen orangefarbenen Schimmer auf die Zeichnung. Es ist das stilisierte, zerrissene Kreissymbol, das sie am ersten Tag auf dem Kopfsteinpflaster entdeckt hatten. Hier, gezeichnet von seiner Hand, wirkt es brutaler, tiefer in den Stein geätzt.

 

„Das ist das Zeichen“, flüstert Lyra, ihre Finger fahren nicht über die Zeichnung, als würde sie befürchten, es zu berühren. „Der Schlüssel. Es ist eine Signatur, Fenris. Jemand in den Krypten gehört zu diesem Pakt. Oder war es.“

 

Fenris sieht sie an, seine Augen sind fordernd. „Und was bedeutet es für dich?“

 

Lyra hebt den Blick. „Es ist kein Wappen, das den Rang zeigt. Es ist eine Bindung. Eine, die absichtlich gebrochen wurde. Der Kreis ist die Kontrolle, die vollständige Beherrschung. Und die Risse… die sind die Flucht, die verzweifelte Auflehnung.“

 

Sie deutet auf die Zeichnung. „Die Stimme hat dich gerufen, Fenris. Weil du Kontrolle bist. Du bist der Anker. Sie braucht deine Stärke, um ihren eigenen gebrochenen Pakt wiederherzustellen oder um ihn endgültig zu zerstören. Wir gehen morgen nicht nur in ein Grab. Wir gehen in die Geschichte ihrer Unterwerfung.“

 

Fenris spürt einen kalten Schauer, der nichts mit der Temperatur des Raumes zu tun hat. Die Krypten sind nicht nur ein Friedhof, sondern ein Ort intimer, dunkler Geschichte.

 

„Dann weiß ich, wo ich morgen suchen muss“, sagt Fenris. Er nimmt das Skizzenbuch zurück. „Nach dem Namen, der zu diesem Symbol gehört.“

 

Der Plan für morgen steht, nun muss der Anker für die Nacht gelegt werden.

 

„Ich brauche deine Hilfe bei der Gestaltung, Fenris“, sagt Lyra, ihre Stimme ist nun leicht und verlockend. Sie steht auf und beginnt, die Kerzen im Raum neu zu arrangieren, um die Schatten dramatischer zu werfen. „Kein helles Licht. Die Fenster müssen verschwinden. Ich brauche schweren schwarzen Samt, der jeden Lichtstrahl und jeden Blick von außen absorbiert. Wir werden die Wände nicht streichen, sondern sie in dunkle, kohlschwarze Seide hüllen, damit sie die Kälte behalten, aber sie unsere Intimität umschließen.“

 

Fenris steht ebenfalls auf und tritt hinter sie. Er legt seine Hände auf ihre Schultern, sein Blick folgt ihren Gesten im Kerzenschein. „Schwarze Romantik“, murmelt er zustimmend. „Ein Sarkophag, der uns gehört.“

 

„Genau“, haucht Lyra. „Ein sinnlicher Bunker. Alles, was wir kaufen, muss eine Geschichte erzählen, muss schwer und echt sein. So wie unser Pakt. Kein Tand, der zerbricht, wenn die Geister des Grafen Lorcan versuchen, einzudringen.“

 

Sie dreht sich in seinen Armen um. Die Spannung des Tages, die durch seinen Befehl entstanden war, schmilzt nun in der Wärme der Kerzen und der Konkretisierung ihrer gemeinsamen Zukunft.

 

Fenris zieht sie hart an sich. „Heute hast du meinen Befehl akzeptiert“, flüstert er gegen ihren Mund. „Du bist meine Sicherheit. Und jetzt hole ich mir meine Belohnung.“

 

Sein Kuss ist nicht zärtlich, sondern fordernd, eine Rückforderung der Kontrolle, die die Stimme ihm zu nehmen versucht hat. Lyra erwidert ihn mit der vollen, hingebungsvollen Leidenschaft, die er braucht. Sie spürt die Angst, die noch immer in seinen Muskeln sitzt, und die Art, wie er sich an sie klammert, ist die höchste Form der Dominanz, die er ihr geben kann: das Eingeständnis, dass er sie braucht, um ganz zu sein.

 

Ihre Finger vergraben sich in seinem Nacken. Der Geruch von Kupfer, Krypta und Bleichmittel verschwindet. Alles, was bleibt, ist der Geruch von Fenris' Haut, warm und männlich.

 

Er hebt sie auf den Küchentisch, räumt die letzten Reste ihres dunklen Mahls beiseite. Der kalte, gereinigte Stein ist ein prickelnder Kontrast zu der Hitze, die sofort zwischen ihnen entbrennt. Hier, im Zentrum ihres neuen, sauberen Zufluchtsortes, dem Ort der Ordnung, stellen sie ihre eigene Ordnung wieder her. Fenris’ Dominanz wird nicht durch Worte, sondern durch die unumstößliche, versöhnende Sprache des Körpers bestätigt. Er ist der Anker, und sie ist der Grund, warum er niemals sinken wird.